Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das unheimliche Gefühl unter psychoanalytischer Lupe
2.1.Sigmund Freuds Psychoanalyse und „Das Unheimliche“
2.2.Elemente des Unheimlichen in Claude Seignolles „Isabelle“
3. Psychoanalytische Interpretation unter dem Aspekt des Unheimlichen
3.1.Analyse des Grafen
3.2.Doppelgängertum Isabelle - Jasmine
4. Schluss (Fazit)
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Es kommt überhaupt nicht so häufig vor, dass die Psychoanalyse etwas bestreitet, was von anderer Seite behauptet wird; sie fügt in der Regel nur etwas Neues hinzu, und gelegentlich trifft es sich freilich, daß dies bisher Übersehene und nun Dazugekommene gerade das Wesentliche ist“ Sigmund Freud1
Beim Lesen eines Schauerromans, löst dieser beim Rezipienten, wie der Name schon sagt, ein „schauriges“ Gefühl aus, vielleicht verspürt er sogar Angst, fühlt sich beklemmt, beobachtet, kurz: es ist unheimlich. Womöglich sind es nur Kleinigkeiten, eine minimal vom Alltag abweichende Situation, eine unerwartete Wende, unnatürliche Lichtverhältnisse, uvm. Was jedoch genau das unheimliche Gefühl in uns auslöst ist schwer zu sagen. Im Hinblick auf das Eingangszitat ist das Umheimliche vielleicht das „bisher Übersehene“, das es in dieser Hausarbeit zu untersuchen gilt, und als das „nun Dazugekommene“ bezeichnet werden darf. Ob es nun „gerade das Wesentliche“ ist, möchte ich anhand der Psychoanalyse Sigmund Freuds versuchen zu beantworten.
Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse, schlug zunächst in Wien eine naturwissenschaftliche und anschließend medizinische Laufbahn ein, praktizierte als Arzt und Seelenforscher, löste mit seinen Entdeckungen einen Skandal aus, indem er u.a. auch als „einer der großen europäischen Schriftsteller hervor[trat]“2 Im Wesentlichen wird im Rahmen dieser Hausarbeit nicht auf Freuds Biographie eingegangen, sondern vielmehr ein kurzer Umriss seiner Erkenntnisse der Psychoanalyse dargestellt und vor allem auf sein Essay „Das Unheimliche“ eingegangen. Wie wird der Begriff „unheimlich“ definiert und wie kann dieses Gefühl erzeugt werden?
Im Anschluss möchte ich anhand Claude Seignolles „Isabelle“ zeigen, mit welchen Werkzeugen der Autor arbeitet, um seine Novelle für den Leser unheimlich wirken zu lassen. „Isabelle“ gehört zur Gattung der Gothic Novel, die sich durch Elemente wie Nacht, Dunkelheit, übernatürliche Gestalten (Isabelle), Einsamkeit, Isolation des Protagonisten (Graf), u.a. auszeichnet. Untrennbar davon ist das Moment des Unheimlichen. Im zweiten Teil werde ich „Isabelle“ unter psychoanalytischer Perspektive beleuchten und interpretieren, besonders im Hinblick auf die Charakterzüge der Hauptfiguren. Welche Ängste äußern sich beim Grafen und können psychische Störungen ausgemacht werden? Wie werden Jasmine, sein Dienstmädchen und Isabelle dargestellt? In welchen Punkten ähneln sie sich, kann von einem Doppelgängertum gesprochen werden?
Am Ende wird sich zeigen ob die Methode der psychoanalytischen Lesart zum Verständnis des Unheimlichen in der Lektüre beigetragen hat und ich möchte kurz auf die Frage eingehen, wieviel Autor steckt in der Geschichte?
2. Das unheimliche Gefühl unter psychoanalytischer Lupe
2.1. Sigmund Freuds Psychoanalyse und „Das Unheimliche“
Der Begriff „Psychoanalyse“ ist eine Zusammensetzung des griechischen Wortes „psychē“ und „analysis“.3 „psychē“ bedeutet übersetzt „Seele“ und „zeigt nach der Meinung der Alten […] ihre Selbständigkeit dann, wenn sie beim letzten Atemzug durch die Mundhöhle entweicht.“4 Die Idee der Trennung des Geistes vom Körper hatte bereits Platon: „Kann die Seele den Tod des Körpers überleben, so muss sie etwas anderes als der Körper sein.“5 Seele könnte also als die Identität des Körpers ausmachende Instanz bezeichnet werden. „analysis“ ist das griechische Wort für „Auflösung“ bzw. „Zergliederung“. In den Dahlemer Vorlesungen heißt es: „Analytisches Verfahren will sich nicht in bloßem Auseinandernehmen und der Verfügung über das Zergliederte erschöpfen, sondern vertraut auf die Macht der Rekonstruktion als Prinzip produktiver Konstruktion, das besagt: Indem ich analysiere, gehorche ich dem Analysierten; Effekte kann ich nur erzielen, indem ich es rekonstruiere.“6 In dem Sinne wird Psychoanalyse als „Auseinanderlegung bzw. Rekonstruktion der Seele“ verstanden.
Sigmund Freuds Psychoanalyse ist eine bücherfüllende Studie. Im Einzelnen werde ich nur insofern seine Theorien umreißen, als dass sie zur späteren Interpretation vonnöten sein werden. Freud ließ seine Patienten frei assoziieren, analysierte u.a. deren Träume. Aufgrund seiner Studien gelangte er zur Theorie der psychischen Dreiteilung: Ich (kritischer Verstand), Es (Trieb) und Über-Ich (Gewissen). Er war davon überzeugt, das Unbewusste im Menschen nehme den größten Teil zur Motivation seiner Entscheidungsfindung ein. Aus dem Trieb (Es) heraus entstehen der kritische Verstand (Ich) und das Gewissen (Über-Ich), letzteres erst nach Durchleben des Ödipus-Komplexes.7
Was nun die Psychoanalyse mit dem Schriftstellertum gemein hat erklärt Freud wie folgt:
„Wir schöpfen wahrscheinlich aus der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein jeder von uns mit einer anderen Methode und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet haben.“8
In seinem Essay „Der Dichter und das Phantasieren“9 erläutert Freud was den Schreibenden zum Dichter macht. Letzterer kreiert eine Phantasiewelt, die durch das infantile Spiel motiviert, in „seinem Kopf“ entsteht. Was passiert ist die Verlagerung des Spiels (durch moralische Forderungen abgelegt) in die Phantasie bzw. ins Unbewusste. „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit.“10 Außerdem vergleicht Freud den Dichter mit dem sogenannten „Tagträumer“. Im Mittelpunkt jedes Traumes steht der Held, der Träumende, und Statisten, die ihn zu diesem Helden erheben. In jeder Figur spiegelt sich der Träumer bzw. der Autor wider, was Freud als „Konfliktströmung seines Seelenlebens“11 bezeichnet. Entscheidend ist der Lustgewinn für den Leser, der sich durch verschiedene Quellen seiner eigenen Phantasien erinnert und darin schwelgen kann. In „Literatur und Psychoanalyse“ ist zu lesen, dass der Dichter ein Leidender, von Schuldgefühlen geplagter Mensch sei, der „unter seinem Druck den Narzißmus von der eigenen Person ablösen und auf das Werk verschieben [muss].“12 Da stellt sich die Frage inwiefern nun der Leser in der Lektüre des Schauerromans einen Lustgewinn erfährt?
„Das Unheimliche“ ist der Bedeutung Angst inhärentes Wort, doch wo ist die Grenze zu ziehen? Freud beschreibt es als „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“13 Mit der Vorsilbe „un“ wird es zum Gegenteil des Wortes „heimlich“. Die Semantik dieses Wortes kennt zwei grundlegende Unterscheidungen:
vertraut, heimisch, bekannt, aber auch versteckt, verborgen, geheimnisumwittert, hinterlistig, verschlossen, undurchdringlich. Wobei letztere mit dem als „unheimlich“ zu bezeichnende Konnotation einhergeht. Freud zitiert Schelling:
„Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.14
Auf die Literatur bezogen, wird das unheimliche Gefühl durch Unsicherheit und Zweifel des Lesers hervorgerufen. Am Beispiel des Sandmanns von E.T.A. Hoffmann weist Freud auf eine Kinderangst hin: die Beschädigung der Augen, welche als „Kastrationsangst“ zu verstehen ist. Die beschriebene Angst, die das Kind in der Erzählung erlebt, regt sich im Leser als unheimliches Gefühl, da er, wie eingehend erwähnt, mit dem „Helden“ mitfühlt, sich in die Geschichte und Phantasie des Autors eingelebt hat. Was unterscheidet nun das Unheimliche von der Angst?
„[…] wenn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, daß jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen lässt, daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche, und dabei muss es gleichgültig sein, ob es nun ursprünglich selbst ängstlich war oder von einem anderen Affekt getragen.“15
Als unheimlich gilt für Freud u.a. das Doppelgängertum, die unabsichtliche Wiederholung als Vorbote des unvermeidlichen Schicksals, „Reste animistischer Seelentätigkeit“16, Tod, Nichtleben, Geister, das Zutrauen böser Absichten, vom Wahnsinn Befallene, Verwischung der Grenzen von Wirklichkeit und Phantasie, Stille, Alleinsein, Dunkelheit. Im Unterschied zum erlebten Unheimlichen, resultierend aus der heutigen Unsicherheit der Glaubensvorstellung unserer Ahnen, ist das Unheimliche der Fiktion breiter gefächert. Dieses Gefühl entsteht dann, wenn der Dichter zum Schein eine wirklichkeitsnahe Welt kreiert, in der er handelnde Personen Unheimlichem aussetzt, um es den Leser genau so durchleben zu lassen. Freud vergleicht es mit einem Betrug am Leser, indem der Autor etwas verspricht, was er nicht halten kann und durch Täuschung versucht den Rezipienten zu halten. Der Lustgewinn für den Leser besteht demnach darin, in eine Stimmung versetzt zu werden, die voller Erwartung und Neugierde befriedigt werden will.
2.2. Elemente des Unheimlichen in Claude Seignolles „Isabelle“
Wie bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit erwähnt wurde, möchte ich am Beispiel „Isabelle“ Unheimliches aufzeigen, die Art und Weise der Erzähltechnik näher bestimmen und unter psychoanalytischer Perspektive beleuchten.
Claude Seignolle (geb. 1917) schrieb die Gothic Novel „Isabelle“
neunzehnhundertsechsundsechzig, bereits im Zeitalter der Psychoanalyse.17
Die Geschichte spielt in einem abgelegenen Schloss. Dessen Besitzer, ein Graf, erzählt seinem Restaurator die unglaubliche Geschichte seines eigenen Verfalls. Schuld daran trägt „Isabelle“, ein lebendig gewordenes Bildnis.
Zunächst führt der Restaurator in die unglaubliche Erzählung des Grafen ein, man spricht von einem homodiegetischen Erzähler mit interner Fokalisierung.18 Um den Plot von Anfang an unheimlich und düster wirken zu lassen, wählte Seignolle Worte wie „das schwerfällige Leben in der Provinz“19 (50), „mit einem trüben Schleier aus staubigen Jahrhunderten überzogen“ (50). Trotz der anfänglichen Schwere baut der Autor eine realitätsnahe Welt auf, nennt den Ort „Rouen“ in der Normandie, der wirklich existiert. Langsam wird ein Spannungsbogen aufgebaut: „Der Graf de R., Herr auf C., tot! So war er schließlich doch gestorben… Aber wie hätte es auch anders sein können!“ (50) Neugierde motiviert den Rezipienten weiterzulesen nicht zuletzt, da sich der Erzähler nicht über des Grafen Tod wundert, sondern über dessen Ursache. Das erste Geschehen, die Vorgeschichte oder wenn man so will der Raum wird geschlossen um in den nächsten überzugehen. „Wenige Monate zuvor hatte ich mich zum Schloß von C. begeben, das zwischen zwei Wäldern versteckt liegt. Es war fast elf Uhr abends und so dunkel, daß ich mich nur mit Mühe zurechtfand.“ (51) Das abgeschiedene Schloss stellt ein unheimliches Motiv dar, der Gedanke an ein solch pompöses Gebäude assoziiert zugleich Machtanspruch, Autorität, Unterdrückung, Kerker, uvm. Unterstrichen wird die Idee durch die Abgelegenheit des Schlosses, die mit Einsamkeit, Abschnitt zur Außenwelt, Isolation einhergeht. Würde man sich ein Fest in einem abgelegenen Schloss vorstellen, käme nur bedingt der Gedanke an Unheimliches auf, da jedoch die Nacht regiert, die Dunkelheit, kann einem in der Magengegend flau werden.
[...]
1 Beutin, Wolfgang (Hrsg.): Literatur und Psychoanalyse. Ansätze zu einer psychoanalytischen Textinterpretation. München: Nymphenburger Verlagshandlung GmbH. 1972. S.1.
2 Heinrich, Klaus: Dahlemer Vorlesungen. Psychoanalyse Sigmund Freuds und das Problem des konkreten gesellschaftlichen Allgemeinen. Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag. 2001 (Band 7). S. 45.
3 Heinrich, Klaus: Dahlemer Vorlesungen. Psychoanalyse Sigmund Freuds und das Problem des konkreten gesellschaftlichen Allgemeinen. Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag. 2001 (Band 7). S. 27-30.
4 Ebd., S. 279.
5 Platon: Phaidon. Stuttgart: Phillip Reclam Jun. 1994.
6 Heinrich, Klaus: Dahlemer Vorlesungen. Psychoanalyse Sigmund Freuds und das Problem des konkreten gesellschaftlichen Allgemeinen. Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag. 2001 (Band 7). S. 30.
7 Gay, Peter: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. (3. Aufl.) Frankfurt: Fischer. 2006.
8 Beutin, Wolfgang (Hrsg.): Literatur und Psychoanalyse. Ansätze zu einer psychoanalytischen Textinterpretation. München: Nymphenburger Verlagshandlung GmbH. 1972. S. 27-28
9 Freud, Sigmund: Der Dichter und das Phantasieren. In: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1906-1909. Hrsg. v. Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer. Frankfurt. 1993.
10 Ebd., S. 216.
11 Ebd., S. 221.
12 Beutin, Wolfgang (Hrsg.): Literatur und Psychoanalyse. Ansätze zu einer psychoanalytischen Textinterpretation. München: Nymphenburger Verlagshandlung GmbH. 1972. S. 77.
13 Freud, Sigmund: Das Unheimliche 1919. In: Ders.: Essays II. Auswahl 1915-1919. Hrsg. v. Dietrich Simon. Berlin 1998, S. 552-592. S. 553.
14 Ebd., S. 559.
15 Ebd., S. 578.
16 Ebd., S. 577.
17 Plouchart, Delphine: Seignolle et le fantastique. In: Colloque de Cerisy-la-Salle. Saint-Claude-de-Diray: Èd. Hesse, 2002.
18 Gröne, Maximilian: Rotraud von Kulessa: Frank Reiser. Spanische Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Gunter Narr Verlag. 2009. S. 146.
19 Alle Zitate aus: Claude Seignolle: Isabelle 1966. In: Das Zimmer der Träume. Wundersame Geschichten aus Frankreich. Hrsg. v. Klaus Möckel. Berlin 1989, S. 50-67. werden in folgender Weise im Fließtext nachgewiesen: (Seitenangabe).