Erlebnispädagogik für Kinder mit ADHS. Eine Handreichung zur praktischen Durchführung in der Sozialen Arbeit


Bachelorarbeit, 2013

75 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)
2.1 Diagnostik und Definition ADHS
2.2 Häufigkeit
2.3 Geschlechterunterschiede
2.4 Erklärungsmodelle
2.5 Ressourcen und Stärken der Kinder mit ADHS
2.6 Unterstützungsmöglichkeiten der Kinder mit ADHS
2.7 Resümee

3 Erlebnispädagogik
3.1 Historischer Einblick
3.2 Definitionsversuche
3.3 Merkmale der Erlebnispädagogik
3.4 Arbeitsfelder, Zielgruppen und Ziele der Erlebnispädagogik
3.5 Methodik der Erlebnispädagogik
3.6 Wirksamkeitsstudien
3.7 Resümee

4 Methoden und Merkmale der Erlebnispädagogik in Bezug auf ADHS
4.1 Wurzeln der Erlebnispädagogik als pädagogische Ansätze für die Arbeit mit Kindern mit ADHS
4.2 Heilsame Wirkung der Natur bei ADHS
4.3 Verknüpfung der Erlebnispädagogik mit der ADHS-Störung
4.4 E-Kette, Erlebnispädagogische Waage und Lernzonenmodell in Bezug auf ADHS
4.5 Entwicklung des Gehirns
4.6 Resümee

5 Praktische Durchführung erlebnispädagogischer Aktionen mit Kindern mit ADHS
5.1 Auswahlkriterien
5.2 Zielsetzung
5.3 Methodik
5.4 Reflexion
5.5 Resümee

6 Angepasste erlebnispädagogische Angebote
6.1 Bogenschießen
6.2 Klettern
6.3 Feuer
6.4 Resümee

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In den letzten Jahren hört man immer häufiger von der ADHS-Störung und dass immer mehr Kinder unter dieser leiden sollen. Die Anzahl an Diagnosen ist in den letzten Jahren stark angestiegen (vgl. Barmer GEK 2013, 145) und die Verschreibung von Medikamenten immer öfters zu verzeichnen (ebd., 15f.). Die vermehrte Medikamentengabe stößt die Diskussion an, ob die medikamentöse Behandlung unumgänglich ist oder Kinder mit ADHS-Symptomen durch andere Angebote unterstützt werden können.

Erlebnispädagogik wird in vielen unterschiedlichen Arbeitsfeldern eingesetzt und spricht als handlungs- und erlebnisorientierte Methode eine große Zielgruppenspanne an. Erlebnispädagogische Aktionen können an verschiedene Zielgruppen angepasst werden, um individuelle Zielesetzungen zu erreichen (vgl. Paffrath 2013, 20; Schödlbauer 2000, 72).

Ziel dieser Arbeit ist es, folgender Frage nachzugehen: Wie kann Erlebnispädagogik Kinder mit ADHS bestmöglich unterstützen und fördern?

Um diese Frage beantworten zu können, wird im ersten Teil das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) definiert und die Symptome beschrieben. Anschließend werden Häufigkeit, Entstehungsursachen dieser Störung, Stärken und Bedürfnisse der Kinder mit ADHS betrachtet.

Der zweite Teil befasst sich mit der Erlebnispädagogik. Zuerst werden die Entstehungsgeschichte der Erlebnispädagogik und Definitionsversuche beleuchtet. Danach werden Merkmale, Ziele und Methodik herausgearbeitet und Wirksamkeitsstudien aufgezeigt.

Im dritten Abschnitt wird eine Verknüpfung zwischen dem ADHS-Syndrom und der Erlebnispädagogik hergestellt. Es wird aufgezeigt, an welchen Punkten Erlebnispädagogik ansetzen kann. Gestützt auf Wirksamkeitsstudien erlebnispädagogischer Angebote wird davon ausgegangen, dass Erlebnispädagogik Einfluss nehmen und Kinder mit ADHS unterstützen kann.

Im vierten Teil wird beleuchtet, wie erlebnispädagogische Aktionen bei Kindern mit ADHS angewandt werden können und auf was man allgemein bei der Durchführung achten muss.

Abschließend werden im fünften Kapitel einzelne erlebnispädagogische Elemente aufgeführt und dargestellt, wie sie praktisch an die Bedürfnisse der Kinder mit ADHS angepasst werden können, um sie bestmöglich zu unterstützen und zu fördern.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass bei Formulierungen wie u.a. der Erlebnispädagoge oder der Betroffene immer auch die weibliche Form gemeint ist und diese dadurch nicht vernachlässigt wird, sondern dass dies lediglich dem Zweck der einfacheren Lesbarkeit dient.

2 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)

Im folgenden Kapitel werden zuerst die Klassifizierungskriterien von ADHS ausführlich beleuchtet, um ein Verständnis über die Verhaltensmerkmale von Kindern mit ADHS aufzubauen. Dies ist vor allem für das 4. Kapitel „ Methoden der Erlebnispädagogik in Bezug auf ADHS“ und das 5. Kapitel „Praktische Durchführung erlebnispädagogischer Aktionen mit Kindern mit ADHS“ von Bedeutung.

Anschließend werden die Häufigkeit, die Geschlechtsunterschiede und die unterschiedlichen Erklärungsmodelle zur ADHS-Störung dargestellt.

Abschließend stehen die Stärken der Kinder mit ADHS und unterschiedliche Unterstützungsformen im Fokus. Diese spielen in der pädagogischen Arbeit mit betroffenen Kindern eine wichtige Rolle und werden bei den angepassten erlebnispädagogischen Angeboten (Kapitel 5 und 6) berücksichtig und miteinbezogen.

2.1 Diagnostik und Definition ADHS

In den letzten Jahren ist ein starker Anstieg der Anzahl der Diagnosen der hyperkinetischen Störungen zu vermerken (vgl. Barmer GEK 2013, 145). Experten haben festgestellt, dass dieser Anstieg damit zusammen hängt, dass immer öfter Fehldiagnosen von Ärzten gestellt werden (vgl. Wylkop 2012). Diese Annahme kann die Frage aufwerfen: Gibt es festgelegte Kriterien, nach denen die Ärzte Diagnosen erstellen, oder zählt ihre Intuition?

In Deutschland werden die Diagnosen im klinischen Fachbereich nach dem Diagnosenormal ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation WHO gestellt (vgl. Hüther & Bonney 2013, 107). Die „Internationale Klassifikation der Krankheiten“, ICD-10, beschreibt die verschiedenen Kategorien der psychischen Krankheiten und dient als Leitlinie für die psychiatrische Diagnostik (vgl. Dilling et al. 2006, 15ff.).

Die psychischen Störungen sind im Kapitel V (F) des ICD-10 in zehn Kategorien (F0-F9) eingeordnet (ebd., 29ff.). Die Aufmerksamkeitsdefizit­ Hyperaktivitätsstörung zählt nach dem ICD-10 zu der Kategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F9) und wird dort als „hyperkinetische Störung“ (F90) aufgeführt (Dilling et al. 2006, 187).

Um eine ADHS-Störung diagnostizieren zu können, muss nach dem Gesichtspunkt der Kinderpsychiatrie eine ganzheitliche Diagnostik erstellt werden. Dabei werden fünf Bereiche beleuchtet:

1. „Psychiatrische Symptomatik
2. Körperliche Gesundheit (auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten etc.)
3. intellektuelle Entwicklung
4. Teilleistungsschwächen (auch Sinnesverarbeitungsstörungen)
5. familiäre Bedingungen und weitere (Hüther & Bonney 2013, 107).

Die Klassifizierungskriterien der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung sind von der WHO definiert und im ICD-10 wie folgt aufgeführt (nach Dilling et al. 2006, 187ff.): „G1. Unaufmerksamkeit: Mindestens sechs der folgenden Symptome in einem mit dem

Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Klassifizierung ICD-10 unterscheidet noch zwischen der „einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ (F90.0) und der „hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens“ (F90.1) (Dilling et al. 2006, 187).

Es können drei Kernsymptome, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, identifiziert werden. Die Unaufmerksamkeit kommt isoliert vor, wobei Hyperaktivität und Impulsivität meist in Verbindung auftreten (vgl. Gawrilow 2012, 21).

In der Regel liegen bei zwei Drittel aller Kinder mit ADHS komorbide Störungen vor, was bedeutet, dass neben den Kernsymptomen noch weitere Störungen vorliegen. Diese komorbiden Störungen können entweder externalisierend (Bsp. oppositionelle Störung des Sozialverhaltens) oder internalisierend (Bsp. affektive Störungen) sein (vgl. Gawrilow 2012, 31f.; Döpfner et al. 2000, 7). Des Weiteren kann bei Kindern mit ADHS oft eine Lern- und Leistungsstörung festgestellt werden (vgl. Gawrilow 2012, 32ff.).

Es ist in besonderer Weise darauf hinzuweisen, dass 9 bis 40 % der Kinder mit ADHS an einer depressiven Störung leiden. Die ständigen Konflikte mit dem sozialen Umfeld und die schulischen Misserfolge hindern die Kinder daran, ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen, was die Entwicklung einer depressiven Störung fördert (vgl. Döpfner et al. 2000, 8; Gawrilow 2012, 34).

2.2 Häufigkeit

Der letzte Arztreport der Barmer GEK (2013, 145) belegt einen starken Anstieg der Diagnosen der ADHS-Störung. Die Diagnoserate ist von 2006 bis 2011 um 49% gestiegen. Im Jahr 2011 wurden in Deutschland 757.000 Diagnosen einer „Hyperkinetischen Störung“ (F90 ICD-10) gestellt, von denen 626.000 Personen jünger als 19 Jahre alt waren (vgl. Barmer GEK 2013, 138f.). Die häufigsten Diagnosen wurden bei zehnjährigen Jungen gestellt, fast jeder 8. Junge des Jahrgangs 2001 bekam die Diagnose ADHS (ebd., 141).

Es wird geschätzt, dass 3 bis 5 % der schulpflichtigen Kinder von der ADHS- Störung betroffen sind. Momentan wird damit gerechnet, dass in Deutschland etwa 170.000 bis 350.000 Kinder eine Behandlung benötigen (vgl. Hüther & Bonney 2013, 12).

Diese Schätzungen stimmen mit den Ergebnissen der KiGGS-Studie von Schlack et al. (2007, 827) überein, welche die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland untersucht. Nach dieser Studie weisen 4,8 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland eine vom Psychologen diagnostizierte ADHS- Störung auf (ebd., 829).

Es gibt neben diesen noch weitere Studien, wie die GEPOLO-ADHS-Studie (Leibniz-Institut 2012) und die ADHS-Studie von Faraone et al. (2003), welche die Häufigkeit von ADHS-Störungen bei Kindern untersuchen. Die Unterschiede bei den Häufigkeitsangaben können mit den Diagnosekriterien der verschiedenen Erhebungsmethoden zusammen hängen. So hat das ICD-10 strengere Kriterien als das DSM-IV. Dies führt dazu, dass mehr ADHS-Störungen diagnostiziert werden, wenn die DSM-IV Kriterien angewandt werden (vgl. Gawrilow 2012, 49; Döpfner et al. 2000, 4f.).

Experten und die allgemeine Öffentlichkeit vermuteten schon oft, dass eine Überdiagnostizierung von ADHS stattfindet und den genannten Diagnoseanstieg erklärt (vgl. Bruchmüller & Schneider 2012, 84). Diese Vermutung konnte die repräsentative Studie der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Basel bestätigen. Diese belegt, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung von Psychotherapeuten und Psychiatern für Kinder und Jugendliche häufig fehldiagnostiziert wird. Dies hat als Grund, dass die Therapeuten sich nicht an die festgelegten Diagnosekriterien halten und sich stattdessen an „Faustregeln“ orientieren (ebd.).

2.3 Geschlechterunterschiede

Bei der ADHS-Störung lässt sich ein deutlicher Geschlechterunterschied feststellen. Studien haben erhoben, dass Jungen häufiger als Mädchen von dieser Störung betroffen sind (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2007, 123). Aus dem Arztreport 2013 geht hervor, dass zwei Drittel der im Jahr 2011 Betroffenen, männlich waren (vgl. Barmer GEK 2013, 138).

Dieser Geschlechterunterschied gründet darauf, dass bei Jungen die ADHS- Störung eher diagnostiziert wird, als bei Mädchen (vgl. Gawrilow 2012, 52). Zum einen deswegen, weil bei Mädchen mit ADHS meist das Kernsymptom Unaufmerksamkeit, bei Jungen eher die Hyperaktivität im Fokus steht. Diese Mädchen sind meist ruhig, verträumt, unaufmerksam und zurückgezogen, und werden von der Gesellschaft als wenig störend empfunden. Das Benehmen der Jungen mit ADHS wird hingegen meist als problematisch wahrgenommen und dadurch auch eher erkannt und behandelt (ebd., 52f.).

Zum anderen spielen „Prototypen“ bei der Diagnose eine wesentliche Rolle, wie in der Studie, von Bruchmüller und Schneider (2012), festgestellt wurde. „Viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater gehen dabei offensichtlich eher heuristisch vor und entscheiden nach prototypischen Symptomen. Der Prototyp ist männlich und zeigt Symptome von motorischer Unruhe, mangelnder Konzentration oder Impulsivität. Die Nennung dieser Symptome löst bei den Diagnostikern in Abhängigkeit vom Geschlecht unterschiedliche Diagnosen aus. Treten diese Symptome bei einem Jungen auf bekommt er die Diagnose ADHS, die identischen Symptome bei einem Mädchen führen jedoch zu keiner ADHS- Diagnose“ (Wylkop 2012). Zudem konnten Bruchmüller und Schneider (2012, 83) in dieser Studie belegen, dass männliche Therapeuten deutlich häufiger ADHS diagnostizieren, als weibliche Kolleginnen. Die Gründe für diese Korrelation wurden nicht aufgeführt.

2.4 Erklärungsmodelle

Es gibt mehrere Erklärungsansätze zu den Ursachen von ADHS. Diese sind von Medizinern, Sozialpädagogen und anderen Experten aufgestellt und vertreten somit unterschiedliche wissenschaftliche Fachbereiche. Einige vermuten die „Interaktion biologischer und psychosozialer Faktoren“ (Gawrilow 2012, 61; Döpfner et al. 2000, 9) oder das Zusammenspiel bio-psycho-sozialer Faktoren (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2007, 126) als Ursache dieser Störung. Andere wiederum gehen davon aus, dass die Begründung in medizinischen Ansätzen, wie der Neurochemie (Roessner & Rothenberger 2010, 76), Neurophysiologie (Brandeis & Banaschewski 2010, 57) oder Neuropsychologie (Drechsler 2010, 92) liegt.

2.4.1 Medizinischer Ansatz

Der medizinische Ansatz der Neurochemie wird in diesem Abschnitt genauer betrachtet, da dieser als Grundlage für die medikamentöse Behandlung der ADHS-Störung dient (vgl. Roessner & Rothenberger 2010, 76ff.). Die hohe Verschreibungsrate (vgl. Barmer GEK 2013, 148ff.) lässt darauf schließen, dass dieser Ansatz weit verbreitet und anerkannt ist.

Der Erklärungsansatz geht davon aus, dass die Ursache von ADHS eine angeborene Freisetzungsstörung des Botenstoffes Dopamin im Gehirn ist (vgl. Hüther & Bonney 2013, 86). Diese Annahme ist noch nicht durch eine medizinische Untersuchung belegt, da eine umfangreiche und direkte Untersuchung der neurochemischen Prozesse im Gehirn des Menschen bis zu diesem Zeitpunkt nicht möglich ist (vgl. Roessner & Rothenberger 2010, 76).

Dieser Erklärungsversuch stützt sich auf „indirekte Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Studien zu Genetik (...), medikamentöse Behandlung (...) und Neuroanatomie (...)“ (Roessner & Rothenberger 2010, 76).

Die Vorstellung des Dopaminmangels ist beispielweise darauf begründet, dass bei der Gabe von Amphetaminen die Dopaminfreisetzung im Gehirn stimuliert wird und somit die Symptome bei Kindern mit ADHS verringert werden (vgl. Hüther & Bonney 2013, 56). Daraufhin wurde von den Medizinern geschlussfolgert, dass wenn es „durch die pharmakologische Stimulation der Dopaminfreisetzung zu einer Normalisierung des Verhaltens dieser Kinder komme, (...) müsse die Ursache dieser Störungen eine unzureichende Aktivität des dopaminergen Systems im kindlichen Gehirn sein“ (ebd.). Ob nun ein Dopaminmangel oder - überschuss vorliegt konnte bis jetzt noch nicht eindeutig von Studien belegt werden, da für beide Möglichkeiten Hinweise gefunden wurden (vgl. Roessner & Rothenberger 2010, 76).

Einen zweiten Erklärungsansatz der Medizin beleuchtet die Neurophysiologie. Mehrere neurophysiologische Studien konnten mit bildgebenden Verfahren (EEG) belegen, dass die Gehirnstruktur und -funktion der Kinder mit ADHS, gegenüber gleichaltrigen Kontrollgruppen, Abweichungen aufweisen (vgl. Brandeis & Banaschewski 2010, 57).

Es wird von den Medizinern eine Vielzahl an Veränderungen im Gehirn ADHS- Betroffener beschrieben. Jedoch ist bis heute nicht festgestellt worden, welche Veränderung der Gehirnstruktur zu Beginn der Störung vorhanden war und welche erst in Folge der primären Störung, als sekundäre Veränderungen aufgetreten sind (vgl. Hüther & Bonney 2013, 58f.). Das menschliche Gehirn weist eine sehr hohe „Plastizität auf Struktur und Funktionsweise werden durch adaptive Modifikationen an die Nutzung des Gehirns angepasst. Dies wirft die Frage auf, „auf welcher Ebene man eigentlich keine ,Anomalien‘ im Gehirn von ADHS-Patienten finden sollte, nachdem diese ihr Gehirn oftmals, bereits jahrelang offensichtlich ganz anders als ,normale‘ Kinder und Jugendliche benutzt haben“ (ebd., 63).

Da das EEG bei der Datenerhebung Schwächen aufzeigt, ist die Nutzung dieser Befunde für die Diagnose einer ADHS-Störung umstritten. Die Ergebnisse können aber als Ergänzungen mit aufgenommen werden (vgl. Brandeis & Banaschewski 2010, 67).

2.4.2 Integratives bio-psycho-soziales Modell

Als weiterer Erklärungsansatz für die Entstehung von ADHS kann das bio- psycho-soziale Modell von Fröhlich-Gildhoff und Hufnagel (2002) herangezogen werden. Dabei stützen sich die Autoren auf das aus den Erhebungen der klinischen Entwicklungspsychologie resultierende integrative bio-psycho-soziale Modell, integrieren die „entwicklungsorientierte Störungskonzeption“ und entwickeln dieses Konstrukt weiter (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2007, 39).

Auch andere Autoren wie Döpfner, Rothenberger und Steinhausen (2010, 145) vertreten die integrativen Modelle und kombinieren mehrere Erklärungshypothesen. In dieser Ausarbeitung werden das allgemeine Modell nach Fröhlich-Gildhoff und Hufnagel (2002), und das von Fröhlich-Gildhoff (2007) weiterentwickelte Modell zur Erklärung von ADHS verwendet, da diese Autoren unterschiedliche Aspekte in das Modell einfließen lassen, die einzelnen Faktoren prägnant darstellen und sich auf aktuelle Studien stützen.

„Dieses Modell geht zunächst allgemein davon aus, dass im Zusammenspiel zwischen biologischen Ausgangsbedingungen (...) und (früh-)kindlichen (Beziehungs-)Erfahrungen (...) sich die individuelle Selbststruktur (...) - im Sinne eines Netzwerks handlungsleitender innerpsychischer Schemata - herausbildet. Dieser Entwicklungsprozess ist wiederum abhängig von Risiko- und Schutzfaktoren (...), bei denen die sozialen Bedingungen und hier insbesondere [sic!] die primären Bezugspersonen eine spezielle Bedeutung haben“ (Fröhlich- Gildhoff 2007, 39). „Im Laufe der individuellen Entwicklung muss das Kind bzw. der Jugendliche altersabhängig spezifische Entwicklungsaufgaben (...) bewältigen. Neben der Bewältigung dieser alterstypischen Entwicklungsaufgaben müssen immer wieder besondere Stress- oder Belastungssituationen individuell verarbeitet werden. Dieser Bewältigungsprozess ist abhängig von der bisher selbstentwickelten Selbststruktur und wiederum von aktuell vorhandenen Risiko- und Schutzfaktoren“ (ebd.).

Fröhlich-Gildhoff und Hufnagel (2002, zit. nach Fröhlich-Gildhoff 2007, 39) unterscheiden, „bei der Art der Bewältigung von Belastungsfaktoren oder Entwicklungsaufgaben“ zwischen „drei Modalitäten“:

- eine „angemessene entwicklungs- und selbstwertförderliche Bewältigung“
- ein „internalisierender Modus“, bei welchem sich die Betroffenen zurückziehen und selbst einschränken
- ein „externalisierender Modus“, in dem die betroffenen Menschen nach außen agieren und dies beispielsweise in Form von hoher Aggressivität äußern.

„Der jeweilige Bewältigungsmodus hat wiederum Rückwirkung auf die intrapsychische Struktur; es kann zur Verfestigung oder zu Veränderungen kommen“ (ebd.).

Fröhlich-Gildhoff (2007, 126) hat das allgemeine bio-psycho-soziale Modell, als Erklärungsansatz zur Entstehung von ADHS folgendermaßen dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: „Allgemeines bio-psycho-soziales Modell zur Erklärung der ADHS“ (modifiziert nach Fröhlich-Gildhoff 2007, 126)

Biologische Einflüsse

Neurologische Korrelate

In der medizinischen Fachwelt wird die Meinung vertreten, dass Verhaltensauffälligkeiten bzw. die ADHS-Störung durch neurobiologische und neurophysiologische Veränderungen der Gehirnstrukturen oder Stoffwechselstörungen von Botenstoffen verursacht werden (vgl. Fröhlich- Gildhoff 2007, 42). „Aber auch hier ist ein Prozess wechselseitiger Beeinflussung festzustellen und die stofflichen, organischen Veränderungen stellen vielfach nur Korrelate von Verhaltensstrukturen dar, die sich wiederum aus (Lern-) Erfahrungen gebildet haben“ (ebd.).

„Viele Hormone, Neurotransmitter und Neuromodulatoren tragen zur Bildung affektiver Zustände und ihrem Verhaltensdruck bei, indem sie vor allem bestimmte limbische Hirnstrukturen beeinflussen. Umgekehrt wirkt sich Verhalten auf das aktuelle Niveau, die folgende Ausschüttung von und die Empfindlichkeit für solche(n) chemische(n) Stoffe(n) aus (...). Auf jeder Stufe der ontogenetischen Entwicklung können sich Umwelteinflüsse auf die Reifung und die Aktivität eines bestimmten Systems oder Mechanismus auswirken, die mit dem Ausdruck sozial affektiven Verhaltens Zusammenhängen“ (Petermann et al. zit. nach Fröhlich-Gildhoff 2007, 42).

Zudem können „prä-, peri- oder postnatale Verletzungen“ die neuronalen Strukturen verändern und bedeutend für die Entstehung psychischer Störungen sein, da sie auf die „Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Möglichkeiten der Emotionsregulation“ einwirken können (Fröhlich-Gildhoff 2007, 42). In Untersuchungen konnte bei Kindern mit ADHS ein Defizit der Verhaltenshemmung und der Emotionsregulation festgestellt werden. Jedoch ist noch nicht geklärt, ob es sich bei diesen Defiziten um primäre oder sekundäre Veränderungen handelt (ebd., 129).

Genetische Disposition

Dieses Modell greift ebenfalls die genetische Disposition auf. Mittels „Zwillings-, Adoptions- und Familienstudien“ konnte festgestellt werden, dass bei eineiigen Zwillingen eine deutlich höhere Übereinstimmung von ADHS-Symptomen festzustellen ist als bei zweieiigen Zwillingen (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2007, 126f.). Zudem konnte bei Untersuchungen festgestellt werden, dass Eltern der von ADHS betroffenen Kinder in ihrer Kindheit ebenfalls Symptome der ADHS- Störung aufgewiesen haben. Dies trifft bei 31 % der Väter und bei 25 % der Mütter zu (ebd.).

Es liegt jedoch noch kein wissenschaftlicher Nachweis für den Zusammenhang zwischen der ADHS-Störung und der genetischen Disposition vor (ebd.).

Temperament

Fröhlich-Gildhoff (2007, 42f.) weist darauf hin, dass bei der Entstehung einer Störung auch das Temperament eine wichtige Rolle spielt. Er bezieht sich dabei auf Resch (2004), welcher die Temperamentsfaktoren als „konstitutionelle Unterschiede in Aktivität, Reaktivität und Selbstregulation des Menschen“ definiert. Fröhlich-Gildhoff ergänzt, dass Temperamentfaktoren zwar „stark anlagebedingt, aber durch Umweltfaktoren maßgeblich beeinflussbar sind“ (ebd.).

Es lassen sich nach Thomas und Chess drei Temperamenttypen unterscheiden:

- „Das einfache Kind (40 %) zeichnet sich durch Regelmäßigkeit der biologischen Funktionen, keine Scheu vor unbekannten Personen und gute Anpassungsfähigkeit an neue Situationen aus.
- Das schwierige Kind (10 %) war demgegenüber gekennzeichnet durch eine Unregelmäßigkeit in biologischen Funktionen, Rückzugsverhalten gegenüber neuen Reizen und eine mangelnde Fähigkeit zu Anpassungen an neue Situationen.
- Von diesen Konstellationen wurde das langsam auftauende Kind (15 %) abgegrenzt, das sich durch leichte negative Reaktionen auf neue Reize, langsame Anpassungsfähigkeit an neue Situationen nach wiederholtem Kontakt, regelmäßige biologische Funktionen und eine geringe Intensität der Reaktionen auszeichnet“ (Thomas & Chess 1980, 1989, zit. nach Fröhlich- Gildhoff 2007, 43).

Aus rein biologischer Betrachtungsweise erklärt Fröhlich-Gildhoff (2007, 128f.) zwei mögliche Teufelskreise.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 : „Teufelskreis 1zur Verstärkung biologischer Wirkmechanismen und Korrelate“ (Fröhlich-Gildhoff 2007, 128)

Es kann sein, dass das „sensiblere“ Kind mit einer geringeren Reizschranke oder einer erhöhten Unruhe zur Welt kommt (ebd.). Dies hat die vermehrte Aktivierung des dopaminergen Systems zur Folge, was wiederum das „Anwachsen der entsprechenden Zellverbünde“ auslöst und sich dadurch das „antriebsaktivierende System“ besser entwickelt. Das hat zur Folge, dass sich Kinder immer leichter durch neue Reize stimulieren lassen. Es kommt zu einer inneren Unruhe. Das Kind ist unaufhörlich auf der Suche nach neuer Stimulation, dies wiederum aktiviert und verstärkt das dopaminerge System (ebd.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: „Teufelskreis 2 zur Verstärkung Wirkmechanismen in sozialen Situationen“ (Fröhlich-Gildhoff 2007, 129)

„Auf diesem Hintergrund kommt es dann im sozialen Zusammenspiel zu einer weiteren Verstärkung, zu einem weiteren Teufelskreis. Durch die innere Unruhe kommt es zu Konflikten mit der Umwelt, damit zum Stress in psychosozialen Situationen, der wiederum verstärkend auf das dopaminerge System und letztlich zur Verstärkung der hyperaktiven neuronalen Struktur führt“ (Fröhlich-Gildhoff 2007, 128f.).

Soziale Einflüsse

Die sozialen Einflüsse spielen bei der Entwicklung einer ADHS-Störung ebenfalls eine Rolle und beinhalten eine Vielzahl an Faktoren, die Fröhlich-Gildhoff in seinem Buch, Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen (2007), ausführlich beschreibt. Zu diesen gehören beispielsweise die Emotionsregulation, die sichere Bindung und die Selbstwirksamkeitserfahrung der Kinder (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2007, 44ff.).

Die Regulationserfahrungen der Kinder spielen bei der Entwicklung einer ADHS- Störung eine besonders wichtige Rolle: „Die inneren Zustände, insbesondere Arousal (allgemeine Erregung), Aktivität, Affekt und Aufmerksamkeit werden über die Interaktion reguliert und es kommt zu einer zunehmenden Selbstregulation“ (Fröhlich-Gildhoff 2007, 130). Besitzt die Bezugsperson selber durch eine psychische Erkrankung, Stress oder Substanzabhängigkeit eine geringe Regulationskompetenz, kann sie das Kind bei der Entwicklung der Selbstregulation nicht ausreichend unterstützen. Die Kinder benötigen „Regelmäßigkeit, Bindungssicherheit und Klarheit, also auch Grenzen und Orientierung“, um eine Selbstregulationskompetenz zu entwickeln (ebd.).

„Insbesondere Kinder mit hoher Vulnerabilität oder einem ,schwierigen Temperament‘ benötigen besondere Formen der unterstützenden Passung durch die Bezugspersonen. Ist diese nicht möglich, kommt es zu einer Symptomverstärkung. Viele Untersuchungen zeigen, dass ungeordnete, unstrukturierte, verwahrlosende und chaotische Familienverhältnisse in einem engen Wechselverhältnis zwischen der Vulnerabilität eines Kindes für ADHS und dem Schweregrad der Symptomatik stehen“ (Fröhlich-Gildhoff 2007, 130).

Psychologische Einflüsse

Aus dem Zusammenspiel der biologischen Anlagen und den Beziehungserfahrungen aus der frühen Kindheit ergibt sich die Selbststruktur der Menschen, die „als handlungsleitende innerseelische Instanz die Art der Weltbegegnung steuert“ (Fröhlich-Gildhoff 2007, 52).

Die Kinder mit ADHS sind leichter ablenkbar und haben eine geringere Selbstregulierung, dadurch kommt es zu „Konflikten mit dem sozialen Umfeld, damit zu erhöhtem Stress und möglicherweise auch Angst und Depressionen“, was wiederum zu einem verringerten Selbstwertgefühl führt (ebd., 131).

2.5 Ressourcen und Stärken der Kinder mit ADHS

Im Sinne der Ressourcen-Orientierung werden auch die Stärken und Fähigkeiten der Kinder mit ADHS in Betracht genommen. In der pädagogischen Arbeit werden Ressourcen als Potenziale zur Bewältigung und Bearbeitung von Entwicklungs- und Alltagsaufgaben angesehen und als Anknüpfungspunkte verstanden (vgl. Fachlexikon der sozialen Arbeit 2011).

Gawrilow (2012, 22) hat sich ressourcenorientiert mit der ADHS-Störung befasst und durch eine nicht publizierte Befragung von Eltern und Lehrern die Stärken dieser Kinder ermittelt:

- „Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn,
- Kreativität,
- Harmoniebedürfnis,
- Nicht-nachtragend-Sein“.

Auch Lauth und Naumann (2009, zit. nach Gawrilow 2012, 22) haben sich mit den Stärken der Kinder mit ADHS beschäftigt und folgende aufgeführt:

- „Spontaneität,
- Sinn für Situationskomik,
- Ideenreichtum und Kreativität,
- körperliche Fitness und Spaß an Bewegung,
- Gespür für soziale Fairness,
Kratzbürstiger Charme“.

[...]

Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Erlebnispädagogik für Kinder mit ADHS. Eine Handreichung zur praktischen Durchführung in der Sozialen Arbeit
Hochschule
Evangelische Fachhochschule Freiburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
75
Katalognummer
V334697
ISBN (eBook)
9783668253940
ISBN (Buch)
9783668253957
Dateigröße
3509 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erlebnispädagogik, kinder, adhs, eine, handreichung, durchführung, sozialen, arbeit
Arbeit zitieren
Jeanne Scholtes (Autor:in), 2013, Erlebnispädagogik für Kinder mit ADHS. Eine Handreichung zur praktischen Durchführung in der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334697

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