Diese Facharbeit befasst sich mit dem Phänomen des Poetry Slams und vergleicht entsprechende Texte mit lyrischen Texten vergangener Zeit.
Der Poetry Slam ist mittlerweile Teil unserer Kultur, obgleich es Befürworter sowie Gegner gibt. Er ist in annähernd jeder Stadt in großem wie in kleinem Umfang vertreten und gefragt. Außerdem erfreuen sich Videos bekannter Slammer im Internet großer Beliebtheit.
Diese Arbeit liegt dem Untersuchungsaspekt der literarischen Reaktion auf technische Entwicklung zugrunde. Befasst man sich mit der Lyrik verschiedener Epochen, so fällt auf, dass einem die Technik der jeweiligen Zeit sehr oft begegnet, sei es als Motiv oder als Anlass des Verfassens.
Während es zu der erhältlichen Primärliteratur zu Lyrik natürlich hinreichende Untersuchungen gibt, ist der Poetry Slam, obwohl es ihn schon relativ lange gibt, nur sehr selten von einer wissenschaftlichen Seite betrachtet worden. Auch das Motiv der technischen Entwicklung findet sich nur äußerst selten in der Germanistik.
Die Verknüpfung der Lyrik mit dem noch wenig untersuchten Poetry Slam in Verbindung mit der Untersuchung unter dem ebenso relativ unerforschten Aspekt der literarischen Reaktion auf technische Entwicklung wurde von einigen Wissenschaftlern und Künstlern der Szene sogar als „konfus“ bezeichnet, weshalb man annehmen kann, dass diese Arbeit erste Einblicke in das Thema ermöglicht und an einigen Stellen vielleicht sogar Pionierarbeit leistet.
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Themenstellung und Untersuchungsaspekt
1.2 Methodik und Forschungsdesign
1.3 Forschungsstand
2 Wie reagiert traditionelle Lyrik auf technische Entwicklung? Jakob van Hoddis „Morgens“ als Technik-Kritik und Appell zur Rückbesinnung
2.1 Hintergründe
2.2 Die Rezeption technischer Entwicklung in der Lyrik
2.3 Der Appell zur Rückbesinnung und zum Idealzustand
3 Das Phänomen des Poetry Slams
3.1 Entstehung und Etablierung
3.2 Skizzierung der Regeln und Abläufe
3.3 Oralität
4 Wie reagiert der Poetry Slam auf technische Entwicklung? Untersuchung am Beispiel von Patrick Salmens „Die Armee der gescheiterten Gleitflieger“
4.1 Hintergründe und Angaben zum Autor
4.2 Die Rezeption technischer Entwicklung im Poetry Slam
5 Der Vergleich
5.1 Vergleich der „Gattungen“
5.2 Gesamtinterpretation der Ergebnisse
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
6.1 Andere Untersuchungsschwerpunkte
6.2 Die Reaktionen anderer Literatur, Kultur und Medien
7 Literaturverzeichnis
8 Anhang
8.1 Textgrundlagen
8.1.1 Jakob van Hoddis: „Morgens“
8.1.2 Patrick Salmen: „Die Armee der gescheiterten Gleitflieger“
8.2 Interviewleitfaden
8.3 Interviews
8.3.1 Karsten Strack
8.3.2 Crauss
8.3.3 Dr. phil. Christian Schütte
8.3.4 Mitglied der studentischen Online-Plattform „LiteraListen“
8.3.5 Lisa Neumann
1 Einleitung
1.1 Themenstellung und Untersuchungsaspekt
Diese Facharbeit wird sich mit dem Phänomen des Poetry Slams befassen und entsprechende Texte mit lyrischen Texten vergangener Zeit1 vergleichen.
Der Poetry Slam ist mittlerweile Teil unserer Kultur, obgleich es Befürworter sowie Gegner gibt2. Er ist in annähernd jeder Stadt in großem wie in kleinem Umfang3 vertre- ten und gefragt. Außerdem erfreuen sich Videos bekannter Slammer im Internet großer Beliebtheit.
Diese Arbeit liegt dem Untersuchungsaspekt der literarischen Reaktion auf technische Entwicklung zugrunde. Befasst man sich mit der Lyrik verschiedener Epochen, so fällt auf, dass einem die Technik der jeweiligen Zeit sehr oft begegnet, sei es als Motiv oder als Anlass des Verfassens.
1.2 Methodik und Forschungsdesign
Die wissenschaftliche Herangehensweise lässt sich ein Stück weit bereits dem Inhalts- verzeichnis entnehmen. Um den Poetry Slam und die Lyrik unter genanntem Aspekt vergleichen zu können, habe ich in dieser Arbeit jeweils einen ausgewählten Text für sich analysiert und diese in einem weiteren Kapitel miteinander sowohl allgemein als auch unter dem Untersuchungsaspekt verglichen. Das Phänomen des Poetry Slams wur- de von mir in einem zusätzlichen Kapitel erläutert, bevor ein entsprechender Text einge- bracht wurde.
Als Informationsgrundlagen dienten dieser Arbeit ausgewählte Primär- sowie Sekundär- literatur. Bei der Literatursuche wurde darauf geachtet, unterschiedliche Quellen zu je- dem Thema zu verwenden, um eine einseitige oder voreingenommene Rezeption zu ver- meiden. Außerdem wurden verschiedene Menschen befragt, die sich mit mindestens ei- nem der Ansätze meiner Arbeit auskennen4, worauf sich in der folgenden Abhandlung auch bezogen wird.
1.3 Forschungsstand
Während es zu der erhältlichen Primärliteratur zu Lyrik natürlich hinreichende Untersuchungen gibt, ist der Poetry Slam, obwohl es ihn schon relativ lange gibt5, nur sehr selten von einer wissenschaftlichen Seite betrachtet worden6.
Auch das Motiv der technischen Entwicklung findet sich nur äußerst selten in der Ger- manistik7.
Die Verknüpfung der Lyrik mit dem noch wenig untersuchten Poetry Slam in Verbin- dung mit der Untersuchung unter dem ebenso relativ unerforschten Aspekt der literari- schen Reaktion auf technische Entwicklung wurde von einigen Wissenschaftlern und Künstlern der Szene sogar als „konfus“8 bezeichnet, weshalb man annehmen kann, dass diese Arbeit erste Einblicke in das Thema ermöglicht und an einigen Stellen vielleicht sogar Pionierarbeit leistet.
2 Wie reagiert traditionelle Lyrik auf technische Entwicklung? Jakob van Hoddis „Morgens“ als Technik-Kritik und Appell zur Rückbesinnung
Das für dieses Kapitel verwendete Gedicht ist unter 8.1.1 abgedruckt. Es wurde 1914 veröffentlicht, also in der literarischen Epoche des Expressionismus und dient in dieser Arbeit als Beispiel für die traditionelle Lyrik. Da man den Begriff „traditionell“ von mehreren Seiten betrachten kann, sollte er hier kurz erläutert werden. In der Lyrik des Barock findet man beispielsweise eine sehr reglementierte Form vor und man könnte diese als „traditionell“ bezeichnen. Dies ist in meiner Arbeit nicht gemeint, vor allem weil es im Expressionismus teilweise darum geht, „traditionelle“ Formen zu zerstören um bestimmte Effekte zu erzielen9, worauf hier aber nicht näher eingegangen wird. Vielmehr wird die Lyrik des Expressionismus als historisch relevant und in der Litera- turwissenschaft programmatisch verstanden und kann daher mit „traditionell“ beschrie- ben werden.
In der ausgewählten Sekundärliteratur wird gesagt, „man müsste ihn [den Expressionis- mus] eigentlich für einen klassischen Fall erklären“10 und in ihm „überrascht […] der ungebrochene Respekt vor der herkömmlichen Vierzeilerstrophe, dem traditionellen Terzinengefüge und [...] der Sonettenform“11. Außerdem sehe ich seine Lyrik als geeig- net für die Untersuchung unter genanntem Aspekt an, da es in ihr „eine ganz und gar schonungslose, […] unerbittlich naturgetreue Widerspiegelung von objektiven Tatsachen gegeben hat“12 und dies dem Untersuchungsansatz zuträglich ist.
2.1 Hintergründe
Der Expressionismus, oft ist auch die Rede von dem „expressionistischen Jahrzehnt“, war eine Zeit, von der man behaupten kann, sie und ihre Literatur sei von der Technik und ihrer Entwicklung geprägt. Durch eine Ökonomisierung der Technik13 wurde diese der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht14, welche dadurch sehr beeindruckt wur- de15. Es war jedoch nicht nur die Ökonomisierung, sondern man machte auch schnelle Fortschritte in nahezu allen Bereichen der Technik, die mit neuen Erfindungen einher- ging. Außerdem setzte der erste Weltkrieg ein, der in der kompletten Gesellschaft eine unsichere Atmosphäre schuf und das Leben der meisten Menschen abrupt veränderte. Demnach folgte auch die Adaptation in der Literatur und der Lyrik.
2.2 Die Rezeption technischer Entwicklung in der Lyrik
Das Gedicht „Morgens“ von Jakob van Hoddis, das wie bereits gesagt 1914 veröffent- licht wurde, wird in diesem Kapitel unter dem Untersuchungsaspekt dieser Arbeit, näm- lich der literarischen Reaktion auf technische Entwicklung, untersucht. Daher werden einige Elemente der allgemeinen Gedichtanalyse vernachlässigt, um mehr zielführende Ergebnisse zu erlangen.
In dem Gedicht geht es um eine Stadt im Laufe des Tagesanbruchs, Impressionen daraus und das Aufzeigen einer Alternative zu dieser Entwicklung. Ich stelle die These auf, dass das Verhältnis zwischen Natur und der Technik thematisiert und die Impressionen und somit die Entwicklung zur Technik als negativ dargestellt werden sollen. Des weiteren wird ein Appell zur Rückbesinnung zu der aufgezeigten Alternative, der Natur, ausgesprochen.
Vorab kann man sagen, dass das Gedicht in keine Strophen unterteilt ist, man kein festes Reimschema und ebenfalls kein Muster in der Anordnung der Kadenzen findet. Ledig- lich in den Zeilen 4-7 befindet sich ein umarmender Reim (abba) und in den Zeilen 8-11 jeweils ein Paarreim (ccdd). Ein Vers entspricht fast immer einem Satz (Mit Ausnahme der Verse 17/18). Man findet kein lyrisches Ich, lediglich einen Sprecher, der den Rezi- pient in einem Vers (Vers 16, „Horch!“) anspricht.
Dennoch kann das Gedicht einer inhaltlichen Gliederung unterzogen werden. So be- schreiben die ersten 4 Verse den Tagesanbruch („Die Tore des Himmels“ werden geöff- net, Vers 2) mit dem „Emporspringen“ eines starken Windes, eine Wettererscheinung der Natur, die jedoch von Türmen aufgehalten wird, indem der Wind dagegen schlägt. Hier deutet sich schon an, dass der Mensch, beziehungsweise seine durch technische Entwicklung möglich gemachten Bauwerke der Natur gegenüberstehen. Die negative Konnotation wird auch durch negativ anmutende Wörter wie „blutende Tore“ oder „schlagen“ erreicht.
In den Zeilen 5-11 folgen die Impressionen aus der Stadt. Diese sind
- eine „rußige Morgensonne“ (Vers 5, Assoziation zu Abgasen aus zum Beispiel Fabriken),
- durch eine Alliteration veranschaulichte „donnernde“ Züge unmittelbar nach dem Tagesanbruch (/„Dämmern“), was zu der entsprechenden Zeit eine der größten technischen Errungenschaften war16,
- die „bleiche“ Erscheinung der Stadt (Vers 7) und somit die Verbindung zum Leblosen, was auf die Industrie und die Technik zutrifft,
- weitere Maschinen wie Dampfer und Kräne (Vers 8) und
- damit verbundene Umweltverschmutzung („schmutzig fließender Strom“) sowie
- Frauenarbeit in Fabriken.
Die Elemente werden jedoch geschickt in den semantischen Bereich des Morgens eingebaut, wie durch das „Erwachen“ der Maschinen und den anfangs genannten Wind, der über der als „bleich“ beschriebenen Stadt ist.
Die zuletzt genannte Beobachtung der Frauenarbeit ist womöglich dadurch ein Motiv dieses Gedichts geworden, da es zur Zeit des Beginns des 1. Weltkrieges verfasst wurde und die Männer als Soldaten einberufen wurden. Demnach mussten die Frauen arbeiten. In den Zeilen 12/13 wird dann konkret eine Art technische Entwicklung beschrieben. Dort entwickeln sich „zur Liebe geschaffene Glieder hin zur Maschine und mürrischem Mühn“, beziehungsweise bewegen sich dorthin, um im Kontext zu bleiben.
Die Zeilen 15/16 zeigen schließlich nochmal die Zerstörung der schönen Natur („der Bäume zärtliches Grün“), denn im darauffolgenden Vers „schreien“ die Spatzen darin. Die letzten 2 Verse werden schließlich im folgenden Kapitel beschrieben.
2.3 Der Appell zur Rückbesinnung und zum Idealzustand
Die letzten 2 Verse des vorliegenden Gedichtes beschreiben nach den oben genannten negativen Elementen in der Stadt, die durch die Technik bedingt sind, eine Alternative. Sie sagen aus, nachdem von „schreienden Spatzen“ die Rede war, dass „draußen auf wilderen Feldern“ Lerchen „singen“. Diese beiden Prädikate (schreiben und singen) ha- ben hier die gleiche Bedeutung, nur dass „schreien“ eine negative und „singen“ eine po- sitive Konnotation hat.
Diesen schöneren Zustand findet man also vor, wenn man sich zurück in die Natur begibt, verwendet wurde dazu der Komparativ „wilder“.
Diese abschließenden Zeilen können also einen Appell zur Rückbesinnung darstellen, da das „Singen“ im Vergleich zu den vorangegangenen Elementen einen Idealzustand darstellt.
3 Das Phänomen des Poetry Slams
3.1 Entstehung und Etablierung
Als Begründer des Poetry Slams gilt Marc Kelly Smith. Ab 1985 organisierte er in einer Bar in Chicago Poesie-Abende. Aufgrund des großen Publikums zog er in einen Jazz-Club um, wo wöchentlich eine Show nach festem Programm ablief. Beendet wurde diese mit einem Auftritt von ihm selber, musste aufgrund von Zeitmangel seinerseits je- doch alle zwei Wochen von etwas anderem abgelöst werden17. Dazu erfand er den Poe- try Slam und bezog sich „auf die Tradition der Dichterwettbewerbe, die bis in die Anti- ke zurückzuverfolgen sind“.18
Nur wenig später wurde dieser zu der Hauptattraktion des Abends und auch andere Café-Besitzer veranstalteten dieses Format, was nach und nach zu einer Ausbreitung in den USA führte. Ab 1990 fanden jährlich „National Poetry Slams“ statt und der Musiksender MTV führte MTV Poetry Unplugged ein, womit der Dichterwettstreit auch noch durch das Fernsehen publik wurde. Ab 1993 expandierte der Poetry Slam weltweit und somit auch nach Europa und Deutschland19.
3.2 Skizzierung der Regeln und Abläufe
Für den Poetry Slam existieren folgende weltweit anerkannte Regeln, die bewusst einfach gehalten sind, um eine unkomplizierte Teilnahme zu ermöglichen:
→ „Der Poet muss den Text selbst verfasst haben.
→ Gesangseinlagen sind nur in einem kurzen Zeitraum erlaubt. → Es gibt ein Zeitlimit.
→ Es dürfen keine Hilfsmittel, wie zum Beispiel jegliche Form von Requisiten oder Kostümierungen, verwendet werden.
→ Das Publikum bewertet die Darbietung.“20
Diese Regeln beschreiben gleichzeitig auch teilweise den Ablauf. Dazu kann noch ergänzt werden, dass es meistens für jede Stadt einen Slammaster gibt, der die Veranstaltungen organisiert und oft auch moderiert. Da die Slams heute in der Regel groß angelegt sind21, kümmert sich dieser auch um den Ort und kontaktiert die Künstler, die etwas vortragen sollen. Dem Moderator wird eine besondere Rolle zugeschrieben22, da dieser den Slam „dramaturgisch“23 gestalten soll.
Wenn ein Slam professionell ausgerichtet ist, tritt vor den eigentlichen Künstlern ein sogenanntes Opferlamm auf, da das Publikum den ersten Künstler in der Regel am schlechtesten bewertet. Dies ist meistens der Moderator selbst.
3.3 Oralität
Die Oralität (und die Interaktion mit dem Publikum) wird von verschiedenen Sprachwissenschaftlern und Experten als „Markenzeichen des […] Poetry Slam[s]“24 und als besonders beschrieben, da das Vortragen von Texten nicht mehr in unseren Alltag integriert ist25. Felis sagt in „Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam“, Marc Smith sei es bei seinen Veranstaltungen um die „Darbietung des gesprochenen Wortes […]“ gegangen „um an die Tradition der Oralität von Gedichten anzuknüpfen“. Die Besonderheit der Oralität in der heutigen Zeit wird durch diese Belege deutlich.
Auf der anderen Seite wird sowohl in den vorliegenden Interviews als auch zum Bei- spiel von Clara Felis gesagt, dass die Oralität alles andere als neuartig ist und sie prak- tisch schon immer in Verbindung mit Lyrik verwendet wurde. Somit kann hier eine erste Parallele zwischen der traditionellen Lyrik und dem Poetry Slam gezogen werden, da der Poetry Slam ein sehr traditionelles Element der Lyrik aufgreift und damit auch heute noch sehr großen Erfolg hat.
4 Wie reagiert der Poetry Slam auf technische Entwicklung? Untersuchung am Beispiel von Patrick Salmens „Die Armee der gescheiterten Gleitflieger“
Der für dieses Kapitel verwendete Text ist unter 8.1.2 abgedruckt.
4.1 Hintergründe und Angaben zum Autor
Der Text „Die Armee der gescheiterten Gleitflieger“ wurde 2013 veröffentlicht und dient hier als Beispiel für einen Poetry Slam-Text. Der Kurzprosa-Text, der bei Poetry Slams vorgetragen wird, wurde von Patrick Salmen verfasst. Dieser „Prosa- und Lyrik- autor, Bühnenliterat und Kabarettist“26 ist einer der „großen“27 und bekannten Slammer und hatte 2010 die „Deutschsprachige Poetry-Slam-Meisterschaft“ gewonnen. Bei der gleichen Veranstaltung 2011 erreichte er den zweiten Platz. Er ist mit einem eigenen So- loprogramm bereits auf Tournee gewesen und moderiert den Poetry Slam in Dort- mund28. Befasst man sich mit Texten des Poetry Slams, begegnet man seinen Texten zwangsläufig und man kann sie daher als programmatisch bezeichnen.
4.2 Die Rezeption technischer Entwicklung im Poetry Slam
Analog zu Kapitel 2.2 wird der vorliegende Poetry Slam-Text unter dem Aspekt der literarischen Reaktion auf technische Entwicklung untersucht.
Das Thema des Textes sind die Beobachtungen, die während einer Zugfahrt von dem lyrischen Ich, das ein Passagier zu sein scheint, gemacht werden und die Überlegungen, die es dazu anstellt. Ich stelle die These auf, dass der Text die Technik, bzw. eines der wichtigsten Elemente unserer Technik, nämlich die Transportleitungen elektrischer Energie und seine Beziehung zum Menschen thematisiert. Dies wird durch die Ausführungen des lyrischen Ichs versprachlicht.
Zuerst führe ich eine Gliederung des Inhaltes durch und zeige somit gleichzeitig die verwendeten Technik-Motive auf.
So wird in den ersten 7 Zeilen das große Hauptmotiv des Textes beschrieben, jedoch nicht benannt. Es wird mit dem semantischen Bereich des Militärs (z.B.„Militärparade“, Z.1) beschrieben, sodass man denkt, der Text handelt von Soldaten. „Sie“ (Z.3) werden als „Konstante“ und sogar explizit als das „immer wiederkehrende, zentrale Motiv“ bezeichnet. Durch verschiedene örtliche Angaben (Landschaft, Gleisrand, Felder) wird eine Art Allgegenwärtigkeit beschrieben.
In den Zeilen 8-13 wird durch einen „vergangenen Traum“ (Z.9) von einem Jungen, der versucht zu fliegen, der Bezug zu den Strommasten hergestellt, da diese das lyrische Ich in personifizierter Form an Personen mit ausgestreckten Armen erinnern. Hier wird das besagte Motiv auch zum ersten Mal benannt.
Die Zeilen 14-26 beschreiben anschließend - jetzt nachdem die Strommasten konkreti- siert wurden - ihre unterschiedlichen Facetten, jedoch weiterhin auf der Metaebene der „Armee der gescheiterten Gleitflieger“ (Z.15). Nochmals wird ihre Allgegenwärtigkeit und Präsenz „Überall in der Welt“ (Z.24) beschrieben, zum Beispiel dadurch, dass sie „wie Bäume sprießen“ (Z.24) und es „abertausende“ von ihnen gibt (Z.18). Durch das verwendete Bild der Armee und die große Anzahl wirken sie übermächtig. Dies alles passiert jedoch weiterhin auf der kindlich verträumten Ebene, durch die das lyrische Ich die Strommasten überhaupt erst personifizieren kann. In den Zeilen 17/18 wird gesagt, die „Armee“ sei „zu symmetrisch und gleichmäßig, als dass sie das unberührte Bild der Natur in irgendeiner Weise stören würde“. Es lässt sich also eine gewisse Faszination des Sprechers beobachten.
Die Zeilen 27-32 bewegen sich wieder weniger auf einer Metaebene sondern der Spre- cher befindet sich gedanklich wieder im Zug und beobachtet „Gartenlauben oder Forst- hütten“ (Z.28). Allerdings „verschwindet alles irgendwann“ oder „verzerrt sich im Rausch der Geschwindigkeit, doch die Strommasten bleiben wieder als Konstante erhal- ten, während die Menschen und ihre Zufluchtsorte schnell vorüberziehen. Die Strom- masten bleiben jedoch in Erinnerung, weil sie sich „aufdrängen, nicht vergessen zu wer- den“. Ihre Allgegenwärtigkeit erlangt hier also eine negative Konnotation („aufdrängen“).
Letztlich wird in den Zeilen 32-35 [auch] ein utopischer oder zumindest futuristischer („irgendwann“, Z.32) Zustand beschrieben, in dem die technische Entwicklung, die in dem Text durch die Strommasten repräsentiert wird (pars pro toto), auf ein großes Ende globalen Ausmaßes („Die weltgrößte Kettenreaktion“, Z.32) zuläuft. Die letzten beiden Zeilen stellen eine Art Fazit des lyrischen Sprechers dar, in dem es sagt, es könne mit Worten nicht ausdrücken, was die Strommasten in ihm auslösen, vielleicht könnte man es jedoch mit „Würde“ beschreiben, was wahrscheinlich auf die Wirkung auf das lyrische Ich und die Standhaftigkeit zurückgeht.
Insgesamt werden also viele Technik-Bilder verwendet, wie der semantische Bereich des Zuges mit dem Gleisrand, Zugschienen, dem Zug selber und dem Rausch der Geschwindigkeit und das Hauptmotiv, die Strommasten.
Obwohl sowohl positive als auch negative Aspekte dieser Elemente der Technik aufge- griffen werden, überwiegt wahrscheinlich der negative Teil. Die Strommasten werden als aufdringlich beschrieben und dass sie „das Bild der Natur in keinster Weise stören würden“, kann aufgrund der allgemeinen Meinung unserer Gesellschaft als Ironie ange- sehen werden.
5 Der Vergleich
5.1 Vergleich der „Gattungen“
Vergleicht man traditionelle Lyrik und den Poetry Slam vorerst allgemein ohne den Aspekt der literarischen Reaktion auf technische Entwicklung, kommt man zu einem zweigeteilten Schluss.
Auf der einen Seite sagt Strack zum Beispiel, dass es sich um grundsätzlich andere Kategorien handle29, Crauss bemängelt beim Poetry Slam die Qualität im Vergleich zur Lyrik30 und Dr. Schütte sagt, die Texte im Poetry Slam sind - vielleicht aufgrund semiprofessioneller Autoren- einfach zu „missraten“ um sie zu lesen31.
Auf der anderen Seite kann die traditionelle Lyrik auch als notwendige Bedingung für den Poetry Slam betrachtet werden, schließlich sollte dieser ursprünglich „eine interaktive Alternative zur herkömmlichen 'Wasserglaslesung'“ bieten und der „Lyrik ihren performativen Charakter zurückgeben“32
Die von mir befragten Literaturwissenschaftler waren sich jedoch nahezu einstimmig ei- nig, dass Poetry Slam im Vergleich zur Lyrik nicht als Gattung bezeichnet werden kann, da der Begriff primär den „Literaturbühnenwettbewerb“ beschreibt, also keine Text- sondern eine Darbietungsform. Außerdem werden dort „keine homogenen Textgattun- gen präsentiert, sondern sehr unterschiedliche Formen“33, die sich auf „Lyrik oder Pro- sa“34 beschränken.
[...]
1 Wird hier als traditionelle Lyrik verstanden. Nähere Erläuterung folgt in Kapitel 2.
2 Unterschiedliche Haltungen gegenüber des Poetry Slams lassen sich bereits den angefügten Interviews entnehmen, siehe Kapitel 8.3.
3 Es finden sowohl groß angelegte, organisierte Slam-Veranstaltungen sowie Slams in kleineren Lokalen etc. statt.
4 Siehe Kapitel 8.3.
5 Siehe Kapitel 3.1.
6 Vgl. Masomi: Poetry Slam, S. 11.
7 Vgl. Rademacher: Das Technik-Motiv in der Literatur und seine didaktische Relevanz, S. 18.
8 Siehe Kapitel 8.3
9 Vgl. Rühmkorf: 131 expressionistische Gedichte.
10 Ebenda S. 7.
11 Ebenda S. 12.
12 Vgl. Rühmkorf: 131 expressionistische Gedichte, S. 14.
13 Vgl. Segeberg: Literarische Technik-Bilder, Kapitel 3 und 4.
14 Als eines der bekanntesten Beispiele könnte man die Geschichte von Ford nennen, aus der sogar eine regelrechte „Ford-Rezeption“ in der Literatur entstand.
15 Im positiven wie im negativen Sinne.
16 Die Gesellschaft und die Literatur scheint sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert intensiv mit Eisenbahnen auseinandergesetzt zu haben. Vgl. Segeberg: Literarische Technik-Bilder.
17 Vgl. Masomi: Poetry Slam, S. 18.
18 Felis: Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam, S. 16.
19 Die Amerikaner Priscilla Be und Rik Maverick veranstalteten den ersten Poetry Slam in Deutschland in Berlin unter der Organisation von Wolf Hogekamp. Vgl. Masomi: Poetry Slam, Kapitel 2.
20 Felis: Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam, S. 22.
21 Vgl. Kapitel 8.3.5, Punkt 1 und Masomi: Poetry Slam, S. 86.
22 Kapitel 8.3.2 Punkt 5.
23 Masomi: Poetry Slam, S. 22.
24 Kapitel 8.3.5, Punkt 5.
25 Vgl. Kapitel 8.3.4, Punkt 5 und Kapitel 8.3.5, Punkt 5.
26 Salmen: Das bisschen Schönheit werden wir nicht mehr los.
27 Siehe Kapitel 8.3.5, Punkt 1.
28 Salmen: Das bisschen Schönheit werden wir nicht mehr los.
29 Siehe Kapitel 8.3.1.
30 Siehe Kapitel 8.3.2.
31 Siehe Kapitel 8.3.3.
32 Beide aus Felis: Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam, S. 17.
33 Siehe Kapitel 8.3.2.
34 Siehe Kapitel 8.3.3.
- Arbeit zitieren
- Alexander Minor (Autor:in), 2014, Phänomen Poetry Slam und traditionelle Lyrik. Ein Vergleich der literarischen Reaktion auf technische Entwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336457
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