Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft in Theorie und Praxis


Bachelorarbeit, 2016

50 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Begriffe Biographie, Biographisierung, Biographizität
2.1 Begriff der Biographie
2.2 Begriff Biographisierung
2.3 Begriff Biographizität
2.4 Gesellschaft und Biographie
2.5 Begriff der Wahrheit in der Biographieforschung
2.6 Geschichte der Biographieforschung

3 Methodologische und konzeptionelle Problemlagen der Biographieforschung
3.1 Methoden der Biographieforschung
3.2 Das narrative Interview
3.3 Merkmale des narrativen Interviews
3.4 Verlauf des narrativen Interviews
3.5 Analyseschritte des narrativen Interviews

4 Biographieforschung und Erziehungswissenschaft
4.1 PädagogInnen und die Biographiearbeit
4.2 Biographische Arbeit in der Schule
4.3 Lebenslanges Lernen und Biographie

5 Biographieforschung in der Praxis
5.1 Analyse der Biographischen Übungen von Rogal
5.2 Narratives Interview mit Frau H

6 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einführung

In der heutigen Zeit ist es aufgrund der immer stärker aufkommenden Individualisierung und Enttraditionalisierung erforderlich, sein eigenes Leben selbst in die Hand zu nehmen. Jeder Mensch hat heutzutage die Möglichkeit, sein eigenes Leben und seine Biographie selbst zu gestalten, ohne zugleich den gesellschaftlichen Normen und Werten entsagen zu müssen. Biographie kann als Projekt des ganzen Lebens bezeichnet werden. Durch die zunehmende Individualisierung und Veränderung von Normen und Werten ist es daher von Bedeutung zu analysieren, wie Menschen ihre eigene Biographie gestalten, welche Bewältigungsstrategien sie im eigenen Leben haben, welche Wirkung das Sozium auf das Individuum hat, wie sich individuelle und soziale Strukturen vereinbaren lassen, usw. (vgl. Egger 2009, S. 2).

ÄOft wenden wir uns solchen Elementen unseres biographischen Hintergrundwissens erst dann zu, wenn wir ins Stolpern geraten, an eine Kreuzung gelangt sind oder sogar das Gefühl haben, den Boden unter den Füßen zu verlieren.“ (ebd, S. 10).

Die Vorstellung, dass die Menschen eine Biographie haben, findet sich bereits in den antiken Lebensbeschreibungen. Hier werden ideale Charaktertypen präsentiert, welche didaktische Funktion haben (vgl. Alheit 2008, S. 17). Alheit beschreibt somit die biographische Handlungsautonomie, was die Äbewusste Veränderung des Selbst- und Weltbezugs“ (ebd., S. 21) bedeutet.

Mit der europäischen Moderne ändert sich die Situation. ÄNeben die Darstellung von Heiligen und Mächtigen tritt zunächst ein unübersehbares Interesse an der Beschreibung bemerkenswerter, ja sogar anstößiger Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens.“ (ebd., S. 17).

Erziehungswissenschaft und Biographieforschung entstammen derselben historischen Ausgangssituation. Beide gehen aus den gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu Beginn der Neuzeit in Europa hervor und in beiden tritt ein Interesse an Aufklärung und Bildung der Menschen, an der Entfaltung ihrer Kräfte und an der Vielfalt ihrer Lebensentwürfe in Erscheinung: ÄLeben lernen“ (Rousseau), ÄMensch werden“ (Kant), ÄEntwicklung der persönlichen Eigentümlichkeit“ (Schleiermacher). Das war gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Dann aber gingen beide lange Zeit getrennte Wege. Erst in einer langsamen und schrittweisen Annäherung trafen sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zusammen (vgl. Schulze 2006a, S. 49).

Aufgrund dieser theoretischen Basis stellen sich die Fragen, was Biographie ist und wovon sie berichtet. Zudem soll herausgefunden werden, welchen Nutzen die Biographie sowohl für die Erziehungswissenschaft als auch für jeden Einzelnen hat. Diese und ähnliche Fragen werden auf den nächsten Seiten untersucht, um anhand verschiedenster Theorien von ausgewählten AutorInnen und WissenschaftlerInnen eine möglichst adäquate Antwort geben zu können. Wie bereits erwähnt, ist die Biographieforschung keineswegs ein neues Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft, Psychologie oder Soziologie, auch wenn sie in einer biographisch orientierten Kindheitsforschung vor allem seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einen enormen Aufschwung erlebt. Vielmehr ist die Sammlung und Auswertung von Autobiographien als entwicklungspsychologisch und pädagogisch bedeutsame Quelle so alt wie die Erziehungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin selbst.

2 Begriffe Biographie, Biographisierung, Biographizität

2.1 Begriff der Biographie

Das Wort Biographie bedeutet somit wörtlich Lebensbeschreibung und meint Biographie als Text. Zugleich wird mit diesem Wort jedoch auch das, was beschrieben wird, bezeichnet. Mit diesem Begriff wird die Lebenswirklichkeit eines Menschen gemeint. Biographie als Text hat im Laufe der Geschichte zwei verschiedene Grundformen - die Biographie und die Autobiographie. Eine Biographie ist ein Text, in dem eine Geschichte erzählt wird. Sie hat also narrativen Charakter. Sie erzählt eine Geschichte, die eine zeitliche Folge von Ereignissen umfasst, welche aufeinander bezogen sind. Sie haben einen Anfang und ein Ende. Diese Erzählung beinhaltet keinen fiktiven, sondern einen realen Charakter, d.h. sie bezieht sich auf eine Person, die wirklich lebt oder gelebt hat. In der Biographie liegt der Schwerpunkt auf einem einzigen Menschen, auf seiner Geschichte, seinen Erfahrungen (vgl. Schulze 2006a, S. 37).

Der Begriff Biographie umfasst sich selbst, die Autobiographie, den Lebenslauf und auch die Lebensgeschichte einer Person sowie auch ÄIdentität“ oder ÄLernen“ (vgl. ebd., S. 38).

Biographie als Realität hat eine äußere und eine innere Seite. Von außen betrachtet, wird Biographie als Bewegung, als ein ÄLebenslauf“, angesehen. Von innen betrachtet, erscheint Biographie als Erfahrungszusammenhang, als Ansammlung und Aufschichtung von einzelnen Erfahrungen, von Lebenserfahrungen. Als Lebenserfahrungen werden Erkenntnis- und Steuerungsleistungen besonderer Art bezeichnet (vgl. ebd., S. 40).

In der Biographie steht somit neben dem äußeren biographischen auch immer ein innerer subjektiver Faktor mit persönlichen Wahrnehmungen und Weltdeutungen:

ÄWir denken dabei allerdings zunächst vor allem an die Bemühungen des Subjekts, sich seine Biographie so zu gestalten, dass sie seinen Ansprüchen und Wunschvorstellungen entspricht und darin (vor allem) den Vorstellungen, Phantasien über die Erwartungen und Ansprüche der anderen, der Leser, für die das Subjekt schreibt - also: die ‚Lüge‘. Die Lüge tritt hier jedoch mit einem anderen Status auf, als demjenigen, den wir ihr gewöhnlich zuschreiben. Sie tritt hier als dasjenige auf, was die weiß gebliebenen Kapitel besetzt hält. Es handelt sich hier nicht darum, ‚bewusst die Unwahrheit zu sagen‘ - dies können wir in diesem Fall, in dem es um die Definition des Unbewussten geht, gar nicht, weil wir die Wahrheit selbst nicht kennen. Wir haben stattdessen nur eine weiß gebliebene Stelle“ (Bruder 2010, S.74).

Außerdem verlangt die Biographie von dem/der Schreibenden bzw. Erzählenden viel Übung und die bewusste Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Lebensraum:

ÄDie Biographie selbst, die Fähigkeit bzw. Praxis, seine Biographie zu schreiben/zu erzählen, ist ebenfalls das Produkt einer Einübung, eines langen Trainings, das spätestens mit der Romantik (in England, Deutschland usw.) begann. Die Erfindung bzw. Entdeckung des Unbewussten aber war bereits eine Verschiebung ins Innere, eine Unbewusst-Machung dessen, was uns von außen, im Außen ‚steuert‘, der ‚Macht‘, die unser Sprechen, Denken und Handeln bestimmt“ (Bruder 2010, S. 71).

Heufers (vgl. 2015, S. 14) hält fest, dass Biographie ein Phänomen darstellt, welches immer an sozialwissenschaftliche und subjektwissenschaftliche Faktoren gebunden ist. Die Subjektivität ist somit der zentrale Punkt der biographischen Forschung und darf nicht mit der Individualität verwechselt werden.

ÄBiografieforschung (biografische Forschung, biografische Methode) thematisiert jedoch nicht nur idiografisch einzelne Individuen und deren Lebensweg, sondern sucht durch den Vergleich von Biografien nach Regelmäßigkeiten, die zur Erklärung personenbezogener und gesellschaftlicher Phänomene dienen können“ (Bortz/Döring 2006, S. 347).

In der Biographieforschung werden meist biographische Materialien benutzt. Biographisches Material kann im Alltag in verschiedenen Formen wie Briefen, Tagebüchern, Terminkalendern, Reisereportagen uvm. erzeugt werden. Es kann von den Betroffenen selbst stammen oder von Außenstehenden in mündlicher oder schriftlicher Form vorliegen. Biographisches Material aus dem literarischen oder journalistischen Bereich ist nicht für wissenschaftliche Zwecke geeignet, da es eigenen Gestaltungskriterien unterliegt (sowohl Dichtung als auch Wahrheit werden benutzt). Die Biographieforschung arbeitet meist mit biographischem Material, das erst auf Veranlassung des/der Forschenden unter kontrollierten Bedingungen erstellt wird. Üblicherweise werden offene oder teilstrukturierte Methoden der mündlichen oder schriftlichen Befragung benutzt. Narrative Interviews, Leitfadeninterviews, Tagebuchmethoden, bei denen die Personen über längere Zeit begleitet werden, spielen daher für die Biographieforschung eine wichtige Rolle, um retrospektiv ganze Lebensgeschichten zu erfahren. Auch Längsschnittstudien, bei denen Individuen über längere Zeit begleitet und in festen Abständen wiederholt untersucht werden, sind für die Biographieforschung von Bedeutung. Alle Biographien haben etwas gemeinsam. Jede Biographie ist durch ein Ablaufmuster gekennzeichnet (Kindergarten, Schule, Ausbildung, usw.). Jedoch geht jeder Mensch ganz unterschiedlich mit den Herausforderungen, die auf ihn zukommen, um und hat bestimmte Handlungsmuster, die von der Erziehung und dem Milieu, in dem er aufwächst, abhängen. So können in jeder Biographie Ähnlichkeiten mit anderen Biographien, aber auch etwas Einzigartiges, etwas was diesen Menschen von den anderen unterscheidet, gefunden werden (vgl. Bortz/Döring 2006, S. 347).

2.2 Begriff Biographisierung

Neben dem Begriff Biographie spielen auch die Begriffe Biographisierung und Biographizität eine bedeutende Rolle in der Biographieforschung.

ÄDer Begriff der Biographisierung verweist auf die evolutionäre Dimension der Biographie“ (Schulze 2006a, S. 47).

Einhergehend mit der Diskussion um Individualisierungsprozesse in der modernen Gesellschaft wurde der Begriff Biographisierung geprägt, welcher auf die evolutionäre Dimension der Biographie referiert (vgl. ebd., S. 47). Biographisierung ist stets im Zusammenhang mit dem Individuum in der Gesellschaft zu betrachten. Es sind somit einerseits das Individuum, andererseits die Bindungen und Traditionen von Bedeutung. Der Begriff bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen so etwas wie Biographie möglich und wirklich wird, und er bringt zugleich zum Ausdruck, dass diese Bedingungen nicht einfach gegeben sind und feststehen, sondern sich ständig erweitern und verändern. Er lenkt den Blick auf die Gattungsgeschichte, auf die evolutionäre Dimension der Biographie (vgl. ebd., S. 47).

2.3 Begriff Biographizität

Der Begriff Biographizität stammt aus dem Graeco-Latinismus und bedeutet Leben (bios), beschreiben (graphien) und machen (facere). Unter Biographizität wird somit der Zwang und zugleich die Chance, sein eigenes Leben zu gestalten, verstanden (vgl. Alheit 2008, S. 22).

ÄWir alle lernen durch Impulse von außen, die die Neurobiologen ‚Perturbationen‘ nennen. Aber wir übernehmen eben nicht zwangsläufig den mit diesen Impulsen im Allgemeinen verknüpften ‚Sinn‘, sondern erfinden aktiv unsere sehr ‚eigensinnige‘ Verarbeitung, die gerade mit unseren Erfahrungen zu tun hat“ (ebd., S. 22).

Biographizität verlangt, persönliche Erfahrungen zu reflektieren und Probleme aktiv zu bewältigen. Menschen lernen durch Erfahrungen, die sie gemacht haben, mit der Außenwelt umzugehen. Biographizität beschreibt somit einen persönlichen Code, mit dessen Hilfe Erfahrungen erschlossen werden. Das Lernen kann daher auch als Äbiographisches Lernen“ bezeichnet werden, da jeder Lernprozess ähnlich funktioniert (vgl. ebd., S. 22f.).

Ä‚Biographizität‘ ist gleichsam der persönliche Code, mit dem wir uns neue Erfahrungen erschließen - wenn man so will: unsere je eigene Erfahrungssprache, in die wir herausfordernd Neues gleichsam ‚übersetzen‘ müssen, um damit umgehen zu können.“ (Alheit 2009, S. 79).

In der Tat dienen bereits bekannte Inhalte als Stütze, um etwas Neues zu erlernen. Es muss das neu Erlernte mit dem Alten verknüpft, ein Sinnzusammenhang erst hergestellt werden. Es bedeutet sozusagen, dass das Bekannte im Unbekannten gefunden werden muss, also die neuen Inhalte anhand alter Wissensbestände entschlüsselt werden). Für PädagogInnen bedeutet dies, dass sie vor der Aufgabe stehen, die SchülerInnen in Gruppen zu differenzieren und jede einzelne Gruppe auf unterschiedliche Art zu motivieren, sie pädagogisch zu Äindividualisieren“ (vgl. ebd., S. 23). Schulze (vgl. 2006a, S. 43) erklärt, dass unter Biographizität eine zusätzliche Ressource verstanden wird. Das biographische Potential bildet sich unbewusst. Biographizität bedeutet bewusste Anstrengungen über Bedingungen, Voraussetzungen, Ansprüche des Lebens aufzuklären. Diese Anstrengung kann vom Individuum selbst ausgehen, indem es z.B. ein Tagebuch schreibt und auf diese Weise sein eigenes Leben erarbeitet (vgl. ebd., S. 43).

Innerhalb des biographischen Prozesses gibt es Lebensentwürfe, Entscheidungen, die das Leben eine wichtige Rolle spielen. Doch die Struktur von jedem Lebenslauf unterscheidet sich von den geplanten Handlungen (vgl. ebd., S. 43).

Das biographische Potential ist keine ÄBiographie in der Gesellschaft“, sondern ein Konstrukt anderer Art, ein Handlungsschema, aber auch kein soziales Ordnungsschema oder Ablaufmuster (vgl. ebd., S. 43).

2.4 Gesellschaft und Biographie

Die Biographie ist sehr eng mit der Gesellschaft verbunden. Viele Entscheidungen werden vom Individuum getroffen, weil sie gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen. Seit ihrer Geburt werden die Menschen nicht nur erzogen, sondern sie sind Teil des Sozialisierungsprozesses. Dies bedeutet, dass sie durch ihre eigene Familie und soziale Strukturen geprägt werden, was in ihre biographische Kompetenz einfließt. Die biographische Kompetenz ist ein bedeutender Sozialisationsinhalt in den Bildungseinrichtungen (vgl. Sackmann 2007, S. 55).

Eine Biographie wird als Produkt der zugehörigen Gesellschaft gesehen. Sie hat ihre Wurzeln in einer Sozialstruktur (vgl. Heufers 2015, S. 43). Es kann daher gesagt werden, dass die Biographieforschung im Zusammenhang mit der Sozialwissenschaft gesehen werden muss, da jedes Individuum untrennbar mit der Gesellschaft verbunden ist. Bereits in der Kindheit wird den Menschen vermittelt, wie sie sich zu verhalten haben und auch im Erwachsenenalter müssen sie sich an den gängigen Wert- und Normvorstellungen orientieren. Zudem erscheint es laut Krüger sinnbringend zu sein, Äeinen künstlichen Gegensatz zwischen einer sozialwissenschaftlichen Biographieforschung, die sich für eine Verallgemeinerbarkeit mindestens einer Typenbildung interessiert und einer pädagogischen Biographieforschung, in deren Zentrum die Analyse des Einzelfalls steht, (…) zu konstruieren, da sich auch die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung den Qualitätsstandards qualitativer Sozialforschung und dem Problem der Generalisierbarkeit ihrer Aussagen stellen muss“ (Krüger 2006, S. 27).

2.5 Begriff der Wahrheit in der Biographieforschung

Neben der Frage nach der Beziehung von Gesellschaft und Biographie beschäftigt sich die Biographieforschung ebenso mit dem Wahrheitsgehalt der jeweiligen Erzählungen:

ÄIn der Arbeit mit Biographien taucht immer wieder der Begriff Wahrheit, der faktischen Richtigkeit der erzählten Geschichte auf. Haben die Ereignisse, Situationen, Erlebnisse auch tatsächlich so stattgefunden, wie sie im Interview präsentiert werden, oder sind sie erfunden, halb gelogen, sind sie Ausdruck eines permanenten Image- Managements, das uns die BiographieträgerInnen anbieten?“ (Egger 2009, S. 4).

Es kann angemerkt werden, dass es in den ersten biographischen Studien in der Tat das Ziel war, Äreale“ Lebensgeschichten zu erforschen. Die Erzählungen wurden anfangs mit Dokumenten verglichen, während mittlerweile das Interesse den Sinnkonstruktionen von Individuen und der Frage, ob das Interview der Wirklichkeit entspricht, gilt. Bei den biographischen Forschungsansätzen wird davon ausgegangen, dass die Erinnerungen des/der Erzählers/Erzählerin bereits seiner/ihrer Realität entsprechen. BiographieforscherInnen vertreten genau diese Interpretation, da so offensichtlich ist, welchen Ereignissen der/die ErzählerIn besonderen Sinn verleiht. Es geht somit nicht um die Realität des Lebenslaufs, sondern um seine Deutung (vgl. Heufers 2010, S. 53).

Nach Schulze (vgl. 2006a, S. 41) sind die Erinnerungen eines Menschen nicht zufällig, sondern im Gedächtnis vorsortiert. Es kommen stets jene Dinge als Erstes ins Gedächtnis, die als besonders relevant erachtet werden und stark mit unserer Identität verbunden sind.

ÄEs ist sicher nicht so, dass die Biographie erst im Erzählen oder Schreiben entsteht oder erfunden wird. Jede autobiographische Erzählung greift auf Erinnerungen zurück, und Erinnerungen bilden sich absichtslos im Verlauf des Lebens heraus. Sie werden vom Erzähler vorgefunden, nicht erfunden. Jeder erzählten Lebensgeschichte geht ein gelebtes Leben voraus. Und es ist auch nicht so, dass die Lebensgeschichte erst im Erzählen oder Aufschreiben entsteht. Sie könnte gar nicht erzählt werden, wenn sie nicht schon in Umrissen und wichtigen Einzelheiten und Wendungen im Gedächtnis bereit läge“ (Schulze 2006a, S. 41).

Demnach ist das, was wir erzählen möchten, schon unbewusst vorbereitet. Inhalt der Erzählung und Erzählweise des/der Sprechenden sagen somit viel über die Person selbst aus.

ÄDer biographische Prozess wächst aus dem Dunkel der Unbewusstheit hervor; die autobiographische Darstellung dieses Prozesses dagegen setzt immer schon die hellen Momente bewussten Erinnerns voraus.“ (ebd., S. 41). Dies bedeutet, dass wir einerseits unsere Lebensgeschichte spontan erzählen, jedoch andererseits diese Spontanität auch nicht zufällig auftritt, sondern auf unseren persönlichen Prioritäten und bedeutenden Erinnerungen beruht (vgl. ebd., S .41).

2.6 Geschichte der Biographieforschung

Die Biographieforschung ist nicht nur ein wichtiges methodisches Forschungsdesign in der qualitativen erziehungswissenschaftlichen Forschung, sondern hat auch Anregungspotentiale für die theoretische Weiterentwicklung der allgemeinen Erziehungswissenschaft (vgl. Krüger/Marotzki 2006, S. 8). Der Miteinbezug der Biographie eröffnet die Möglichkeit, Lern- und Bildungsprozesse im Spannungsfeld subjektiver und objektiver Analysen zu erfassen. Die Fragen des Subjekts, des Verhältnisses von Lernen und Bildung, der Orientierung der Innerwelt und der Transformationen von Werten sind für die Biographieforschung zentral (vgl. ebd., S. 8).

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Biographien lässt sich auf das 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Pädagogik war neben der Literaturwissenschaft, der Historiographie und der Philosophie an der Begründung der Biographieforschung maßgeblich beteiligt (vgl. Krüger/Marotzki 2006, S. 15). ÄLebensläufe und Autobiographien bilden daher neben der Beobachtung von Kindern eine der empirischen Grundlagen modernen pädagogischen Denkens, die im 18. Jahrhundert formuliert werden.“ (ebd., S. 15). Schon Klassiker der Pädagogik wie Rousseau, Pestalozzi und Fröbel haben ihre eigenen Erfahrungen in autobiographischen Erziehungsromanen und Tagebüchern dokumentiert. Zudem sind die autobiographischen Einflüsse auch in ihren pädagogischen Schriften zu finden (vgl. Göppel 1997, zit. nach Stiller 1999, S. 186).

Eine neue Blütezeit hat die Biographieforschung in der Pädagogik und Psychologie im deutschsprachigen Raum in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebt. Den VertreterInnen der Pädagogischen Psychologie und der Entwicklungspsychologie Clara und William Stern gelang es, die biographische Methode für die Psychologie und Pädagogik fruchtbar zu machen. Zudem sammelte Charlotte Bühler Tagebücher und untersuchte diese Quellen unter generationenvergleichender Perspektive und im Kontext einer Psychologie des Lebenslaufes (vgl. Krüger/Marotzki 2006, S. 15).

In den 1960er Jahren wurden einige methodologisch-programmatische Beiträge zur pädagogischen Biographieforschung veröffentlicht und Hennigsen betonte die Relevanz der Autobiographie als Gegenstand der Erziehungswissenschaft, da sie einen Einblick in vergangenes pädagogisches Geschehen ermöglicht (vgl. Schulze 1999, S. 186). Außerdem standen in den 1960er und frühen 1970er Jahren die quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung im Vordergrund. In der Erziehungswissenschaft wurde biographischen Ansätzen jedoch noch keine Relevanz beigemessen. Zur selben Zeit kam es in mehreren Ländern, unter anderem den USA und Frankreich, parallel zu einer Renaissance der Biographieforschung. Dieses Interesse kann auf den Individualisierungsprozess der modernen Gesellschaft zurückgeführt werden (vgl. Krüger/Marotzki 2006., S. 16). In den Sozialwissenschaften entwickelte sich parallel dazu die Lebenslaufforschung, in der Geschichtswissenschaft die Äoral history“. Im Jahr 1978 wurde von einer Arbeitsgruppe eine Tagung zum Thema Biographie auf dem 6. Kongress der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft veranstaltet (vgl. Schulze 1999, S. 186). Im darauffolgenden Jahr wurde ein Sammelband mit dem Titel ÄAus Geschichten lernen“ von Baacke/ Schulze herausgegeben. In dieser Publikation wurden die Bezugsrahmen für die Ausarbeitung einer biographischen und narrativen Orientierung in der Pädagogik formuliert und es wurde darauf verwiesen, dass Lebensgeschichten auch Lerngeschichten sind (vgl. Krüger/Marotzki 2006., S. 16).

Heutzutage kann die Biographieforschung in zahlreiche Bereiche eingeteilt werden. Somit wird unterschieden zwischen:

1. Biographisch orientierte historische Erziehungs-, Sozialisations- und Wissenschaftsforschung: Autobiographien werden als Quelle zur Geschichte der Erziehung und Sozialisation genutzt.

2. Studien zu Kinder-, Jugend- und Studentenbiographien: Einerseits steht die Beschäftigung mit generellen Fragen vom Kinder- und Jugendalter im Vordergrund, andererseits werden Übergangsphasen z.B. vom Kindergarten in die Schule analysiert.

3. Biographische Studien in unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen (vgl. Krüger/Marotzki 2006, S. 23).

3 Methodologische und konzeptionelle Problemlagen der Biographieforschung Zieht man eine Bilanz zum aktuellen Entwicklungsstand der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, so lässt sich feststellen, dass gegenwärtig - ähnlich wie in der soziologischen oder psychologischen Biographieforschung - nicht mehr programmatische Vorschläge und methodologische Begründungen, sondern empirische Zugänge und Konkretisierungen dominieren. Allerdings hat die Steigerung der Quantität der durchgeführten biographischen Projekte keineswegs eine generelle Verbesserung der methodischen Qualität der Untersuchungen zur Folge. Die menschliche Geschichte, das menschliche Leben, kann als ein Prozess bezeichnet werden, im Wesentlichen auch als ein Lernprozess. Das menschliche Leben läuft nicht nach Gesetzlichkeit oder Bestimmung, sondern wird von vielen Faktoren wie gesellschaftlichen Vorgaben, Regeln, Beschränkungen, Wachstumskrisen uvm. beeinflusst (vgl. ebd., S. 39).

Das Wissen in der Biographie unterscheidet sich in einigen Punkten vom Fachwissen. Es bleibt oft an die Anlässe und Umstände gebunden. Es speichert nicht nur Fakten, sondern auch Emotionen, die mit Ereignissen verbunden sind. Lebenserfahrung entsteht in der individuellen Erfahrung des Subjekts mit der Welt. Von innen betrachtet, erscheint Biographie als Erfahrungszusammenhang, als Ansammlung und Aufschichtung von zahlreichen einzelnen (Lebens-)Erfahrungen. Erst in der inneren Verarbeitung und in der reflektierten Erinnerung gewinnen die Erlebnisse eine situationsübergreifende Bedeutung und sie verändern diese Bedeutung auch später noch unter dem Einfluss weiterer Erlebnisse. Sie schließen sich mit anderen Erlebnissen und schon gespeichertem Wissen aus anderen Quellen zu einem vielgestaltigen, im Verlauf des Lebens ständig anwachsenden Erfahrungszusammenhang zusammen (vgl. ebd., S. 40).

Die Erfahrungen, die im Laufe des Lebens gesammelt werden, bestimmen den biographischen Prozess, ohne dass dies dem Individuum bewusst ist. Dieser Einfluss der Erfahrungen auf den gesamten Lebenslauf wird oft durch Erinnerungen erkannt (vgl. ebd., S. 40).

3.1 Methoden der Biographieforschung

Sackmann (2013) unterscheidet fünf verschiedene Methoden der Biographieforschung:

1. Narratives Interview: Als Vorteile des narrativen Interviews können subjektive Relevanzsetzungen durch die offene Art, die Ereignisse zu thematisieren, und die Gegenüberstellung von Leben und erzähltem Leben angeführt werden (vgl. Sackmann 2013, S. 70).
2. Objektive Hermeneutik: Die objektive Hermeneutik beschäftigt sich intensiv mit einem Text. Mithilfe dieser Methode interpretiert die Forschungsgruppe den Text Satz für Satz. Daher wird der Text nicht von seinem Ergebnis her analysiert, sondern in einzelnen Sequenzen, welchen die ForscherInnen frei nach ihren Assoziationen Sinn zuschreiben. ÄWichtig ist bei diesen Sinndeutungen, dass die Forscher als Alltagsmenschen verstehen, auf welche (Interaktions-)Erwartungen der Textproduzent reagiert, und welche Sinngehalte im Text selbst entwickelt werden.“ Alle Interpretationen werden in einem letzten Schritt dokumentiert (vgl. ebd., S. 73).
3. Ereignisdatenanalyse: Die Ereignisdatenanalyse geht von einem Zustandsraum aus, der abhängig von der gegebenen Fragestellung alle möglichen Zustände auflistet. Bedeutend sind hierbei multivariate Verfahren, bei denen die abhängige Variable die Wahrscheinlichkeit eines Übergangs repräsentiert. Als Ereignis oder Übergang wird ein Übergang von einem Zustand zu einem anderen bezeichnet (vgl. ebd., S. 77).

ÄDieser abhängigen Variable stehen mehrere erklärende Variablen gegenüber, die eingeteilt werden können in zeitveränderliche und zeitkonstante Variablen. Zeitkonstante Variablen sind Zustände, die sich üblicherweise im Lauf eines Lebens nicht ändern (z.B. Geschlecht), zeitveränderliche Variablen sind, wie der Name schon sagt, Größen, die sich ändern können, z.B. der Erwerbsstatus“ (ebd., S. 77).

[...]

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft in Theorie und Praxis
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz  (Institut für Erziehungs-und Bildungswissenschft)
Note
1
Autor
Jahr
2016
Seiten
50
Katalognummer
V336159
ISBN (eBook)
9783668258792
ISBN (Buch)
9783668258808
Dateigröße
1253 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
biographieforschung, erziehungswissenschaft, theorie, praxis
Arbeit zitieren
Oxana Ivanova (Autor:in), 2016, Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft in Theorie und Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336159

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