Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
Neukölln und die Einwanderungsgesellschaft
2. Einleitung: „My Back & Coffee“ – Blick auf Zusammenhänge zwischen Umgangssprache, Werbesprache, Kiezsprache und Ethnolekt
3. Methodischer Ansatz dieser Betrachtung
3.1. Pragmatik
3.2. Semantik
3.3. Diskurshermeneutik und Mentalitätsforschung
4. „My Back & Coffee“: Das Deutsche im Kontext der Globalisierung und der Denglisch-Okkurenz
4.1. Das äußere Druckmoment
4.2. Das innere Druckmoment
4.3 Das Phänomen „Denglisch“
5. „My Back & Coffee“: Sprachinnovation als Ausdruck von Trendkommunikation
5.1 Textualität und Phrase
5.2. to go: Ein Sprachtrend und seine kurze Historie
5.3 „My Back & Coffee: Eine Sprachkritik im Hinblick auf ausgewählte Sprachnormen, Konversationsmaximen, werbesprachliche Funktionen
6. Zusammenfassung und Konklusion
7. Literaturverzeichnis
1. Vorbemerkung
Neukölln und die Einwanderungsgesellschaft
In Berlin leben 3,56 Millionen Menschen, davon sind 570 000 oder rund 16 Prozent nichtdeutsche Bewohner. Der Bezirk Neukölln hat fünf Ortsteile, der größte (neben Britz, Buckow, Rudow und Gropiusstadt) heißt ebenfalls Neukölln. Im Ortsteil Neukölln leben 167 000 Menschen, davon 55 700 Ausländer. Dies entspricht einem Anteil von 33 Prozent[1].
„Neukölln ist der größte Ortsteil von Berlin. Hier ist der höchste Anstieg in der Altersgruppe der 27- bis 45-Jährigen zu verzeichnen. Der Trend hält in Neukölln schon seit Jahren an. In den vergangenen fünf Jahren gab es dort laut Statistikamt ein Plus von mehr als 13 000 Einwohnern“, schreibt die Berliner Morgenpost[2].
Neukölln ist und bleibt also ein stark von Migrationsbewegungen und den von ihnen angestoßenen Veränderungs- und Problemkontexten geprägter Stadtbezirk – paradigmatisch für eine moderne europäische Einwanderungsgesellschaft. Stadtbild und Einzelhandelsangebot sind in den großen Einkaufsstraßen stark von muslimischen Einwanderungsgruppen geprägt. An einer der äußerst belebten Nord-Süd-Achsen durch den Bezirk, der insgesamt 2,6 Kilometer langen Hermannstraße, liegt das türkisch-deutsche Bistro und Schnellrestaurant „My Back & Coffee“. Der Schriftzug in serifenfreier Schrift ist neon-hinterleuchtet und gut sichtbar entlang der Fassade angebracht.
2. Einleitung: „My Back & Coffee“ – Blick auf Zusammenhänge zwischen Umgangssprache, Werbesprache, Kiezsprache und Ethnolekt
Diese Betrachtung widmet sich sprachreflexiv und -kritisch einer einzelnen kurzen Sentenz aus der Domäne Wirtschafts- und Unternehmenskommunikation. Die Textsorte wäre am ehesten als Werbeanzeige/-plakat oder werbende Außen- darstellung für den stationären Einzelhandel einzuordnen. Hinweisfunktion und Kundenattraktion überlagern sich, die Verwendung eines kaufmännischen „&“ zieht als ungewöhnliche Zeichensetzung besonderes Augenmerk auf sich.
Die statistisch-soziologischen, die multikulturellen, -ethnischen und -sprachlichen Zusammenhänge in einem lebensräumlichen Milieu wie Neukölln berücksichtigend, muss an dieser Stelle auf die sich überschneidenden, vor allem jedoch gegenseitig beeinflussenden und ergänzenden Wirkspektren von Alltags- oder Umgangssprache, von Elementen der Werbessprache, von Kiezsprache und ethnolektalen Varietäten hingeweisen werden.
Definitorisch und begrifflich wird zwischen Dialekt, Umgangssprache und Standardsprache unterschieden. Zentrales Merkmal ist die kommunikative Reichweite der jeweiligen Sprachform. Die Standardsprache als zumindest angenäherte mündliche Umsetzung des Schriftsprachlichen hat die größte Reichweite, Dialekte oder Mundartliches (im vorliegenden Falle potenziell das Berlinische) prägen nur einen engeren regionalen Raum und sind daher auch nur in dessen Grenzen komplett verständlich. In der Reichweite dazwischen liegen die Manifestationen von Alltags- und Umgangssprache, die die Regeln und Formationen des Hochsprachlichen verkürzt, verändert und neu zusammensetzt und auch die Anwendung nachlässiger und oder derber Ausdrucksweisen einschließt.
An dieser Nahtstelle ergibt sich auch der Übergang zum Jugendsprachlichen, das mit sprachkreativem, oft provokativem und schnellebig-kurzfristig integrierten Teilbegriffen und Lautmalerien aus anderen Sprachen auftritt. Neukölln mit seinem hohen Bevölkerungsanteil von Menschen unter 25 Jahren und mit gleichzeitig weit gefächertem kulturellen Hintergrund offeriert hier äußerst heterogene jugend- und straßensprachliche Konstruktionen. In diesen spiegeln sich gesellschaftliche Gruppenprofile und -sprechmodi, die jeweils ein Wir-Gefühl in Abgrenzung zu anderen, womöglich konkurrierenden ‚Wir-Gefühlen’ ermöglichen. Durch eine längere Existenz fester gefügte, echte Gruppensprachen oder Soziolekte werden infolge der urbanen sozialen Struktur Neuköllns eher verhindert. Es kommt zu jeweils schnell aufeinander folgenden Trends oder Moden, die hybride Artikulationsmuster fördern.
„Abgesehen von den Verbindungen zweier oder mehrerer Sprachen verwenden viele Jugendliche eine Sprechweise, eine ethnolektale Varietät, deren deutschsprachige Anteile bestimmte grammatische, lexikalische und phonetisch-prosodische Merkmale aufweisen, die das Deutsche verfremden und die Sprecher als nicht-deutsch erscheinen lassen. Die Bennenung dieser recht neuen Sprachvarietät ist vielfältig: Neben Bezeichnungen wie ‚Türken-Deutsch’ und ’Türkenslang’ finden Ausdrücke wie ‚Kanak Sprak’, ‚Ghettosprache’, ‚Mischsprache’ und ‚Lan-Sprache’ Verwendung. Empirischen Untersuchungen zufolge kennzeichnet diese Varietät aber eben nicht nur das Sprachverhalten von Migrantennachkommen, sondern hat auch einen beträchtlichen Einfluss auf die Sprachpraxis der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Durch … den Kontakt mit anderen sprachlichen und kulturellen Ausprägungen verändert sich das sprachliche Repertoire der Zugewanderten und auch der Ansässigen“[3].
„Ethnolekt: Mussu lernen“, betitelte der Berliner „Tagesspiegel“ (4) ein Feuilleton zum Thema Jugendsprache. Zitiert wird darin die Germanistin Heike Wiese von der Universität Potsdam, die den türkisch-deutschen Mixsprech Neuköllner Jugendlicher nicht als Ethnolekt, sondern als „Kiezdeutsch“ bezeichnet: „Er wird von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gesprochen, die hier geboren sind, aber auch deutscher Herkunft sein können. Gemeinsam haben sie diese Sprache entwickelt.“ Typisch für sie sei „die spezielle Stakkato-Intonation“ und das Weglassen von Artikeln oder Präpositionen wie in „Isch geh gleisch Bibliothek“[4].
Mit sprachlicher Inkompetenz habe dies nichts zun tun, sagt die Linguistin Maria Pohle vom Lehrstuhl der deutschen Sprache der Gegenwart der Universität Potsdam. Sie will „das sogenannte Kiezdeutsch als echte Ressource und modernes sprachliches Phänomen“ verstanden wissen[5]. In einem Interview mit den „Deutsch-Türkischen Nachrichten“ spricht sich Pohle dafür aus, das Kiezdeutsch in den deutschen Schulunterricht zu holen: „Natürlich sollten sowohl diese spezielle Jugendsprache als auch die Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schülern im Allgemeinen unbedingt im Unterricht aufgegriffen werden“[6]. Mittlerweile sei es so, dass Schüler „mit Migrationshintergrund in der dritten und vierten Generation hier leben“ und im Grunde „mehrere Muttersprachen“ hätten. Der Jugendjargon in bestimmten multikulturell bestimmten Berliner Stadtbezirken orientiere in beide Richtungen: Immer mehr deutsch-sprachige Jugendliche integrierten türkischen „Einwanderer-Slang“ in ihren Jargon. Kiezdeutsch besitze eine reduzierte Grammatik und sei in Lexik und Wortstellung von mehreren anderen Sprachen beeinflusst. Pohle sieht in seiner anhaltenden Existenz „ein Zeichen jugendlicher Solidarität“[7].
Die Aktualität der Wanderungsbewegungen nach Europa und Deutschland bringt nicht nur Migranten und Flüchtlinge in das Land, sondern auch deren Vielfalt an Sprachen, konkreter: Sprechnormen und Schreibformen. Direkte oder vermittelte Wirkungen und Einflüsse gibt es also für die langue wie auch die parole. Der Blick auf den allein deutsch-türkischen-Sprachenmix von jugendlichen Deutschen und Deutsch-Türken im Kiez ist daher in jüngerer Zeit – gerade im Zuwanderer-Milieu Neukölln – nicht mehr ausreichend. Er ist zu eng geworden. Einwanderergruppen aus EU-Ländern (nicht zuletzt die größte Gruppe unter ihnen: Polen) und Migranten aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten wie Afghanistan, Irak, aus Nordafrika und in den jüngsten Monaten aus dem Bürgerkriegsland Syrien haben den deutsch-türkischen Sprachmix des Kiez-Alltags mit englischen und arabischen Termini und Hybridbildungen ergänzt oder mit speziellen phonetischen Phänomenen versehen. Da viele Migrantengruppen neben ihrer Muttersprache allerhöchstens Englisch-Kenntnisse in ihre erste Zeit im Zufluchts- oder Einwanderungsland Deutschland mitbringen, stellt sich auf dieses erweitere Kundenprofil vor allem der flexibel aufgestellte, multikulturell-sozialisierte, kleine, inhabergeführte Einzelhandel – wie er für den Kiez Neukölln typisch ist – schnell darauf ein. Mit in diesen soziolinguistischen Betrachtungs- und Bewertungskontext gehört auch – „My Back & Coffee“.
Damit kommt das Feld des Werbesprachlichen mit ins Visier. Dieses ist zwar angeregt von vorhandenen persuasiven Mustern und Vorbildern überregionaler „Wortbildhauerei“[8], zeigt sich aber doch gebettet in spezifische Existenzbedingungen im lokalen Raum Neukölln. Deutlich wird: Werbesprache dient auch dazu, „die Sprache des Umworbenen zu finden und in ihr zu ihm zu sprechen“[9].
Ein gutes Beispiel für den schnellen Zugriff auf jugend- und umgangssprachliche Entwicklungen ist die Kurzsatz-Werbestrategie der Media-Saturn Holding GmbH. Saturn wirbt (2015) mit „Soo! muss Technik!“ und nimmt damit morphologisch wie grammatikalisch Verkürzungs- und Verformungsimperative aus dem Kiezdeutsch auf. Damit wird dann eine viel größere Öffentlichkeit vertraut gemacht, denn beworben wird mit dieser zweckorientierten Aneigung ja die nationale (sowie deutschsprachig-transnationale) Kundschaft über Printmedien, Fernsehen, Radio und Netz. Werbesprache greift also zeilgerichtet selektiv in Varietäten wie Alltags- oder Jugendsprache ein: Einerseits nutzt sie diese als Anregungsfeld für neue, noch ungewohnte Kundenansprache, andererseits liefert sie durch breite Vervielfältigung des sprachspielerisch Angeeigneten neues Material für den Wortschatz der Gesamtgesellschaft, für Kommunikationstrends und modische Redewendungen. Über allem gilt jedoch: „Varietäten in der Werbung sind immer inszeniert, die Kommunikationssituation wird imitiert, man ‚tut so, als ob’“[10]. Die Assoziationen rund um den narrativen Diskurs, der mit „Soo! muss Technik!“ abgerufen wird, verweisen zudem auf eine Einsicht von Hansruedi Spoerri: Es sei nicht auszuschließen, „dass der Diskurs wegen der Kondensierungsmöglichkeit den Umfang eines Satzes haben kann“[11].
3. Methodischer Ansatz dieser Betrachtung
3.1. Pragmatik
Die Pragmatik beschäftigt sich mit der Interpretation von Zeichen auf der Benutzer- und Empfängerseite bei konkreten sprachlichen Akten. Damit steht die Kommunikationshandlung zur Debatte, die ein Sender einsetzt, im Falle des vorliegenden Beispiels: die Hybridbildung von „My Back & Coffee“ als Teil der Außenwerbung im Einzelhandel. Pragmatik untersucht Sprachgebrauch und Sprachabsicht auf gesellschaftliche und soziokulturelle Rahmenbedingungen hin. Sprachmuster können mit Hilfe der Pragmatik auf wesentliche Funktionen hin seziert werden: auf ihre Fähigkeit, außer der jeweiligen inhaltlichen Vermittlung auch Gefühle zum Ausdruck zu bringen, zum anderen auf ihre Fähigkeit, beim Angesprochenen eine bestimmte Reaktion hervorzurufen.
3.2. Semantik
Die Semantik untersucht die Bedeutung sprachlicher Zeichen, beschreibt und erklärt sie. Die Betrachtung der Wortbedeutung im Falle der zu untersuchenden Sentenz ist umso mehr nötig, als hier eine deutsch-englische Sprachmixtur zur Debatte steht, die zwar phänotypisch geschlossen auftritt – insoweit wie ein Marketing-Symbol in Zeiten der populär gewordenen „Coffee to go“-Phrase –, intern jedoch mit großen Verständnisfriktionen und –irritationen aufwartet. Kommunikationskritisch stehen demzufolge nicht zuletzt Sprachqualitäten wie Verständlichkeit, Leserfreundlichkeit, Simplizität, Sprachkorrekheit oder Persuasivität im Blickpunkt.
3.3. Diskurshermeneutik und Mentalitätsforschung
Ebenfalls von prägender Bedeutung sind Ansätze aus der kritischen Diskurshermeneutik. Über Spracheinflüsse und –beeinflussung vermittelte Zusammenhänge zwischen philosophisch-weltanschaulichen, religiösen, politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen, ästhetisch-lebensweltlichen Defintionen benötigen ein Vorgehen, das pragmatische und hermeneutische Perspektiven zusammenführt. Bezug wird im Folgenden daher auf Fritz Hermanns’ linguistische Mentalitätsgeschichte genommen. Hermanns hat die Diskurslinguistik mit seiner Analyseperspektive maßgeblich bereichert. Ihm ging es darum, kollektive mentale Dispositionen in Sprache und Gesellschaft herauszuarbeiten.
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[1] Alle Angaben aus 2014 und 2015: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, www.statistik-berlin-brandenburg.de
[2] Berliner Morgenpost/MoPo-Online vom 18.02.2014, www.morgenpost.de
[3] Tanja Bücker: Ethnolektale Varietäten des Deutschen im Sprachgebrauch Jugendlicher. Studentische Arbeitspapiere zu Sprache und Interaktion, Universität Münster, Nordrhein-Westfalen, Heft 09/2007, www.noam.uni-muenster.de/SASI
[4] Der Tagesspiegel online, Artikel von Hadija Haruna, 03.12.2015, www.tagesspiegel.de
[5] Deutsch-Türkische Nachrichten, Unabhänige Zeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur. Online-Portal, Artikel vom 05.11.2015, www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de
[6] Deutsch-Türkische Nachrichten, Unabhänige Zeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur. Online-Portal, Artikel vom 05.11.2015, www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de
[7] Ebd.
[8] Sahihi, Arman/Baumann, Hans-D.: Kauf mich! Werbewirkung durch Sprache und Schrift, Weinheim 1987, S.54.
[9] Ebd.
[10] Janich, Nina: Werbesprache. Ein Arbeitsbuch, Tübingen 2005, S.37
[11] Spörri, Hansruedi: Werbung und Topik. Textanalyse und Diskurskritik, Ffm 1993, S. 14