Heimliches Lesen und Bücherschmuggel in der DDR


Bachelorarbeit, 2015

118 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Heranführung an das Thema
1.2 Aufbau und Struktur

2 Bestimmung des Ausgangsmaterials
2.1 Festlegung des Materials
2.1.1 Entstehungssituationen der Interviews
2.1.2 Formale Charakteristik des Ausgangsmaterials
2.1.3 Die Zeitzeugen
2.2 Methodisches Vorgehen

3 Heimliches Lesen in der DDR
3.1 Die Literaturpolitik in der DDR 15
3.2 Funktionen von Literatur aus Sicht der DDR

4 Heimliche Leser und ihre Erfahrungen mit unerwünschter Literatur
4.1 Baldur Haase
4.2 Vera Lengsfeld
4.3 Siegmar Faust
4.4 Thomas Dahnert
4.5 Siegbert Schefke
4.6 Holger Irmer
4.7 Matthias Chlebowski

5 Auswertung der Zeitzeugeninterviews

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

Anhang 1: Fragenkatalog

Anhang 2: Übersicht der Zeitzeugen

Anhang 3: Transkriptionen der Zeitzeugeninterviews

Anhang 4: Tondateien der Zeitzeugeninterviews

1 Einleitung

„In einer Umgebung, in der es keine auch nur annähernd freien Medien gab, in der alle Zeitungen, Rundfunksender und Fernsehstationen denselben Chefredakteur hatten, in der jede von der Parteilinie abweichende Ansicht kleinlich behindert wurde, in einer solchen Umgebung blieben Bücher der letzte öffentliche Ort, an dem noch Meinungsverschiedenheit ausgetragen wurden. Das machte die Leute begierig auf Bücher, genauer - auf die Bücher der Abweichler. Hinter dem Interesse verbarg sich also keine Affinität zur Literatur, keine Sprachverliebtheit, nicht die Lust, ein ästhetisches Bedürfnis zu stillen; es war das Interesse an den eigenen öffentlichen Angelegenheiten, das auf andere Weise nicht befriedigt werden konnte.“ [1]

1.1 Heranführung an das Thema

Die oben angeführte Aussage Jurek Beckers[2] macht nur allzu deutlich, wie begrenzt die Möglichkeiten der DDR-Bürger waren, an so manches Gedankengut heranzukommen, und dass das Interesse daran genau aus diesem Grund umso größer war. Der Mangel an Öffentlichkeit führte dazu, dass die Menschen Bücher lasen.[3] Da sie in so vielen Bereichen des Lebens Einschränkungen erfahren mussten, wollten sie sich wenigstens im Bereich der Literatur ein Stück weit gegen die Staats- und Parteilinie auflehnen und einen Blick über den Tellerrand werfen.

In der heutigen Zeit und für unsere Generation ist es kaum mehr vorstellbar, dass es eine Zeit gab, in der den Menschen bestimmte Literatur, Zeitungen, Zeitschriften und andere Druckerzeugnisse vorenthalten wurden. Besonders die heutige Gesellschaft, die mit dem Internet und anderen Massenmedien aufwächst, kommt in den Genuss, jedes mediale Angebot überwiegend online nutzen zu können. Das bedeutet, dass wir jederzeit alle Informationen abrufen können, die wir benötigen. Schauen wir jedoch 30 Jahre zurück, müssen wir feststellen, dass dies nicht immer selbstverständlich war. Eltern und Großeltern, die in der ehemaligen DDR gelebt haben, könnten uns diverse Geschichten darüber erzählen, welche Einschränkungen es damals gab, unter anderem im kulturellen Bereich. Es gab Unmengen an Literatur, die in der DDR entweder „nicht leicht zu haben, kulturpolitisch ausgegrenzt oder verboten war“.[4] Doch nicht alle Bürger der DDR wollten sich vorschreiben lassen, was sie lesen durften und was nicht. Die Leser, die Verbotenes lesen wollten, waren durchaus einfallsreich in ihren Ideen, wie sie beispielsweise an Bücher aus dem westlichen Ausland herankamen. Nicht selten war dies mit enormen Risiken verbunden.

Innerhalb der Familie erzählte man mir einmal, wie Verwandte aus Westdeutschland die Bücher „1984“ von George Orwell und „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, das vom Stern veröffentlicht wurde, in die DDR geschmuggelt hatten. Damals sagten sie zu meiner Familie, sie solle die Bücher an so viele Menschen wie möglich weitergeben. Die Verwandten wurden glücklicherweise nicht erwischt. Diese Aussage hätte viel weitreichendere Folgen haben können. Doch nicht jeder hatte so viel Glück.

Prof. Dr. Rainer Eckert, bis vor Kurzem Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, vertritt folgende Ansicht: „Meine These ist die, dass es in der DDR möglich war, wenn auch in sehr langen Zeiträumen, unter schwierigen Bedingungen, letztlich jedes Buch auch zu bekommen.“[5] Diese Aussage wirft die Frage auf, ob es tatsächlich jedem Leser möglich war, die Literatur zu erstehen, die ihm wichtig war. Dies erfordert ein gewisses Hintergrundwissen zum heimlichen Leser. Wie kennzeichnete er sich, wie verhielt er sich? Außerdem ist von großem Interesse, welche Möglichkeiten er hatte, die begehrte verbotene Literatur zu erlangen, mit welchem Ziel er dies tat und welche Folgen das für ihn persönlich und auch für sein Umfeld hatte. Diese Fragen finden in der folgenden Abschlussarbeit mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews Beantwortung.

1.2 Aufbau und Struktur

Das Thema „Heimliches Lesen und Bücherschmuggel in der DDR“ lässt großen Spielraum in der Bearbeitung. Da die Aufgabe beinhaltete, sich hauptsächlich mittels Zeitzeugeninterviews damit auseinander zu setzen, habe ich die Thematik konkretisiert und als Untertitel „Möglichkeiten zur Umgehung der Einschränkungen und ihre Folgen“ gewählt. Die Untersuchung stellt diesen Aspekt in den Mittelpunkt.

Im zweiten Teil meiner Arbeit folgt die Bestimmung des Ausgangsmaterials. Hier werden die angewandten Methoden näher erläutert. Darüber hinaus wird das Untersuchungsmaterial festgelegt. Die Personen, mit denen die Interviews geführt worden sind, werden vorgestellt; die Entstehungssituationen der einzelnen Interviews werden analysiert und die formalen Charakteristika des Materials bestimmt.

Im dritten Kapitel werde ich das Hintergrundwissen zum heimlichen Lesen in der DDR noch einmal benennen und kurz ausführen. Dies beinhaltet die Literaturpolitik der DDR samt einer zeitlichen Einordnung sowie Funktionen von Literatur aus Sicht des DDR-Regimes.

Im vierten Kapitel konzentriere ich mich ausschließlich auf den heimlichen Leser selbst. Hier steht im Mittelpunkt, welche Bedeutung Literatur für ihn hatte, welche Funktionen er der Literatur zuschrieb, welche Möglichkeiten er hatte, unerwünschte Literatur zu konsumieren, welche Ziele er damit verfolgte und welche Folgen sein Verhältnis zur verbotenen Literatur für ihn hatte. Dabei werden die Erfahrungen der Interviewpartner miteinander verglichen und ausgewertet.

Im Anschluss folgt eine Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse.

2 Bestimmung des Ausgangsmaterials

Die vorliegende Abschlussarbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, das Verhalten des heimlichen Lesers zu ergründen und zu verstehen. Dazu diente zum einen Sekundärliteratur, die das erlangte Grundlagenwissen untermauert und anhand von Quellen entsprechend fundiert. Zum anderen bestand die Hauptquelle aus der Kommunikation mit sieben Zeitzeugen, die aufgezeichnet und in Form von Transkriptionen zur wissenschaftlichen Analyse herangezogen wurde. Nachstehend werden sowohl die Festlegung des Ausgangsmaterials als auch das methodische Vorgehen definiert und näher erläutert.

2.1 Festlegung des Materials

Um eine Analyse von Zeitzeugengesprächen durchführen zu können, stellte sich anfangs die Frage, wie Zeitzeugen gewonnen werden können. Der ursprüngliche Gedanke, eine Anzeige in der Leipziger Volkszeitung zu schalten, barg einige Gefahren. Es war beispielsweise nie die Sicherheit gegeben, dass sich jemand daraufhin melden würde. Außerdem war auch nicht vorher absehbar, wie viele Zeitzeugen sich zu einem Interview bereit erklären würden. Die Bereitschaft, diese Risiken einzugehen, war schon bald nicht mehr notwendig. Bei intensiven Recherchen im Internet fand die Webseite der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus“ in Berlin größere Beachtung. Nach der Kontaktaufnahme mit dem Leiter der Bibliothek, Thomas Dahnert, per E-Mail, vermittelte mir dieser umgehend zwei Zeitzeugen, Frau Lengsfeld und Herrn Faust, und stellte sich auch selbst zur Verfügung. Daraufhin entstand außerdem der Kontakt mit einem weiteren Zeitzeugenforum, das meine Anfrage an Herrn Haase weiterleitete. Außerdem wurden Personen angeschrieben, die sich schon einmal in Beiträgen zum Thema geäußert hatten, sowie der Direktor der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, Herrn Fernau, und verschiedene Antiquariate. So entstand auch der Kontakt zu Herrn Schefke. Bei der Suche war entscheidend, inwieweit die kontaktierten Personen selbst Erfahrungen mit dem „Heimlichen Lesen“ oder gar mit dem Bücherschmuggel gemacht hatten.

Eine weitere Anlaufstelle war das Gymnasium, das ich bis 2005 selbst besucht hatte, in der Annahme, dass Lehrkräfte durch ihre Tätigkeit möglicherweise ebenfalls einen Bezug zu verbotener Literatur hatten. Unter Missachtung der Tatsache, dass zu dieser Zeit Schulferien waren, schrieb ich Mitte Juli eine E-Mail an den Oberstufenkoordinator des Heinrich-Heine-Gymnasiums, Herrn Chlebowski, in Wolfen. Er meldete sich Ende August zurück. Ihm wurde auf Wunsch ein vorläufiger Fragenkatalog zugeschickt, mit dessen Hilfe er den Lehrkörper um Unterstützung bat. Schließlich waren er selbst und ein weiterer Kollege, Herr Irmer, zu einem Gespräch bereit.

Meine Untersuchung bezieht sich schlussendlich auf die Gespräche mit sieben Zeitzeugen, die ausnahmslos sehr gern zu einem Interview bereit waren. Ursprünglich haben sogar acht Gespräche stattgefunden. Da die Aufzeichnung des Interviews mit Prof. Dr. Eckert aufgrund eines technischen Defekts verloren gegangen ist, konnte dieses Gespräch nicht repräsentativ in die Untersuchung einbezogen werden.

2.1.1 Entstehungssituationen der Interviews

Vorliegendes Untersuchungsmaterial ist ausschließlich im Rahmen dieser Bachelorarbeit entstanden, das heißt alle Interviews wurden während deren Vorbereitung geführt, älteres Material lag nicht vor. Lediglich themenrelevante Bestandsliteratur kam zum Einsatz.

Alle Interviewpartner wurden mittels Eigeninitiative kontaktiert. Bei der Suche nach Zeitzeugen spielte zunehmend die Nähe zum Thema in dem Sinne eine Rolle, dass vorrangig Personen angeschrieben wurden, die laut Recherche persönliche Erfahrungen mit verbotener Literatur gemacht haben. Nur die letzten zwei Zeitzeugen, Herr Irmer und Herr Chlebowski, wurden nicht auf dieser Grundlage ausgewählt, sondern eher um Vergleiche zwischen „Extremerfahrungen“ und „Normalsterblichen“ ziehen zu können. Alle Zeitzeugen reagierten sehr positiv auf die Anfragen, die ausschließlich per E-Mail abgewickelt wurden.

Interviewtermine wurden nach der ersten Rückmeldung der potentiellen Teilnehmer möglichst zeitnah vereinbart, wobei nur grobe Zeiträume vom Interviewer vorgeschlagen wurden. Es war den Zeitzeugen möglich, selbst ein konkretes Datum und eine Uhrzeit vorzuschlagen. Ebenso verhielt es sich mit den Orten, an denen die Gespräche durchgeführt wurden. Ein Interview fand in der Wohnung des Zeitzeugen statt, zwei an öffentlichen Plätzen und vier an den jeweiligen Arbeitsstellen der Teilnehmer.

Gegenstand der Interviews war das Verhältnis der Leser zu Literatur, die sowohl die „erlaubten“ als auch die „unerwünschten“ Bücher einbezog. Dabei spielten konkrete Erlebnisse der Leser eine tragende Rolle. Die Arbeitsgrundlage für die Interviews war ein eigens erstellter Fragenkatalog[6]. Dieser war bei allen Teilnehmern annähernd identisch. Er gliederte sich in drei Teile. Zunächst sollte sich der Zeitzeuge vorstellen. Im zweiten Teil wurden allgemeine Fragen zum Medium Buch gestellt. Der dritte Part beschäftigte sich ausnahmslos mit verbotener Literatur und dem heimlichen Lesen. Die Reihenfolge der Fragen variierte je nach Gesprächssituation, da manche Fragen auch schon im Gesprächsverlauf beantwortet wurden. Spontane Fragen ergaben sich ebenfalls situationsbedingt. Der Fragebogen entstand mit Hilfe von Bestandsliteratur zum Vorgehen der Oral History.

2.1.2 Formale Charakteristik des Ausgangsmaterials

Alle Interviews wurden mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Die Zeitzeugen wurden im Vorfeld darüber informiert, um sich darauf einstellen zu können. Die dabei entstandenen Tondateien[7] dienten als Grundlage für die Transkription der Gesprächsinhalte. Hierbei wird das gesprochene Wort in die Schriftsprache übertragen und das Interview somit für die Auswertung in Form von schriftlichen Daten zur Verfügung gestellt.[8] Da der Inhalt des Interviews bei der Verschriftlichung im Mittelpunkt steht, handelt es sich um ein ein einfaches wissenschaftliches Transkript, das Grundtranskript.[9] Dafür wurden im Vorfeld folgende Transkriptionsregeln[10] festgelegt:

Es wurden alle themenrelevanten Aussagen der Gespräche wörtlich abgebildet. Dialekte und Umgangssprache wurden ins Hochdeutsche übertragen, wobei falscher Satzbau und ein fehlerhafter Ausdruck trotzdem übernommen worden sind. Wenn der Interviewte an bestimmten Stellen besonders laut gesprochen hat, wurde dieser Teil fett gekennzeichnet, war er besonders leise, markiert sich dies in Kursivschrift. Bei besonderer Betonung von einzelnen Worten, wurden diese unterstrichen. Diese drei Kennzeichnungen ermöglichten eventuelle Schlussfolgerungen über den emotionalen Zustand der Zeitzeugen. Längere Pausen des Gesprächspartners wurden mit drei Punkten in einfachen Klammern gekennzeichnet. Alle nonverbalen Äußerungen sowie nicht-sprachliche Ereignisse oder Störungen wurden in einfachen Klammern umschrieben. Bei der Transkription wurde entschieden, dass nicht-themenrelevante Aussagen in eckige Klammern gesetzt und mit drei Punkten versehen werden. Außerdem wurden unverständliche Worte mit (unv.) gekennzeichnet.

Festzuhalten ist weiterhin, dass der Interviewer mit „I.:“ und der Zeitzeuge mit „Herr“ oder „Frau“ und dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Nachnamen gekennzeichnet wurde. Die Fragen und Aussagen des Interviewers grenzen sich mittels fett gedruckter Schrift von denen der Zeitzeugen ab, wobei die jeweiligen Abschnitte auch durch Leerzeilen voneinander getrennt sind.

Die Transkripte wurden fortlaufend mit Seitenzahlen nummeriert, Zeilenangaben sind in Fünferschritten ebenfalls vorhanden.

2.1.3 Die Zeitzeugen

Baldur Haase

Der erste Interviewpartner war Baldur Haase[11], der Ende der 1950er Jahre eine einschlägige Erfahrung mit verbotener Literatur gemacht hat.[12] Nach der Kontaktaufnahme mit dem Koordinierenden Zeitzeugenbüro in Berlin meldete sich Herr Haase direkt bei mir und erklärte sich zu einem persönlichen Gespräch bereit. Das Interview fand am 11. August 2015 in seiner Wohnung in Jena statt. Der gelernte Offset- und Buchdrucker wurde 1939 im ehemaligen Sudetenland geboren und wuchs im Kreis Saalfeld in Thüringen auf. Seine Berufswahl begründet sich auf seinem Hobby Lesen, das schon immer eine sehr große Rolle in seinem Leben spielte. 1959 wurde er verhaftet und wegen staatsgefährdender Hetze zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Dies begründete sich auf der Tatsache, dass er nach dem Lesen des verbotenen Buches „1984“ von George Orwell dessen Geschichte mit der Situation in der DDR verglich und diese Kritik seinem Brieffreund in Westdeutschland mitteilte. Da zu diesem Zeitpunkt bereits eine inoffizielle Postkontrolle bei ihm durchgeführt wurde, reagierte das Ministerium für Staatssicherheit bald. Er liebt es nach wie vor zu lesen und möchte es auch nie missen, aber heute denkt er manchmal, dass ihm so manche Erfahrung in seinem Leben erspart geblieben wäre, wenn er nicht so großes Interesse an Büchern gehabt hätte.

Vera Lengsfeld

Das zweite Interview fand am 12. August 2015 mit Vera Lengsfeld[13] in einem Café in Berlin statt. Diesen Kontakt hatte mir im Vorfeld Thomas Dahnert, Leiter der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus“, vermittelt. Frau Lengsfeld wurde 1952 im thüringischen Sondershausen geboren, lebte aber die meiste Zeit ihres Lebens in Berlin. Sie studierte Geschichte und Philosophie in Leipzig und Berlin. In der DDR war sie Bürgerrechtlerin, später Volkskammer- und Bundestagsabgeordnete und heute ist sie freie Autorin. Die Jagd nach Büchern war für sie Alltag, sowohl Klassiker als auch Literatur von DDR-Schriftstellern und Westliteratur waren für sie interessant. Unerwünschte Literatur hat sie bewusst gelesen. Sie bekam sie über andere Studenten, mit denen sie sich austauschte. Außerdem hatte sie Zugang zu Literatur aus dem westlichen Ausland durch ihre Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften.

Siegmar Faust

Der Zeitzeuge Siegmar Faust[14] wurde mir ebenfalls von Herrn Dahnert vermittelt. Das Interview fand am 4. September 2015 in einem Café in Berlin statt, direkt im Anschluss besuchten wir die genannte Gedenkbibliothek. Herr Faust wurde 1944 in Sachsen geboren und wuchs in der Nähe von Dresden auf. Er studierte erst Kunst und Geschichte an der Universität Leipzig, später folgte ein Studium am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“. In beiden Fällen folgte die vorzeitige Exmatrikulation aus politischen Gründen. Nach mehreren Haftstrafen wurde er 1976 von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft und siedelte nach Westberlin um. Seitdem war er als Autor, Referent und Zeitzeuge tätig. Heute ist er Rentner, stellt sich aber nach wie vor für Gespräche dieser Art zur Verfügung. Eigenen Angaben zufolge war er bereits seit seiner Jugend ein Büchernarr. Lesen war für ihn schon immer der Blick in die Welt und in die Wirklichkeit. Er bekam Bücher hauptsächlich aus der Bibliothek und von Freunden.

Thomas Dahnert

Beim anschließenden Besuch in der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus“ unterhielt ich mich auch mit deren Leiter, Thomas Dahnert[15]. Dieses Interview wurde ebenfalls im Vorfeld vereinbart. Herr Dahnert wurde in Dresden geboren und wuchs auch dort auf. Während der DDR-Zeit waren Bücher für ihn Ikonen und auch heute sind sie noch von großem Wert in seinem Leben. Er bekam sie von seiner Schwester und von Freunden, mit denen er tauschen konnte. Beim versuchten Schmuggel westdeutscher Literatur aus der Tschechoslowakei wurde er erwischt. Die einzige Folge dessen war die Konfiszierung der Druckerzeugnisse, die er bei sich hatte. Die Bibliothek in Berlin leitet er seit zehn Jahren.

Siegbert Schefke

Siegbert Schefke[16], Journalist beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) in Leipzig, war interessant für meine Untersuchung, da sein Name während meiner Recherchen häufig Erwähnung fand.[17] Daraufhin habe ich direkt per E-Mail den Kontakt zu ihm hergestellt. Bereits drei Tage später, am 7. September 2015, fand unser Interview an seinem Arbeitsplatz statt. Herr Schefke wurde 1959 in Eberswalde geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung und ein Studium im Bauingenieurwesen. 1986 war er Mitbegründer der Umweltbibliothek in Berlin. Seit 1992 ist er für den MDR tätig und erstellt Beiträge unter anderem für die „Tagesschau“, die „Tagesthemen“ und die Sendung „Brisant“. Bücher spielten schon immer eine große Rolle in seinem Leben, besonders weil es Weltliteratur gab, die in der DDR nicht verlegt und dadurch interessant für ihn wurde. Anfangs bekam er begehrte Lektüre bei Reisen nach Budapest, später halfen ihm Kontakte zu Schleusern und Westjournalisten bei der Beschaffung von verbotener Literatur für die Umweltbibliothek.

Holger Irmer

Das vorletzte Interview führte ich mit Holger Irmer[18] am 29. September 2015 am Heinrich-Heine-Gymnasium in Wolfen. Herr Irmer wurde 1956 in Aschersleben geboren. Nach seinem Studium in Leipzig begann er sofort die Arbeit als Lehrer für Englisch und Deutsch am Gymnasium in Wolfen-Nord. Auch außerhalb seines Berufes hat er schon immer gern gelesen, sowohl Belletristik als auch Fachliteratur. Ihm stand überwiegend nur die Literatur zur Verfügung, die in der DDR veröffentlicht wurde. Zu Büchern aus dem westlichen Ausland hatte er keinen wirklichen Zugang. Ausnahmen waren selten mal Jugendzeitschriften oder Schallplatten, die ihm seine Großmutter mitbrachte. Im Rahmen seiner Diplomarbeit durfte er den „Giftturm“[19] der Deutschen Bücherei betreten, aber nur bestimmte Bücher mit Sondergenehmigung nutzen.

Matthias Chlebowski

Direkt im Anschluss fand das letzte Interview mit Matthias Chlebowski[20] statt, ebenfalls am Heinrich-Heine-Gymnasium. Herr Chlebowski kommt auch ursprünglich aus Wolfen und unterrichtet neben seiner Tätigkeit als Oberstufenkoordinator das Fach Englisch. Bücher sind nach wie vor wichtig für ihn, aber damals stellten sie eher eine Art Überlebenselixier für ihn dar, vor allem die illegalen Bücher, die man unbedingt haben wollte. Aber auch Zeitschriften, die sich mit dem real existierenden Sozialismus auseinander setzten, waren für ihn interessant. In Absprache mit einer örtlichen Buchhandlung bekam er manchmal Bücher, die zwar nicht unbedingt verboten waren, aber in so geringer Auflage erschienen, dass sie kaum Verbreitung fanden. Außerdem brachte er sich Bücher und Schallplatten von einer Reise aus Westdeutschland mit. Ansonsten wurde Literatur unter Freunden und Bekannten verliehen und getauscht.

2.2 Methodisches Vorgehen

Diese Untersuchung stützt sich zum einen auf die geschichtswissenschaftliche Methode der Oral History, zum anderen auf die Qualitative Inhaltsanalyse, eine Methode der empirischen Sozialwissenschaften.

„Eine demokratische Zukunft bedarf einer Vergangenheit, in der nicht nur die Oberen hörbar sind.“ [21]

Diese Aussage unterstützt auch Stefan Jordan. Die Methode der Oral History fand anfangs vor allem in Bevölkerungsgruppen Anwendung, in denen die Menschen keine

Schriftsprache erlernt hatten, und auch heute noch beschäftigt sie sich hauptsächlich mit Randgruppen in der Bevölkerung.[22] Sie zielt auf „die Untersuchung mündlicher Überlieferungen historischer Inhalte“[23] ab. Befragungen und Interviews sind bevorzugte Arbeitsinstrumente bei der Untersuchung. Die Oral History wird in der Regel angewandt, um zeitgeschichtliche Hintergründe in Erfahrung zu bringen. Dies geschieht mit der Absicht, nicht-schriftliche Erfahrungen, Erinnerungen und nicht festgehaltenes Wissen zu sichern, damit es nicht verloren gehen kann.[24]

Als weitere Basis dieser Untersuchung wurde die sozialwissenschaftliche Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse angewandt. Hierbei geht es um die Untersuchung von Texten und vor allem von bewussten Äußerungen sowie subjektiven Sichtweisen. Laut Philipp Mayring ist das Ziel dieser Forschungsmethode die „Analyse von Material, das aus irgendeiner Art von Kommunikation stammt“[25]. Sie geht systematisch vor und ist regel- sowie theoriegeleitet.[26] Bei dieser Art der Forschungsmethode ist es üblich, dass sich die Forscher am Alltag und an alltäglichen, natürlichen Situationen des Denkens, Fühlens und Handelns orientieren.[27] Die Qualitative Inhaltsanalyse will menschliches Verhalten also verstehen, aber nicht erklären.

3 Heimliches Lesen in der DDR

Die Deutsche Demokratische Republik war immer stolz, ein Leseland zu sein. Als Begründung dafür wurden stets die hohen Auflagenzahlen an sozialistischer Literatur angeführt.[28] Trotzdem unterlagen alle Druckerzeugnisse mehreren Kontrollen, welche sowohl die eigene DDR-Literatur betrafen, als auch Literatur aus Westdeutschland und dem weiteren westlichen Ausland. Offiziell waren nur kriegshetzerische, rassistische und konterrevolutionäre Schriften verboten bzw. von den Kontrollen betroffen. Und trotzdem unterlagen Autoren, Schriftsteller und Verlage, aber auch Literaturkonsumenten mitunter der reinen Willkür der Regierung und deren Gefolgsleuten.

Nachfolgend werden ein kurzer Überblick über die Literaturpolitik der DDR sowie die Funktionen von Literatur aus Sicht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) erläutert. Diese Vorüberlegungen sollen der eigentlichen Untersuchung als Grundlage und Vergleichswert dienlich sein.

3.1 Die Literaturpolitik in der DDR

„Was immer in der Kulturpolitik der DDR an Restriktionen und Lockerungen praktiziert worden ist, welchen Grad an Freiheiten man auch gewährte, was für Sanktionen man verhängte und welche Repressionen man organisierte – stets bildete, in unterschiedliche Formeln gekleidet, die ‚feste Position des Sozialismus‘ das Maß aller Dinge.“ [29]

Literatur in der DDR war abhängig von der staats- und parteioffiziellen Kulturpolitik. Dies brachte enorme Einschränkungen in der künstlerischen Freiheit mit sich. Kunst, Kultur und Literatur mussten sich an die Richtlinien von Staat und Partei halten. Künstler und Literaten wurden verfolgt und waren mitunter unmenschlichen Restriktionen und Repressalien ausgesetzt. Leser und Buchliebhaber durften nur noch lesen, was die SED-Regierung für richtig und angemessen empfand.[30] Zu verantworten hatte dies die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel der DDR, die dem Ministerium für Kultur unterstand. Die Hauptverwaltung war zuständig für alle Entscheidungen, die die Buchproduktion und Buchdistribution betrafen. Sie zeigte sich verantwortlich für die Zuteilung von Druckpapier, die Zensur von Druckerzeugnissen bzw. die Druckgenehmigungsverfahren sowie die Genehmigung von Verlagsprogrammen. Sie urteilte am Ende über die Erfüllung der politischen und ideologischen Richtlinien. Somit kontrollierte sie den kompletten Bereich der Buchpublikationen. Das Ministerium für Kultur wollte „eine einheitlich politisch-ideologische Arbeit des gesamten Verlagswesens […] bei gleichzeitiger Entfaltung einer zielstrebigen, vielseitigen Literaturpropaganda“[31] erreichen.

Besonders zu Anfang dieser Kultur- und Literaturpolitik war der Antifaschismus ein wichtiges Merkmal der DDR-Literatur. Die kulturpolitischen Maßnahmen wurden darauf ausgerichtet und so konnte auch der Führungsanspruch der Kommunisten lange Zeit gerechtfertigt werden. Des Weiteren bestimmten im Hinblick auf die Belletristik der Formalismus und vor allem der sozialistische Realismus die Kultur- und Literaturpolitik der DDR. Formalismus bedeutete ein generelles Urteil über Kunst und Literatur, die man für zu modern hielt und die daraus resultierende Debatte richtete sich gegen künstlerische und literarische Entwicklungen in den westlichen Ländern.[32] Daran angeknüpft ist das klassische Erbe, das heißt die klassische Literatur hielt man für die einzige, die dem sozialistischen Kulturerbe gerecht wurde. Der sozialistische Realismus hatte es sich zur Aufgabe gemacht, historische Inhalte wahrheitsgemäß abzubilden, um die DDR-Bevölkerung im Sinne des Sozialismus umzuerziehen.[33]

In dieser Phase des Aufbaus war in literarischen Werken ein positiver Held aus dem Arbeiterkreis erwünscht, mit dem sich die Menschen identifizieren konnten.

Eine Liberalisierung in der Literaturpolitik erfuhren die Bürger mit der Bewegung der „schreibenden Arbeiter“, auch als „Bitterfelder Weg“[34] bezeichnet. Der Forderung, die Trennung zwischen Kunst und Leben sowie zwischen Künstler und Volk, wurde nachgekommen.[35] Nach dem Bau der Mauer profitierten die DDR-Autoren zwar einerseits noch immer geringfügig von der „Bitterfelder Bewegung“, aber sie waren mehr oder weniger gezwungen, die DDR als ihren Lebensmittelpunkt und Zentrum ihres literarischen Schaffens zu betrachten. Für die Konsumenten bedeutete die neue Grenze ebenfalls einen tiefen Einschnitt. Es war nun kaum mehr möglich, Literatur aus dem Westen zu erwerben. Nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees 1965, bei dem Erich Honecker die heftige Kritik anbrachte, man stimme in der Kulturpolitik mit der Linie des westlichen Gegners überein, wurden die Einschränkungen wieder enorm verschärft.[36]

Eine angebliche Lockerung erfuhren vor allem die Autoren Anfang der 70er Jahre als Honecker Walter Ulbricht als Parteivorsitzender ablöste. Das neue Staatsoberhaupt sprach den DDR-Schriftstellern mehr Freiheiten insofern zu, wenn deren künstlerisches Schaffen vom Sozialismus geprägt und in ihren Werken erkennbar war. Somit unterlagen Kunst und Kultur einer genauso strengen politischen Kontrolle wie vorher, aber unter dem Deckmantel der Lockerung aller Umstände. Diese scheinbare Liberalisierung fand ein abruptes Ende mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns[37] und den damit verbundenen Protesten seitens vieler DDR-Autoren.

Schlussendlich hatte Honecker den Plan, die Wirtschafts- und Sozialpolitik gemeinsam in Einklang zu bringen, was jedoch in den 80er Jahren nicht mehr finanziert werden konnte. Damit wurde den DDR-Schriftstellern jegliche Grundlage ihres künstlerischen Schaffens entrissen. Erst die Alexanderplatz-Demonstration[38] am 4. November 1989, die Teil der friedlichen Revolution war, brachte den Umbruch für die Literaturpolitik. Bezugnehmend auf das zu Anfang dieses Kapitels angeführte Zitat stellte bereits Ralf Schnell fest, dass die Literaturpolitik sich immerzu den politischen Umständen anpasste, jedoch dadurch nie den Ansprüchen der Kunst gerecht werden konnte.[39] Ziel des Staates war es, Literatur gleichzeitig zu fördern und zu kontrollieren[40], doch diese Förderung geschah nie über die Grundsätze des Sozialismus hinaus.

Offiziell wurde nie von einer Zensur gesprochen, aber sowohl Schriftsteller und Autoren als auch die Leser bekamen diese in einem Ausmaß zu spüren, das ihnen jegliche Möglichkeit der gedanklichen Freiheit raubte. Die Erweiterung des eigenen Horizonts über die sozialistischen Ansichten hinaus, war nur wenigen vorbehalten, wie sich im vierten Kapitel zeigen wird.

3.2 Funktionen von Literatur aus Sicht der DDR

„In der Berufung auf die Macht der Literatur wurden anfänglich nur ihre klassischen Funktionen – Bildung und Belehrung – herausgehoben.“[41] Diese beiden Faktoren waren wohl auch die wichtigsten, da darüber die Wissensvermittlung im Sinne des Sozialismus abgedeckt wurde. Das galt in besonderem Maße für politische Literatur und Fachliteratur, später auch für die Belletristik. Anfangs nahm diese keine enorm wichtige Rolle ein, doch im Laufe der Zeit wurde die „schöne Literatur“ von den Parteifunktionären immer mehr geschätzt, da sie die Ausbildung von politischen Motivationen förderte.[42] Aus diesen beiden Funktionen ergab sich die gesellschaftliche Aufgabe der Literatur und somit auch der Schriftsteller, die Menschen in der DDR im Sinne der sozialistischen Ideologie zu formen und zu erziehen.[43] Dies wird auch durch eine weitere soziale Funktion bestätigt, nach der die DDR-Literatur positiv identitätsstiftend wirken sollte.[44] All diese Funktionen hatten großen Einfluss darauf, ob und in welchem Ausmaß Bücher hergestellt, akzeptiert oder verboten wurden. Das Problem bestand hier darin, dass sich der Wissenserwerb mittels Literatur der DDR sehr einseitig zeigte. Die Leser lernten ja nur das, was die Parteiführung für richtig befand und was ausschließlich der sozialistischen Ideologie entsprach. Um diese Einschränkung zu umgehen, fanden die Leser, die ihren Wissensschatz über die Grenzen der DDR hinaus erweitern wollten, vielfältige Möglichkeiten. Im folgenden Kapitel werden diese dargelegt.

4 Heimliche Leser und ihre Erfahrungen mitunerwünschter Literatur

Synonyme für das Wort „heimlich“ sind beispielsweise „verborgen“ und „unerkannt“, es geschehen Dinge, die andere Menschen nicht erfahren sollen. Der Leser ist ein Rezipient schriftlicher Texte. Die Bevölkerung der DDR hatte Zugang zu Literatur, die der Staat für angemessen und ideologiekonform hielt. Dem gegenüber stand die Literatur aus der Bundesrepublik Deutschland und dem westlichen Ausland, die den Menschen vorenthalten wurde. Wer wirklich großes Interesse an Literatur hatte, musste den Konsum also im Verborgenen betreiben. Der heimliche Leser war demnach jemand, der in der DDR nicht öffentlich zugängliche Druckerzeugnisse rezipierte. Eine tragende Rolle spielte auch die Neugier und der Reiz des Verbotenen, was mir auch von Herrn Faust bestätigt wurde: „Das nachvollziehen, was es noch in der Welt gibt, und ob das Indien ist, alles was eben verboten war oder alles, was einem vorenthalten wurde. Da war man neugierig.“[45] Es ging ja letztendlich nicht nur darum, dass man bestimmte Literatur nicht lesen durfte. Vielmehr war ja das ganze Leben von einer Ideologie bestimmt, die die Menschen von allem Unbekannten und nicht dem Sozialismus entsprechenden fernhielt. Das westliche Ausland beispielsweise durften auch nur die Wenigsten bereisen. Daraus resultierte, dass der heimliche Leser mit Literatur das kompensierte, was er nicht kennenlernen durfte. Für ihn war vor allem westliche Literatur die Tür in eine andere Welt. Herr Dahnert ist 1987 aus der DDR ausgereist und wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass sich das für die letzten zwei Jahre doch gar nicht mehr gelohnt hätte. Dem setzt er entgegen: „[…] es waren genau die zwei Jahre, die mir auch eine andere Sicht auf die Welt und auf die Bundesrepublik gegeben haben […]. Und es waren zwei Jahre Erfahrungsgewinn und es waren zwei Jahre Reisen nach Italien und Frankreich […], da möchte ich keine Minute missen […].“[46] Beide Zeitzeugen haben durch das Lesen verbotener Literatur einen Blick in die andere Welt geworfen. Herr Faust ist ebenfalls aus der DDR ausgereist, allerdings schon 1976. Beide hatten plötzlich die Gelegenheit, die große weite Welt, die sie nur aus ihren Büchern kannten, kennenzulernen. Sie brauchten sich nicht mehr vorzustellen, wie die neue Welt aussah, sie sahen es vor sich und hatten nun den direkten Vergleich.

Alle Zeitzeugen haben gemeinsam, dass sie heimliche Leser waren, manche bewusst, andere unbewusst. Natürlich las man auch DDR-Literatur, doch die Lektüre aus dem Westen ermöglichte ihnen den Blick über den Tellerrand hinaus. Im Folgenden werden Ansichten und Erfahrungen der Zeitzeugen näher erörtert und miteinander verglichen.

4.1 Baldur Haase

Herr Haase bezeichnete das Lesen als sein Hobby seit seiner frühesten Kindheit. Auch seine Eltern waren schon immer sehr an Literatur interessiert. Bereits im Jugendalter hatte er sich eine kleine Bibliothek zu Hause eingerichtet, wobei diese hauptsächlich aus Büchern aus der DDR bestand. Auf die Frage hin, wie er zu Bildung und Belehrung als Funktionen der DDR-Literatur steht, bestätigte er diese, jedoch mit dem Einwand, dass die Belehrung häufig nur unterschwellig zu erkennen war. Weiterhin wand er ein, dass es durchaus auch Literatur gab, die nicht von Grund auf politisch doktrinär war.[47] Aus einem Hobby wurde dann sogar eine Berufung. „[…] und da war eigentlich schon immer mein Wunsch gewesen, irgendeinen Beruf zu ergreifen, wo ich etwas mit Büchern zu tun habe.“[48] Er hat dann tatsächlich zuerst eine Ausbildung zum Stein- und Offsetdrucker absolviert, einige Jahre später folgte dann die Umschulung zum Buchdrucker.

„[…] dieses Interesse an Büchern hat sich dann auch auf meinen Berufswunsch übertragen und das ist vielleicht auch eine Grundlage gewesen, eine Basis für meine späteren Dinge, die ich dann erlebt habe und was sich so ergeben hat. Gerade das Interesse an Literatur… Schließlich hat mich ja das Interesse an der Literatur hat mich schließlich in dieses Unglück gestürzt damals in der DDR, denn wenn ich mich nicht dafür interessiert hätte so jetzt insgesamt, wär das gar nicht so gekommen.“[49]

Das Unglück, das er hier ansprach, betraf die Verhaftung und Verurteilung zu mehr als drei Jahren Zuchthaus wegen angeblicher staatsfeindlicher Hetze. Hintergrund dessen war, dass er von einem Brieffreund aus Westdeutschland das Buch „1984“ von George Orwell[50] geschickt bekommen hatte. Nachdem er es gelesen hatte, verlieh er es einerseits weiter, andererseits verglich er in seinen Briefen an eben diesen Brieffreund die Handlung des Buches mit den Verhältnissen in der DDR und stellte Parallelen zum sozialistischen System der DDR fest: „Und gerade dieser fiktive, utopische Staat da und da habe ich ja dann auch festgestellt, mir war bewusst geworden, dass ja in der DDR und auch in den anderen sozialistischen Ländern ähnliche Verhältnisse herrschen wie Orwell die in dem Buch beschreibt […].“[51] Er konnte sich auch vage vorstellen, dass das Buch nicht auf Freunde innerhalb der Staatsführung stoßen würde, jedoch ging er nicht von solch harten Konsequenzen aus, die ihn daraufhin ereilten. Allein der Besitz unerwünschter Literatur wäre seiner Ansicht nach gar nicht die Schwierigkeit gewesen, sondern eher die Verbreitung und die Kommunikation darüber.

„Ich hab ja sogar wörtlich die Staatssicherheit mit der Gedankenpolizei verglichen. Ich hab ja geschrieben darüber, aber das ist halt Naivität gewesen mit 18 Jahren. […] Da hab ich geschrieben, bei uns gibt es auch eine Gedankenpolizei, das ist die Staatssicherheit, die sperren sogar Leute ein, die politische Witze erzählen, hab ich wortwörtlich geschrieben. Und die Stasi hat die Briefe gelesen, hat sie wieder zugeklebt. Da war ich ja in der inoffiziellen Postkontrolle erfasst.“[52]

Diese Postkontrolle gegen ihn wurde aufgrund seiner vielen Briefkontakte ins Ausland bereits im Frühjahr 1958 eingeleitet. Beim Einsehen seiner Stasi-Akten in den 90er Jahren fand er heraus, dass auch das Paket mit eben diesem Buch geöffnet wurde und dass die Stasi es bewusst an ihn weitergeschickt hat. Und zu diesem Zeitpunkt hat er dann auch erfahren, dass sein Schwager als inoffizieller Mitarbeiter ihn „wegen undurchsichtiger Verbindungen nach Westdeutschland“[53] an die Stasi verraten hat, wodurch er dann erst recht noch weiter unter höchster Beobachtung stand. Noch im gleichen Jahr hat Herr Haase eine Reise nach Westdeutschland beantragt, die allerdings ohne Begründung abgelehnt wurde. „Eigentlich hätte damals schon bei mir der Groschen fallen müssen, dass vielleicht was im Busch ist, aber da hab ich auch nie dran gedacht. Ich war einfach ein naiver Mensch gewesen damals. Und durch diese Naivität bin ich auch noch weiter da rein gerutscht.“[54] Im Januar 1959 erfolgte dann die Verhaftung in Leipzig, bei der auch Orwells Buch gefunden wurde, welches er mit einer Unterschrift als sein Eigentum bestätigen musste. Im darauffolgenden März wurde er wegen Verbreitung, staatsgefährdender Hetze und Sammlung von Nachrichten[55] zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Die Strafe hat er in Waldheim abgesessen, wo er sogar weiter in seinem Beruf als Drucker arbeiten konnte. Wegen guter Führung und durch die Hilfe seines Anwalts sowie seiner Eltern wurde seine Haftzeit verkürzt und die Entlassung erfolgte nach zwei Jahren und drei Monaten.

Über eine Zensur in dem Sinne war er sich dann auch erst nach der Haft bewusst:

„Ja das hab ich also vorher nicht so registriert. Mir waren auch keine Fälle bekannt geworden, dass jemand wegen eines Buches da Schwierigkeiten bekommen hätte. Mir war das nicht… Das hatte ich nicht registriert so etwas, ich hab da nichts gehört darüber.“[56]

Das unterstreicht nochmals, dass Herr Haase damals noch sehr jung, unerfahren und ein wenig naiv war, wie er ja auch selbst feststellte. Trotzdem glaubt er, dass er das Buch mit diesem Wissen vielleicht trotzdem gelesen hätte, nur hätte er es wohl vorsichtiger aufbewahrt und sich nicht in diesem Umfang darüber geäußert.[57]

In der Folge hat sich Herr Haase stets eher unauffällig verhalten und auch unerwünschte Literatur hat er gemieden. Eine solche physisch und psychisch belastende Erfahrung wollte er nicht noch einmal machen müssen. Im Rahmen der „Bewegung der Schreibenden Arbeiter“ schrieb er Mitte der 60er Jahre eine Erzählung und ließ sie einem Gutachten unterziehen. Wenig später bekam er die Gelegenheit, sich mit seinem Manuskript und dem Gutachten am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in Leipzig zu bewerben und wurde zu einem Fernstudium zugelassen. Noch während des Studiums wurde ihm eine Stelle beim Bezirkskabinett für Kulturarbeit in Gera angeboten, die er 1970 antrat. Seine Vorstrafe wurde 1968 gelöscht. Auch heute haben Bücher für Herrn Haase noch einen sehr hohen Stellenwert, auch wenn er inzwischen weniger liest als früher. Außerdem haben sich die Inhalte im Laufe der Jahre ein wenig verändert; früher weckte die Belletristik sein Interesse, heute ist es eher die Fachliteratur.[58] Inzwischen hat er bereits mehrere Bücher und Beiträge über seine Erlebnisse veröffentlicht.

Baldur Haase war ein heimlicher Leser, der als Jugendlicher bei Besuchen in Westdeutschland auch mal eine Zeitschrift mitgebracht hat, und der auch wusste, dass das nicht unbedingt gern gesehen wurde. Er wusste auch, dass sie ihm weggenommen werden könnte. Er wusste allerdings nicht, dass ein einziges Buch ihn ins Gefängnis bringen würde. In seiner jugendlichen Naivität war ihm gar nicht bewusst, dass er etwas in den Augen der Regierung Verbotenes tat, als er seinem Freund die Parallelen zwischen „1984“ und der DDR in einem Brief schilderte. Die einzigen Ziele, die er damals verfolgte, waren Unterhaltung, Wissenserwerb und Wissensaustausch. Abgesehen von Orwells Buch hatte er auch nicht wirklich Möglichkeiten zum Erwerb von unerwünschter Literatur und im Laufe des Gesprächs wurde der Eindruck erweckt, dass er mit der Literatur, die ihm zugänglich war, zufrieden schien.

4.2 Vera Lengsfeld

Für Frau Lengsfeld nimmt Literatur annähernd den höchsten Stellenwert in ihrem Leben ein und sie kann sich erinnern, dass die Jagd nach Büchern in der DDR Alltag war.[59] Ihr Verhältnis zur Literatur wurde ebenfalls ein wenig von den Eltern beeinflusst, die selbst viel lasen und viele Bücher besaßen. Sie selbst hat später alles gelesen, was sie bekommen konnte. Dazu gehörten sowohl klassische Werke als auch sowjetische und DDR-Literatur. Trotzdem versuchte sie natürlich auch, Lektüre aus dem Westen zu bekommen:

„Also es ging ja schon ganz simpel damit los, dass zwar auch etliche interessante Bücher in der DDR veröffentlicht wurden, die dann aber nicht in den freien Verkauf kamen oder schon die Geschäfte erreichten, aber man brauchte Beziehungen zu einem Buchhändler, um bestimmte begehrte Bücher zu bekommen, die es nur unter dem Ladentisch gab. Ich hatte nie solche Beziehungen und von daher war das immer schwierig für mich, an solche Bücher ranzukommen.“[60]

Ein Höhepunkt bei der Suche nach Literatur war für sie, eine kleine akademische Buchhandlung in Berlin zu entdecken, die nur sehr wenige Leute kannten und in der man das ein oder andere Buch aus dem Westen einfach erwerben konnte.[61] Verbotene Literatur, die sie ganz bewusst gelesen hat, bekam sie außerdem während ihres Philosophie-Studiums von anderen Studenten oder Seminarleitern, die ihr vertrauten und denen sie vertraute. Und auch der Austausch über Bücher gehörte zu ihrem Alltag, es war ihr jedoch bewusst, dass man damit vorsichtig umgehen musste. Sie selbst hat aber nie direkt Probleme deswegen bekommen.[62]

Die Funktion Bildung hat für Frau Lengsfeld eine tragende Rolle gespielt, sie las ausschließlich um sich selbst zu bilden, Unterhaltung war da sehr untergeordnet. Sie ist bis heute beeindruckt, wie gebildet einige DDR-Autoren waren und dies in ihren Büchern auch zum Ausdruck brachten. Da sie selbst „[…] weniger Unterhaltung, sondern Information, Bildung und eben auch Regime-Kritik suchte […]“[63] ist ihr nicht wirklich aufgefallen, dass die DDR-Literatur sehr auf Bildung und Belehrung abzielte. „Ich bin auch nicht so… Oder viele von uns, wir waren gar nicht so der Typ, der Unterhaltung gesucht hat, sondern wirklich alles andere.“[64]

Und weil sie manche Bücher unbedingt selbst haben wollte, betrieb sie auch selbst aktiv den Bücherschmuggel:

„Ich hatte einen holländischen Freund und […] über seine Kollegen, die da weniger beobachtet wurden als er, hab ich das eine oder das andere gekriegt. Aber einmal, da haben wir uns in Polen getroffen und ich hab gesagt ‚Bring mir unbedingt hier „Anmerkungen zu Hitler“ von […] Sebastian Haffner […] bring mir das unbedingt mit.‘ Er brachte mir das mit und ich hab versucht das über die Grenze zu kriegen von Polen in die DDR. Was ich natürlich damals gar nicht gewusst habe, das war noch vor meiner aktiven Oppositionszeit, dass ich da schon heftigst von der Stasi beobachtet wurde. Also die sind gezielt in mein Abteil gekommen und ich hatte das Buch zwar unter den Sitz geschoben […] aber die kannten alle Verstecke. Und haben natürlich zuerst da nachgeguckt […] Ich hab es danach nie wieder gemacht […] Ich hab dann ganz kühn behauptet, ich bin nur eine wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Akademie der Wissenschaften und das gehört zu meiner Lektüre und das hab ich da nicht versteckt, das ist da runter gefallen.“[65]

Und obwohl sie die Akademie nicht überzeugen konnte, das Buch anzufordern und sie somit zu entlasten, bekam sie deshalb nie ernsthafte Probleme mit der Stasi. Trotzdem ist sie danach vorsichtiger geworden.

Eine weitere Zugangsmöglichkeit hatte sie später als Oppositionelle durch „Verbindungen zu grünen Bundestagsabgeordneten […] Die haben uns natürlich auch Bücher mitgebracht und haben dann schamlos ausgenutzt, dass sie als Bundestags-abgeordnete nicht untersucht werden konnten.“[66] Außerdem gab es Freunde in Westberlin und Westdeutschland, bei denen sie oft Bestellungen aufgab. Manchmal wurden diese sogar mit verbotener Literatur erwischt, was allerdings nie ernsthafte Folgen hatte. In vielen Fällen hat die Zeitzeugin die Bücher bekommen, die sie brauchte oder haben wollte. Die Risiken waren ihr immer bewusst, aber wenn etwas Verbotenes einmal in ihrem Besitz war, waren die Konsequenzen nicht mehr wichtig:

„Wenn man das Buch einmal hatte, nach dem Gesetz der DDR, war es nicht verboten ein verbotenes Buch zu besitzen. Es war nur verboten es zu verborgen. Also hab ich das immer so gemacht: ‚Da musst du zu mir kommen und musst das bei mir lesen. Ich bin Mutter von mehreren Kindern, ich will hier nichts riskieren. Du kannst es gern haben, aber du liest es bei mir.‘ Und nach diesem Prinzip haben ja dann auch unsere kleinen Bibliotheken funktioniert.“[67]

Laut Frau Lengsfeld war das Prozedere später in der ersten Friedensbibliothek und in der Umweltbibliothek[68] das gleiche, zu denen sie intensive Kontakte pflegte. Dass es dafür keine Konsequenzen gab, erfuhr sie selbst auch: „Und natürlich ist es so gewesen, als die Stasi bei mir Hausdurchsuchung gemacht hat, hat sie natürlich die Bücher alle konfisziert, ja. Aber bestraft worden bin ich dafür nicht, die waren dann bloß alle weg.“[69] Sie gab außerdem auch klare politische Ziele als Motivation für das „Heimliche Lesen“ an:

„Als ich diese kurze Zeit in der Akademie relativ freien Zugang zu westlicher Literatur hatte, weil ich den aktuellen Philosophiemarkt beobachten sollte, […] ich hatte damals eine Umweltgruppe schon, und da hab ich gezielt solche Sachen wie Global2000, dieser Bericht, den Jimmy Carter[70] rausgegeben hat, oder Jean Améry[71], also all diese Ökologieliteratur, auch Hoimar von Ditfurth[72] und so weiter, gezielt gelesen […] und hab natürlich Exzerpte gemacht und die ganzen Informationen, die ich aus diesen Büchern hatte, haben wir dann verwendet in unseren Ausstellungen oder in unseren Publikationen […].“[73]

Im Rahmen dieser Beobachtung des westlichen Philosophiemarktes erstellte sie selbstständig eine Studie zu französischen Philosophen und deren Theorien, welche an der Universität überwiegend auf Begeisterung stieß, aber trotzdem vom philosophischen Institut verboten wurde. Um dennoch etwas damit anfangen zu können, nutzte sie einen Kontakt, der beim Forum[74] arbeitete, schrieb mit Hilfe der Studie einen Artikel und ließ ihn veröffentlichen. Ab diesem Zeitpunkt erschien „kein Forum mehr. Die Redaktion wurde aufgelöst. Das war einerseits mein größter Erfolg […] und andererseits hat es natürlich gezeigt, dass es überhaupt gar keine Möglichkeit gibt, solche Sachen auch öffentlich zu verbreiten.“[75]

Ins Visier der Stasi geriet sie allerdings schon vorher, da sie gute Kontakte zu vielen Schriftstellern pflegte und verschiedene Zirkel besuchte. Da sie aber selbst nicht aktiv war, gab es keine Konsequenzen für sie. Von der sehr früh einsetzenden Überwachung erfuhr sie erst durch ihre Stasi-Akten.

Die Zeitzeugin Vera Lengsfeld stellt das komplette Gegenteil von Baldur Haase dar. Im vollen Bewusstsein über die möglichen Konsequenzen war sie aktive heimliche Leserin und teilweise auch Bücherschmugglerin, die zwar großes Interesse an Literatur hatte und sich vorrangig weiterbilden wollte, dies aber weitgehend aus politischer Motivation heraus tat. Für sie war der Reiz, verbotene Literatur zu lesen, sehr groß und daher nahm sie auch wissentlich einige Risiken auf sich. Die Möglichkeiten waren gegeben und sie nutzte diese. Trotzdem versuchte sie, insofern es möglich war, Vorsicht walten zu lassen, um damit unter anderem auch ihre Familie zu schützen.

4.3 Siegmar Faust

„[…] ich war ein Büchernarr!“[76] Das war die Antwort, die ich von dem Zeitzeugen Siegmar Faust auf meine Frage nach dem Stellenwert von Büchern in seinem Leben erhielt. Sofort war eine fast ansteckende Begeisterung aus seinen Worten herauszuhören. Anfangs hat es ihm vor allem die Lyrik angetan, er las gern Klassiker und besonders faszinierte ihn Walt Whitman[77]. Er selbst ist in einem Haushalt aufgewachsen, in dem es nicht viele Bücher gab, auch deshalb war das Lesen für ihn so etwas Besonderes. Er bekam seine Literatur größtenteils aus örtlichen Bibliotheken und kaufte sich auch gern Reclam-Bücher, insofern es finanziell möglich war. Eine enorme Bedeutung hatte Literatur auch während und nach der Zeit seiner Einzelhaft:

„Naja und als ich dann lesen durfte in der Haft, da war das dann auch wichtig. Weil man aber nur alle 14 Tage ein Buch bekam, da war man ja nach zwei, drei Tagen fertig und da hatte man nichts zu lesen. […] man konnte es sich nicht auswählen, also zeitweise als ich auf Einzelhaft war, aber wenn dann ein Thomas Mann oder ein Hermann Hesse oder ein Klassiker wie ein Goethe oder was, das war dann wie ein Feiertag! Das hat man dann genossen. Ja man hat das aufgesogen. Also das Lesen war das Elementare für mich […] Und dann war man natürlich geil auf jede Westzeitschrift oder wenn man ein Westbuch bekam. Das wurde dann oft unkritisch erstmal als gut empfunden. Also ich hab dann Zeug gelesen, auch Herbert Marcuse[78], also heute würde ich sagen, so ein Schwachsinn, aber damals… Oh es kommt aus dem Westen, das muss ja gut sein.“[79]

Nichts schien wichtiger für ihn zu sein als das Lesen und auch für Herrn Faust hatte es offensichtlich seinen Reiz, verbotene Literatur zu konsumieren. Doch ihm waren auch Vielfalt und Abwechslung sehr wichtig. Literatur hatte für ihn außerdem den Zweck der Erkenntnis bzw. der Schulung von Wissen und Intelligenz, sie sollte das Nacherleben und die Fantasie anregen.[80] Bildung und Belehrung waren bedeutend, Unterhaltung hingegen war ihm nicht wichtig, da er nicht gern Unterhaltungsliteratur las. Wichtiger war ihm immer das „[…] Forschen und Suchen, die Welt entdecken, wo man nie hinkommt. Also mit damals, mit dem Eingesperrtsein in der DDR. […] man fühlte sich eingesperrt, schon von Kindheit an eigentlich. Und da las man dann. Das war ein Blick in die Welt […].“[81] Dieser Blick in die Welt erlaubte ihm, das nachzuvollziehen, was es noch in der Welt gab außer dem Leben in der DDR, es schürte die Neugier auf das, was ihm vorenthalten wurde.[82]

[...]


[1] Becker, Jurek: Die Wiedervereinigung der deutschen Literatur. In: Ende des Größenwahns. Aufsätze, Vorträge. Frankfurt a.M. 1996, S. 120.

[2] Deutscher Erzähler, Drehbuchautor und DDR-Kritiker [1937–1997]. Siedelte 1977 von Ost- nach Westberlin über. [nach LÜDKE; In: Killy, Walther (Hg.): Literaturlexikon - Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 1. Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH 1988, S. 374–376.].

[3] Vgl. Opitz, Michael: DDR-Literatur (Begriff). In: Opitz, Michael / Hofmann, Michael (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH 2009, S.72.

[4] Lokatis, Siegfried: Lesen in der Diktatur. Konturen einer Zensurwirkungsforschung. In:
Lokatis, Siegfried / Sonntag, Ingrid (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin: Christoph Links Verlag 2008, S. 11.

[5] Buschow, Corinna / Dobner, Maria: Karl May von der Oma. Der Bücherschmuggler Rainer Eckert. In: Lokatis, Siegfried / Sonntag, Ingrid (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin: Christoph Links Verlag 2008, S. 113.

[6] Vgl. Anhang 1: Fragenkatalog

[7] Vgl. Anhang 4: Tondateien der Zeitzeugeninterviews

[8] Vgl. Fuß, Susanne / Karbach, Ute: Grundlagen der Transkription. Opladen & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2014, S. 15–16.

[9] Vgl. ebd., S. 61–64.

[10] Vgl. ebd.

[11] Vgl. Anhang 2: Übersicht der Zeitzeugen.

[12] Vgl. Haase, Baldur: Verführt durch „Schmutz und Schund“. Mein Orwell. In: Lokatis, Siegfried / Sonntag, Ingrid (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin: Christoph Links Verlag 2008, S. 168–174.

[13] Vgl. Anhang 2: Übersicht der Zeitzeugen.

[14] Vgl. ebd.

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. ebd.

[17] Vgl. Bericht über Zeitzeugengespräch mit Herrn Schefke in Osthessen News (s. Literaturverzeichnis)

[18] Vgl. Anhang 2: Übersicht der Zeitzeugen

[19] Orte, an denen Bücher aufbewahrt werden, die nicht für jedermann zugänglich sein sollen, weil sie auf eine bestimmte Weise gefährlich oder unerlaubt sind [nach WALIGORA; In: Lokatis, Siegfried / Sonntag, Ingrid (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin: Christoph Links Verlag 2008, S. 191.]

[20] Vgl. Anhang 2: Übersicht der Zeitzeugen

[21] Niethammer, Lutz: Einführung. In: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt/Main: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1985, S. 7.

[22] Vgl. Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Orientierung Geschichte. Paderborn: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG 2009, S. 160–161.

[23] Ebd.

[24] Vgl. ebd.

[25] Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12., überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Verlag 2015, S. 11.

[26] Vgl. ebd., S.12–13.

[27] Vgl. ebd., S. 38.

[28] Vgl. Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. 2., durchgesehene Auflage. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1999, S. 142.

[29] Schnell, Ralf: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH 2003, S. 251.

[30] Vgl. ebd., S. 108.

[31] Ebd.

[32] Vgl. ebd., S. 110–111.

[33] Vgl. ebd., S. 111.

[34] Phase der Kulturpolitik, in der die behauptete Kluft zwischen Kunst und Lesen durch Einbindung der Schriftsteller in den Produktionsprozess überwunden werden sollten. [nach AUST; In: Opitz, Michael / Hofmann, Michael (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH 2009, S. 41–43.]

[35] Vgl. Schnell 2003, S. 116–118.

[36] Vgl. ebd., S. 232–233.

[37] Deutscher Lyriker, Liedermacher und Systemkritiker der DDR [geb. 1936]. [nach BERENDSE; Opitz, Michael / Hofmann, Michael (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH 2009, S. 40–41.]

[38] Größte nicht staatlich gelenkte Demonstration in der Geschichte der DDR, die sich u.a. für die Rechte der Menschen, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit einsetzte. [Webseite zum 4. November 1989 vom Deutschen Historischen Museum; siehe Literaturverzeichnis]

[39] Vgl. Schnell 2003, S. 251.

[40] Vgl. Barck, Simone / Langermann, Martina / Lokatis, Siegfried: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. 2. Auflage. Berlin: Akademie-Verlag GmbH 1998, S. 12.

[41] Löffler, Dietrich: Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick. Berlin: Christoph Links Verlag GmbH 2011, S. 18.

[42] Vgl. ebd., S. 18–19.

[43] Vgl. Schnell 2003, S. 232.

[44] Vgl. Berbig, Roland: DDR-Literatur. In: Burdorf, Dieter / Fasbender, Christoph / Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH 2007, S. 141–142.

[45] Anhang 3: Zeitzeugeninterview Sigmar Faust, S. 4, Z. 1–2.

[46] Anhang 3: Zeitzeugeninterview Thomas Dahnert, S. 6, Z. 38–42.

[47] Vgl. Anhang 3: Zeitzeugeninterview Baldur Haase, S. 2, Z. 51–53 & S.3, Z. 17–18.

[48] Ebd., S. 1, Z. 18–19.

[49] Ebd., S. 1, Z. 27–31.

[50] Britischer Autor und Essayist [1903–1950]. Kritiker des Realsozialismus und des Totalitarismus, Befürworter des demokratischen Sozialismus und eines einheitlichen Europas. [nach LANGE; In: Kreutzer, Eberhard / Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren. Sonderausgabe. Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH 2010, S. 442–444.]

[51] Anhang 3: Zeitzeugeninterview Baldur Haase, S. 5, Z. 21–24.

[52] Ebd., S. 4, Z. 47–49 & S. 4, Z. 53 – S. 5, Z. 1.

[53] Ebd., S. 9, Z. 40–41.

[54] Ebd., S. 9, Z. 19–21.

[55] Übermittlung geheimer Nachrichten an feindliche Organisationen und feindliche Stellen (Vgl. Anhang 3: Zeitzeugeninterview Baldur Haase, S. 11, Z. 9–10).

[56] Ebd., S. 3, Z. 38–40.

[57] Vgl. ebd., S. 14, Z. 1–2.

[58] Vgl. ebd., S. 1, Z. 41–44.

[59] Vgl. Anhang 3: Zeitzeugeninterview Vera Lengsfeld, S. 1, Z. 11–12.

[60] Ebd., S. 1, Z. 12–16.

[61] Vgl. ebd., S. 1, Z. 16–18.

[62] Vgl. ebd., S. 1, Z. 32–33.

[63] Ebd., S. 3, Z. 2–4.

[64] Ebd., S. 3, Z. 8–9.

[65] Ebd., S. 3, Z. 27–40.

[66] Ebd., S. 4, Z. 7–9.

[67] Ebd., S. 4, Z. 33–37.

[68] Kleine, unabhängige Präsenzbibliotheken, zu deren Beständen verbotene Bücher gehörten und die sich eine Gesetzeslücke zunutze machten, die es erlaubte, verbotene Bücher in den Räumen des Besitzers zu lesen, nicht aber, sie mit nach Hause zu nehmen. (Online-Tagebuch der Mitglieder des publizistischen Netzwerks Die Achse des Guten; siehe Literaturverzeichnis).

[69] Vgl. Anhang 3: Zeitzeugeninterview Vera Lengsfeld, S. 4, Z. 42–43.

[70] 39. US-Präsident von 1977–1981. (Webseite Amerikanische Präsidenten; siehe Literaturverzeichnis).

[71] Österreichischer Essayist und Journalist [1912–1978]. Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Opfer des Nationalsozialismus. [nach STEMPEL; In: Killy, Walther (Hg.): Literaturlexikon - Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 1. Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH 1988, S. 130–132.].

[72] Deutscher Arzt und Wissenschaftspublizist [1921–1989]. [nach ARZT; In: Killy, Walther (Hg.): Literaturlexikon - Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 3. Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH 1988, S. 61–62.].

[73] Anhang 3: Zeitzeugeninterview Vera Lengsfeld, S. 5, Z. 14–20.

[74] Wochenzeitung der FDJ für Studenten

[75] Anhang 3: Zeitzeugeninterview Vera Lengsfeld, S. 5, Z. 42–44.

[76] Anhang 3: Zeitzeugeninterview Siegmar Faust, S. 1, Z. 17.

[77] US-amerikanischer Dichter [1819–1892]. Gilt als Begründer der modernen amerikanischen Dichtung. [Kurzbiografie auf der Webseite der Hanser Literaturverlage; siehe Literaturverzeichnis].

[78] Deutscher Philosoph [1898–1979]. [nach TRAUMTANN; Killy, Walther (Hg.): Literaturlexikon - Autoren und Werke deutscher Sprache. Band 7. Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH 1988, S. 481–482].

[79] Anhang 4: Zeitzeugeninterview Siegmar Faust, S. 1, Z. 36–48.

[80] Vgl. ebd., S. 3, Z. 9.

[81] Ebd., S. 3, Z. 47–49.

[82] Vgl. ebd., S. 4, Z. 1–2.

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Heimliches Lesen und Bücherschmuggel in der DDR
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
118
Katalognummer
V335646
ISBN (eBook)
9783668279575
ISBN (Buch)
9783668279582
Dateigröße
759 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
DDR, Bücherschmuggel, heimlich lesen, Lesen, Zensur
Arbeit zitieren
Juliane Bonkowski (Autor:in), 2015, Heimliches Lesen und Bücherschmuggel in der DDR, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335646

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Blick ins Buch
Titel: Heimliches Lesen und Bücherschmuggel in der DDR



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