Mit dem 2004 im Eichborn-Verlag erschienenen Roman „Wörterbuch“ von Jenny Erpenbeck im Stil eines inneren Monologs das Psychogramm einer im kindlichen Entwicklungsstadium steckengebliebenen jungen Frau, der es nicht gelingt, sich aus dem Einfluss einer übermächtigen Vaterfigur zu lösen und eine eigene Identität zu entwickeln. Im Rückblendeverfahren werden in einer Sequenz scheinbar willkürlich aneinander gereihter Szenen und Episoden missglückte Versuche dargeboten, sich gegenüber der zerstörerischen Gewalt des Vaters zu behaupten und einen selbst gewählten Entwicklungsweg einzuschlagen.
Die namenlose Ich-Erzählerin kann als Anti-Heldin und weiblicher Gegenentwurf zu einer expressionistischen Heldenfigur aufgefasst werden, die - wie der Protagonist in Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“ - voller Sendungsbewusstsein und Pathos gegen ihren Vater revoltiert, sich triumphierend über ihn erhebt und wie neu geboren zu einem Leben auf höherer Ebene aufschwingt. Demgegenüber scheint Erpenbecks Protagonistin – bildlich gesprochen - das Schicksal der rätselhaften „schwarzgekleideten Engel“ teilen zu müssen, die vom Himmel ins Meer stürzen und darin untergehen. Ihr wird kein Leben in Aussicht gestellt, das in eine höhere Daseinsstufe einmündet oder zumindest eine neue Perspektive im irdischen Leben eröffnet. Ihr steht kein Therapeut beratend zur Seite, der ihr dabei hilft, traumatische Kindheitserlebnisse zu verarbeiten. Im Unterschied zu einer sich gegenüber ihrer verständnislosen Umgebung behauptenden expressionistischen Zentralfigur, trifft sie – mit Ausnahme von Leidensgenossen – nur auf übermächtige Gegenspieler, denen sie nicht gewachsen ist.
Das Innenleben der Erzählerin erweist sich als eine Art „terra incognita“, eine unerforschte, unergründliche, zerklüftete Seelenlandschaft, die sich dem Zugriff der Sprache und damit der Mitteilbarkeit zu widersetzen scheint, oder wie ein Labyrinth von „Gehirnwindungen“, in dem irgendwo ein winziger Rest („ein Löffelchen“) ihres einstigen Ichs versteckt ist. Analog zum Zerschneiden von Nahrung, wird das wiederholt im Text aufgerufene Instrument des „Messers“ wie ein Skalpell benutzt, um das eigene Innenleben zu sezieren bzw. es in einem selbstzerstörerischen Akt gegen sich selbst zu richten, „um die Erinnerung abzustechen“. In diesem mit intensiven Bildern angereicherten Psychodrama muss Erpenbecks Zentralfigur die ihr aufgezwungene Rolle einer "Selbstauslöschung" ohne Gegenwehr übernehmen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Psychogramm einer Anti-Heldin
- Innenwelt als unergründliche „terra incognita“
- „Anti-Wörterbuch“ der Uneindeutigkeit
- Trauma der Erinnerung
- Zerstörerische Auswirkungen psychischer Gewaltakte
- Zeitgeschichtliche Bezüge
- Anti-Entwicklungsroman
- Erforschung der „terra incognita“ im Prozess des Schreibens
- Lesarten
- „Wörterbuch“ im Spiegel der Kritik
- Erlebte Wirklichkeit und Romangeschehen im Vergleich: Verfallssymptome und Spurenbeseitigung
- Jugenderinnerungen an Ostberlin
- Spurenbeseitigung der Militärdiktatur im Roman
- Spurenbeseitigung in der kapitalistischen Gesellschaft
- Inversion der Bedeutungen
- Spurensuche: Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart
- Literarisches Schreiben als „Übersetzung“, „Experiment“ und „Spiel“ mit dem Leser
- Schreiben als Prozess des Spurenlegens
- Dynamik des Angedeuteten, Nicht-Gesagten oder Verschwiegenen
- „Spannungsverhältnis zwischen innen und außen“
- Schreiben als „Experiment“ mit ungewissem Ausgang
- Thematik der nachgeholten bzw. verlorenen Kindheit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Jenny Erpenbecks Roman „Wörterbuch“ beleuchtet die erschütternde Geschichte einer jungen Frau, die mit den Folgen traumatischer Kindheitserlebnisse kämpft. Der Roman erkundet die zerbrechliche Psyche der Protagonistin und ihre verzweifelten Versuche, sich von der übermächtigen Vaterfigur zu lösen und eine eigene Identität zu finden. Die sprachliche und emotionale Verwirrung der Protagonistin spiegelt die komplexen und oft widersprüchlichen Auswirkungen psychischer Gewalt wider.
- Die Auswirkungen psychischer Gewalt auf die Identität und Selbstfindung
- Die Rolle der Sprache als Instrument der Manipulation und Unterdrückung
- Die Suche nach einer eigenen Stimme und Selbstbestimmung
- Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihren Folgen
- Die Grenzen der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit und die Suche nach Bedeutung
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung stellt die Protagonistin des Romans vor, eine junge Frau, die in einem Zustand emotionaler Verwirrung gefangen ist. Ihre Vergangenheit, geprägt von psychischer Gewalt, lässt sie im kindlichen Entwicklungsstadium stecken und hindert sie daran, eine eigene Identität zu entwickeln. Die Einleitung bietet einen ersten Einblick in die zerklüftete Innenwelt der Protagonistin und die Sprachlosigkeit, die sie erlebt.
„Wörterbuch“ im Spiegel der Kritik
Dieses Kapitel analysiert die verschiedenen Rezensionen und Interpretationen des Romans. Es werden verschiedene Perspektiven auf das Werk beleuchtet und diskutiert, wie die kritische Analyse des Romans Einblicke in die Themen des Romans, wie z. B. die Fragilität der Identität, die Auswirkungen von Sprachmanipulation und die komplexen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, bietet.
Erlebte Wirklichkeit und Romangeschehen im Vergleich: Verfallssymptome und Spurenbeseitigung
Das Kapitel untersucht die Parallelen zwischen der erlebten Wirklichkeit der Autorin und den im Roman dargestellten Ereignissen. Es werden Verfallssymptome in der DDR-Zeit beleuchtet und die Art und Weise, wie diese sowohl in der DDR als auch in der kapitalistischen Gesellschaft behandelt werden, verglichen. Trotz der Parallelen wird betont, dass der Roman keine autobiografische Darstellung der DDR-Zeit ist, sondern eine komplexere Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Machtstrukturen und Unterdrückung auf das Individuum.
Literarisches Schreiben als „Übersetzung“, „Experiment“ und „Spiel“ mit dem Leser
Dieses Kapitel beleuchtet die Rolle des literarischen Schreibens als Prozess der Übersetzung, des Experiments und des Spiels mit dem Leser. Es wird betont, dass der Text Spuren hinterlässt, die der Leser aufdecken und interpretieren muss. Der Roman stellt eine Herausforderung für den Leser dar, die sich nicht mit einer einfachen, linearen Interpretation begnügen sollte, sondern sich auf die vielschichtigen Bedeutungen einlassen muss.
Schlüsselwörter
Der Roman „Wörterbuch“ von Jenny Erpenbeck konzentriert sich auf die Themen Identität, Sprachmanipulation, psychische Gewalt, Trauma, Erinnerung, Selbstfindung, Sprache, Vergangenheitsbewältigung, und die Suche nach Bedeutung in einer komplexen und oft widersprüchlichen Welt.
- Arbeit zitieren
- Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2016, 'Wörterbuch' von Jenny Erpenbeck. Die Diktatur der Erziehung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336239