Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1) Einleitung
2) Fallbeispiel „Schülerin“
3) Theorieerläuterung von Alice Salomon
4) Anwendung der Theorie von Alice Salomon
5) Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach Hans Thiersch
6) Anwendung der Theorie von Hans Thiersch
7) Fazit
8) Literaturverzeichnis
1) Einleitung
In dieser Hausarbeit geht es darum, ein Fallbeispiel mit Hilfe von zwei Theorien der Sozialen Arbeit zu analysieren. Hierfür beschreibe ich zunächst den Fall „Schülerin“, welchen ich dann mit Hilfe der Theorien betrachten werde und die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten beleuchte. Für die Theorie von Alice Salomon und Hans Thiersch habe ich mich entschieden, da sie meiner Meinung nach beides Klassiker der Theorien sind. Besonders die Theorie der Lebensweltorientierung hat mich interessiert, da ich neben dem Studium in einer Einrichtung der offenen Kinder- und Jugendarbeit beschäftig bin. Dort kommen die Theorien der Lebensweltorientierung häufig zum Einsatz, da sich einige Grundprinzipien der offenen Kinderund Jugendarbeit auf Leitlinien der Lebensweltorientierung berufen.
Ich werde nun zuerst den kurz erwähnten Fall beschreiben. Anschließend folgt die Beschreibung von Alice Salomons Theorie. Diese werde ich danach auf den Fall anwenden. Im Anschluss folgt die Beschreibung von Hans Thierschs Theorie der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und deren Anwendung auf den Fall. Sowohl bei der Beschreibung, als auch bei der Anwendung der Theorien werde ich mich teilweise auf das Schema von Heiko Kleve berufen. Es wird also zuerst die phänomenale Erkenntnis behandelt, anschließend die kausale und abschließend die aktionale Erkenntnis(vgl. Kleve 2006, S.16). Das Schema hilft, um die Theorie, wie auch den Fall zu beschreiben, zu erklären und eine anschließende Handlung möglich zu machen. Als Letztes werde ich zu den Gemeinsamkeiten der Theorien kommen, ebenso wie zu den Unterschieden. Ebenfalls werde ich feststellen, ob und in wie fern sich die Theorien anwenden lassen.
2) Fallbeispiel „Schülerin“
„Die Schülerin ist 15 Jahre alt und ist in der 8. Klasse einer Förderschule für soziale und emotionale Entwicklung. Sie besucht schon seit der Grundschule diese Förderschule. Ihre Eltern sind getrennt, und sie lebt bei ihrem Vater und dessen neuer Lebensgefährtin und ihren zwei Kindern. Der Kontakt zur leiblichen Mutter ist weitgehend abgebrochen. Vor ca. 1,5 Jahren kam die Schülerin völlig aufgelöst in meine Sprechstunde und erzählte von den Problemen mit ihrer Stiefmutter und ihrem Vater. Die Schülerin beklagte sich darüber, dass sie zu Hause kein regelmäßiges Essen bekommen würde. Während ihrer Freizeit müsse sie oft in ihrem Zimmer verbleiben und dürfte nicht raus bzw. an keinem Verein teilnehmen. Zudem würde sie auch von ihrer Stiefmutter körperlich bedroht und misshandelt. Sie berichtete von einem Streit mit der Lebensgefährtin des Vaters, wobei diese ihr den Hals so sehr würgte, dass die Schülerin Würgemale am Hals hatte. Daraufhin informierte ich das Jugendamt und begleitete die Schülerin zu einem Arzt, der den Vorfall dokumentierte. Bei gemeinsamen Gesprächen mit dem Jugendhilfedienst und der Schule bestritten Vater und Stiefmutter jegliche Vorfälle und behaupteten, ihre Tochter würde nur Lügengeschichten erfinden. Die Schülerin wurde kurzfristig in einer Jugendschutzstelle untergebracht. Nach einem gemeinsamen Gespräch lehnten Vater und Tochter eine Fremdunterbringung ab. Das nächste halbe Jahr fiel die Schülerin durch negatives Verhalten (wie unerlaubtes Verlassen des Schulgeländes usw.) auf. Das Elternhaus arbeitete nur noch gegen die Schülerin und strich ihr alle Aktivitäten, wie z.B. den Schulsanitätsdienst, Teilnahme an Vereinen etc. Kurz vor Sommerferienbeginn eskalierte die Situation im Elternhaus der Schülerin. Sie verbrachte 40 Tage in der Jugendschutzstelle, bis sie in einem Heim fremduntergebracht wurde. Der Vater und auch die leibliche Mutter der Schülerin wollten gerichtlich die Rückkehr ihrer Tochter erzwingen. Dieser Versuch scheiterte jedoch, da das Gericht der Meinung der Schülerin zustimmte. Wenige Wochen später und von Geschenken überhäuft, ging die Schülerin zurück zum Vater. Eine Zeit lang ging das Zusammenleben gut, bis wieder die gewohnten Probleme auftauchten. Wieder kurz vor den Sommerferien dieses Jahres entschied sich die Schülerin erneut gegen ihr Elternhaus und befindet sich zurzeit in der Jugendschutzstelle. Der zuständige Jugendhilfedienst lud Vater, Stiefmutter und die Schülerin zu einem gemeinsamen Gespräch ein. Das Gespräch musste nach einiger Zeit vom Jugendhilfedienst abgebrochen werden, da es drohte zu eskalieren. Die Schülerin entschied sich definitiv für einen Heimaufenthalt. Drei Wochen später und nach mehreren Gesprächen mit der leiblichen Mutter entschied sich die Schülerin dafür, in Zukunft bei ihrer Mutter zu leben, die in einer anderen Stadt wohnt. Der Fall wurde an das neu zuständige Jugendamt dieser Stadt weitergeleitet.“ (Denner 2008, S. 258-259)
3) Theorieerläuterung von Alice Salomon
In Alice Salomons Theorie „Soziale Diagnose“ unterteilt sie ihre Überlegung in drei grundsätzliche Abschnitte. Es ist die Rede von zwei Künsten, nämlich zum einen von der Kunst „zu leben“ und zum anderen von der Kunst „zu helfen“. Als Letztes erläutert sie die „Funktion des Helfens“. In folgendem Abschnitt beschreibe ich die genannten drei Teile zusammengefasst.
Salomon beschreibt, dass Menschen geboren werden und es für uns selbstverständlich ist, dass wir heranwachsen. Zu leben ist an sichtlich der möglicherweise auftretenden Probleme und Schwierigkeiten, welche in einem Leben auf uns zukommen können, eine wahre Kunst. Menschen setzen sich buchstäblich unterschiedliche Masken auf, welche uns auf den ersten Blick einen verfälschten Eindruck über die Person hinter der Maske vermittelt. Welcher Charakter hinter der Maske steckt, bleibt uns im Allgemeinen größtenteils verborgen. Wir werden in eine Welt geboren, welche nicht auf unsere individuelle Persönlichkeit maßgeschneidert ist. Vielmehr ist es Aufgabe des Individuums, sich mit den vorhandenen Gegebenheiten seiner Umwelt abzufinden und das Bestmöglichste daraus zu machen. Alice Salomon spricht hier deshalb von einer Kunst, da der Erfolg im Leben damit zusammen hängt, ob es ein Mensch schafft, sich an seine Umwelt und die Gesetze der Natur anzupassen. Sie beschreibt, dass es im Laufe der Lebenszeit zu vielen Veränderungen kommt, an die es gilt sich anzupassen. Zu solchen Veränderungen zählen zum Beispiel der Tod eines Familienmitglied, beziehungsweise des Partners oder der Partnerin. Aber auch Dinge wie der Auszug aus dem Elternhaus und dem möglichen Auftreten einer Krankheit (vgl. Salomon 1927, S. 52-53). Bei einer Krankheit gilt es ebenfalls, dass sich der/die Erkrankte an seine Krankheit anzupassen hat. In einem gewissen Maße sollten hier Familie und Freunde behilflich werden, in dem sie sich auf den Zustand des/der Erkrankten einlassen. So können eine Krankheit und deren zusammenhängenden Umstände einen Menschen so derartig beeinflussen und einschränken, dass er sich verändert. Familie und Freunde haben nun die Aufgabe, ihr komplettes Einfühlungsvermögen zu verwenden, um dem/der Erkrankten die größtmögliche Hilfe anbieten zu können (vgl. Salomon 1927, S. 55). Doch hat jeder Mensch selbst die Fähigkeit, seinen Charakter und seine Fähigkeiten an seine Umwelt anzupassen. Er ist im besten Fall fähig, sich zu formen und sich beeinflussen zu lassen. Somit ist es möglich, dass ein Mensch in seinen Fähigkeiten nicht stagniert. Allerdings gibt es hier einige Beschränkungen, die man berücksichtigen muss. Beobachtet man Menschen, die unter denselben Lebensumständen leben kann man beobachten, dass die einen mit ihren Gegebenheiten ohne Einschränkungen leben. Die anderen scheinen hier oftmals zu versagen. Dies ist allerdings keineswegs mangelnden Fähigkeiten zu verschulden. Vielmehr spricht Salomon hier von vorhandenen inneren und äußeren Hemmungen. Ein Mensch kann innerlich durch Ängste, Vorurteile, aber auch durch jahrelang aufgebaute Gewohnheiten in seinen Handlungs- und Anpassungsmöglichkeiten gehemmt und beschränkt werden. Andererseits kann die Energie eines Menschen lahm gelegt werden durch äußere Umstände wie zum Beispiel ArbeitskollegInnen oder Freunde- also Menschen aus dem näheren sozialen Umfeld (vgl. Salomon 1927, S. 56). Eine endgültige und andauernde Hilfe gibt es laut Alice Salomon nicht, da sich das Leben, wie bereits erwähnt, ständig ändert und sich somit auch die Hilfe ständig ändern muss. Hilfe kann nicht in kurzen Zeiträumen gelingen, denn es ist laut Salomon unmöglich, das Verhalten, welches über mehrere Jahre aufgebaut und erlernt wurde, in unmittelbar kurzer Zeit wieder zu verlernen (vgl. Salomon 1927, S.58). Ebenfalls zeigt sie die, anfänglich des 20. Jahrhunderts, noch unüberwindbaren Hürden der Sozialen Arbeit auf wie zum Beispiel Schwachsinnigkeit oder auch Geisteskranke und andere Grenzfälle, welche von der Norm abweichen. Salomon spricht hier von „[…] Wildnisse der menschlichen Seele, in denen mit den Mitteln der heutigen Erkenntnis keine Ordnung zu schaffen ist“. (Salomon 1927, S. 58) Doch was ist laut Salomon die beste Möglichkeit einem Menschen zu helfen? Fürsorge für einen Menschen bedeutet, dass man einem Menschen hilft, sich in seiner Umwelt behaupten zu können, sie aktiv umgestalten und verändern kann und sich in ihr zurecht zu finden. Ebenfalls ist es allerdings möglich, die Umwelt des Menschen an den Menschen selbst anzupassen. Bei der Erstellung eines Hilfeplans gibt es laut Salomon zwei unterschiedliche Herangehensweisen. Zum einen kann sich ein solcher Hilfeplan komplett auf fachliche Kompetenz berufen, zum anderen auf persönliche Kompetenzen. Sie spricht hier von „ausführender Hilfe“ und von „führender Hilfe“. Ausführende Hilfe beruft sich hauptsächlich auf den fachlichen Aspekt eines Hilfeplans. Hierzu gezählt werden zum Beispiel der Verweis, oder auch die Hinzuziehung anderer Institutionen oder Hilfemöglichkeiten. Die Hilfe geht also nahezu vollständig vom Fürsorger aus, weniger vom Hilfebedürftigen. Bei führender Hilfe ist es die Aufgabe des Sozialarbeiters, die Kräfte und den Willen des Klienten/der Klientin zu sensibilisieren. Bei dieser Art von Hilfeführung werden ebenfalls die Angehörigen des Hilfebedürftigen in den Hilfeplan mit einbezogen. Die Angehörigen und vor allem der Klient selbst, haben die Aufgabe die Lösung für das bestehende Problem zu erarbeiten. Diese Art von Hilfe ist also demnach unabhängig von anderen Institutionen. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit besteht hierin, den Klienten so weit zu beeinflussen, dass er die Hilfe annimmt (vgl. Salomon 1927, S.61). Allerdings kann die geplante Hilfe auch unwirksam werden. So heißt es: „Mangelnde Intelligenz, Eigensinn, Intoleranz können jeden Hilfeplan zunichtemachen“. (Salomon 1927, S.61) Ein Sozialarbeiter muss versuchen, die Klienten dazu zu bewegen, sich eigenständig zu verändern. Hier sollten Überlegungen über die Herangehensweise gemacht werden, wie ich den Klienten dazu veranlasse, seinen eigenen Willen zu erwecken. Man kann hier von „Hilfe zur Selbsthilfe“ sprechen. Allerdings muss jeder Hilfeplan auch evaluiert werden. Da es keine Allgemeingültigkeit in Bezug auf Hilfe gibt muss andauernd hinterfragt werden, ob der aktuelle Hilfeplan noch Gültigkeit besitzt. Kein Mensch ist wie der andere und so sollte man aus eventuell vergangenen Hilfeplänen, welche bei anderen Klienten geglückt sind, keine vorläufigen Rückschlüsse ziehen. Alice Salomon umschreibt diesen wichtigen Grundsatz ihrer Theorie mit den Worten: „Behandle ungleiche Wesen ungleich“. (Salomon 1927, S.62)
4) Anwendung der Theorie von Alice Salomon
Im folgenden Abschnitt analysiere ich den beschriebenen Fall mit der Hilfe von Alice Salomons Theorie. Um anhand Salomons Theorie zu handeln muss als erstes die Entstehung der Lage der Schülerin analysiert werden. Es gilt zu klären, wie die Schülerin in ihre aktuelle Lage kam.
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