Leseprobe
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
1.1. Formen und Verortung im ICD-10 und DSM-5
1.2. Neurobiologische Überlegungen
1.3. Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation nach Kernberg
1.3.1. Exkurs Freudsches Grundverständnis
1.3.2. Konzept
2. Die Dialektisch-Behaviorale Therapie für die Borderline- Persönlichkeitsstörung
2.1. BPS-Kriterien
2.2. Parasuizidales Verhalten
2.3. Die Weltsicht der DBT: Das Modell der Dialektik
2.4. Die biosoziale Theorie
2.5. Behandlungselemente
2.6. Verhaltensziele
3. Soziale Arbeit im psychosozialen Kontext
3.1. Begriff Sozialpsychiatrie
3.2. Aufgaben und Methoden Sozialer Arbeit im klinischen Kontext
3.3. Soziale Arbeit mit Borderline-Erkrankten
3.3.1. Unterstützungsmöglichkeiten
3.3.2. Position und Arbeitsweise innerhalb der Dialektisch-Behavioralen Therapie
Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Einleitung
„Montagmorgen, Damentoilette der Station P2 in Kiel. Melanie K.* hat sich mit einer Rasierklinge lange, tiefe Kerben in den Oberarm geschnitten. Sie wird auf der P2 wegen einer ‚Borderline‘- Persönlichkeitsstörung behandelt. Die Theorie besagt, dass Selbstverletzungen den Betroffenen helfen, eine schier unerträgliche emotionale Spannung abzuleiten. Die Kranken sind gewissermaßen so außer sich, dass sie sich Schmerz zufügen müssen, um in die Gegenwart ‚zurückzukommen‘.“ (Gaschke 2005, o.S.)
Die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist vielen Menschen, einschließlich Psychotherapeuten und Sozialarbeitern ein Gräuel. „Borderliner“, oder wie Betroffene sich auch nennen „Grenzgänger“, gelten als impulsiv, unberechenbar, manipulierend und kaum behandelbar. Laien nehmen die den Persönlichkeitsstörungen zugeordneten Krankheit oft nicht ernst, sehen sie als Modekrankheit oder Ausrede für atypische Verhaltensweisen an.
Dabei stehen Erkrankte unter einem unglaublichen Leidensdruck. Viele haben unzählige Therapien begonnen und auch genauso viele wieder abgebrochen. Ein relativ neues Therapiekonzept soll Abhilfe schaffen und hat in empirisch belegten Studien bemerkenswerte Ergebnisse erbracht. Die Dialektisch- Behaviorale Therapie, kurz DBT. Die Begründerin Marsha M. Linehan sieht die Ursache in einer emotionalen Dysregulation begleitet von stark parasuizidalem Verhalten. Zwischenmenschliche Beziehungen scheinen oft unmöglich. Ein Fertigkeitstraining soll die negativen Verhaltensweisen in positive umwandeln und den Betroffenen damit zu einem gesundem, positiven und selbstgesteuertem Lebensstil verhelfen. Dazu kann schon das Verreiben von Eiswürfeln auf der Haut oder der Biss auf eine Chilischote beitragen; jeder Patient hat seinen ganz eigenen „Notfallkoffer“ (vgl. Gaschke 2005, o.S.).
Eine stabile psychosoziale Betreuung ist für die Therapie von großer Bedeutung und ist damit ein großer Bestandteil der klinischen Sozialarbeit. Sozialarbeiter unterstützen in Deutschland die DBT auf vielseitige Weise, sie sind sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Therapie tätig; hinzu bilden sie in sozialpsychiatrischen Wohnangeboten und Beratungsstellen einen großen professionellen Anteil der Hilfe. Durch die raschen und langfristig wirkenden Erfolge der DBT ist es daher wichtig in Einrichtungen und Institutionen Kenntnisse über das Therapiekonzept und über die allgemeine Gefühlswelt der Klienten zu erlangen. Hand in Hand mit einem multiprofessionellen Team zu intervenieren, ist bei einer hohen Abbruchrate der Therapie von großer Bedeutung; eine stabile zwischenmenschliche Beziehung zwischen Klient, Therapeut und Sozialarbeiter ein „Muss“ (vgl. Bandelow 2010, S. 216). In der New York Times spricht Marsha Linehan selbst von einer „radikalen Akzeptanz“ die das Behandlungsteam und der Patient sich selbst entgegen bringen müssen um Erfolge zu erzielen. Wenn dies geschieht, kann eine beständige Beziehung zwischen Klient und Patient und zwischen Akzeptanz und Veränderung geschehen (vgl. Carey 2011, o.S.).
Im Rahmen dieser Bachelorarbeit, wird die Krankheit Borderline mit dem verhaltenstherapeutischen Ansatz der Dialektisch-Behavioralen Therapie in ihren Grundzügen erklärt und beschrieben. Die Psychologie und die Medizin haben verschiedene Erklärungsansätze für die Krankheit entwickelt, auch sie werden hier im angemessenen Rahmen ihre Berücksichtigung finden. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt aber auf dem Konzept der DBT. Desweiteren werden Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit aufgezeigt. Die Arbeit von Sozialarbeitern im sozialpsychiatrischen Kontext kann unter Einbezug der DBT ein stabiles Stützwerk für Borderline-Erkrankte darstellen; die Methoden und die ethischen Perspektiven der Sozialen Arbeit sind mit der DBT kompatibel und daher gut in der täglichen Arbeit mit psychisch Kranken einsetzbar.
Diese Bachelorarbeit soll Erkrankten, Angehörigen und Fachkräften einen allgemeinen Überblick und ein generelles Verständnis für die Krankheit an sich, einem möglichen Therapieansatz und weitere Hilfemöglichkeiten durch die Soziale Arbeit geben. Dadurch, dass die Krankheit innerhalb der Sozialpsychiatrie immer mehr an Bedeutung gewinnt und als schwer behandelbar gilt, ist das Wissen über sie auch für Sozialarbeiter für eine erfolgreiche Therapie bedeutsam. Dieses Wissen kann durch diese Arbeit erlangt werden.
Um die Lesbarkeit der Arbeit zu gewährleisten, beschränke ich mich hier generell auf die männliche Form. Es muss aber beachtet werden, dass das Konzept der DBT auf die Arbeit mit Frauen ausgelegt worden ist.
1. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung
Zu Beginn wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung, kurz BPS, vorgestellt. Hierzu gehört die Einordnung in die ICD-10, welche die Krankheit in zwei Typen gliedert, und in das DSM-5. Aufgrund verschiedener Erklärungsansätze, werden desweiteren ein neurobiologischer Erklärungsansatz und der psychoanalytische Ansatz, die Borderline-Persönlichkeitsorganisation nach Otto F. Kernberg, in ihren Grundzügen dargestellt. Ein kurzer Exkurs in das Instanzenmodell nach Sigmund Freud dient hier dem besseren Verständnis der Theorie.
Wie der Name schon ausdrückt, wird die Krankheit den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet. Jede Form der Persönlichkeitsstörungen ist von einem hohen Leidensdruck geprägt, welcher durch hohe Einschränkungen der Sozialkompetenz untermauert wird (vgl. Bosshard et al. 2013, S.352). Betroffene zeigen eine hohe Unstimmigkeit in mehreren Funktionsbereichen. Hierzu zählen besonders affektive, impulsive und unflexible immer gleiche Verhaltensweisen. Die Krankheit entwickelt sich in der Kindheit und Jugend, welche oft mit ungelösten Bindungsproblemen zusammenhängt. Körperliche Ursachen müssen vor der Diagnose ausgeschlossen werden (vgl. Arolt 2011, S.226). Etwa 10% leiden in Deutschland an einer Persönlichkeitsstörung, ihr Verlauf gestaltet sich chronisch (vgl. Charité Universitätsmedizin Berlin o.J., o.S.). Im klinischen Bereich sind davon 80% weiblich; männliche Betroffene werden durch aggressive Verhaltensweisen meist straffällig auffällig und sind daher eher in Strafvollzugsanstalten zu finden (vgl. Paris 2003, zit. Nach Herpertz et al 2007, S. 215). Eine Diagnose wird frühestens in der Adoleszenz, also im Jugendalter gestellt. Diese Vorgehensweise wird bisher aber kritisch gesehen (vgl. FröhlichGildhoff 2011a, S.643).
Der Begriff Borderline hingegen bedeutet übersetzt Grenzlinie, da die Krankheit ursprünglich im Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose angesiedelt worden ist, da die Störung schwer einzuordnen war (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2011b, S. 127). Viele Betroffene definieren den Begriff allerdings für sich selbst anders und sehen sich eher als „ ‚Grenzgänger‘, immer auf der Kippe“ (Schramm 2013, o.S.) der Extreme.
Der aktuelle Stand der Forschung geht von einem multifaktoriellen Entstehungsmodell aus, welches sich aus drei Komponenten zusammensetzt (vgl. Herpertz 2007, S. 215f). Sie umfassen einen Umweltfaktor, welcher durch ein Trauma aus der Kindheit definiert werden kann, einen biologisch, genetischem Faktor, womit ein genetisch veranlagtes übersteigertes Temperament gemeint sein kann, und einem psychosozialem Faktor, welcher eine Interaktion zwischen den ersten beiden Faktoren zulässt und damit die Störung auslöst. Jeder Patient hat seine ganz individuelle Kombination, die berücksichtigt werden muss (vgl. Parlow o.J., o.S.). Dieses Modell ähnelt sehr dem der DBT nach Linehan, welches in 2.4. erläutert wird.
1.1. Formen und Verortung im ICD-10 und DSM-5
Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, kurz ICD-10, beschreibt ein offizielles statistisches Diagnoseklassifikationssystem von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen, welches von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird und in den meisten Ländern eine bedeutsame Verwendung findet (vgl. WHO o.J., o.S.). In Deutschland dient sie sowohl ambulant als auch stationär der amtlichen Verschlüsselung von Diagnosen. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information, kurz DIMDI, übersetzt die ICD-10 ins Deutsche und passt sie dem deutschen Gesundheitssystem an (vgl. DIMDI 2014, o.S.). Diese Form trägt den Namen ICD-10-GM; GM steht für German Modification (vgl. Cibis 2011, S.441).
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM, hingegen ist ein Klassifikationssystem speziell für die Psychiatrie und wird von der American Psychiatric Association entwickelt und herausgegeben (vgl. DSM o.J., o.S.). Laut dem deutschen Borderline-Experten Martin Bohus sei das DSM der „ICD-10 in klinischer und wissenschaftlicher Hinsicht deutlich überlegen“ (Bohus 2002, S.4).
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört im ICD-10 zu den Emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen, die jeweils in zwei Untertypen gegliedert wird. In den impulsiven Typ und in den Borderline-Typ (vgl. Arolt et al. 2011, S. 231).
Den impulsiven Typen prägt eine hohe Neigung zu impulsiven, unvorhersehbaren Verhaltensweisen, die von beträchtlichen Stimmungsschwankungen begleitet werden. Dieses Verhalten kann von Betroffenen nicht kontrolliert werden und führt zu erheblichen Konflikten mit ihrer sozialen Umwelt. Die daraus entstehenden Konsequenzen werden nicht berücksichtigt. Die Schwere der Symptome kann sehr unterschiedlich ausfallen. Diagnostische Kriterien für den impulsiven Typen sind also eine deutliche Tendenz unerwarteter Handlungen ohne Rücksicht auf potenzielle Konsequenzen auszuagieren, ein hohes Konfliktpotenzial mit anderen Personen, Wutausbrüche auch begleitet von Gewalttaten, eine stetig wechselhafte Stimmung und die Fähigkeit, Verhaltensweisen trotz Belohnungsverfahren beizubehalten. Um die Diagnose für den impulsiven Typen zu bestätigen, müssen mindestens drei dieser Kriterien plus die allgemeinen Symptome einer Persönlichkeitsstörung erfüllt sein (vgl. Bosshard et al. 2013, S. 253f).
Der Borderline-Typ beschreibt dann eine erweiterte Form des impulsiven Typs. Er setzt ebenfalls mindestens drei Kriterien des impulsiven Typs voraus. Hinzu müssen mindestens zwei der folgenden Eigenschaften zutreffen: Das Selbstbild des Borderline-Typs kann stark gestört sein. Dies zeigt sich durch eine große Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Person, die auch durch innere Präferenzen wie der Sexuellen Neigung unklar erscheinen kann. Hinzu neigen Personen im Borderline-Typus zu höchst instabilen Beziehungen; emotionale Krisen sind die Folge. Eine stetige Angst vor dem Verlassen werden und eine damit verbundene übermäßige Bemühung dies zu verhindern, kann ebenfalls ein Kriterium der Störung sein. Langanhaltende Leeregefühle und chronisch selbstverletzendes Verhalten oder auch die Drohung eine selbstverletzende Handlung durchzuführen, können den Borderline-Typus abrunden (vgl. ebd., S. 355).
Die vor kurzem erschienene 5. Auflage des DSM, das DSM 5, umfasst alle Kriterien der ICD-10, beschreibt sie aber umfangreicher (vgl. American Psychiatric Association 2013, S. 663).
Die Komorbiditätsrate ist sehr hoch. Unter dem Begriff Komorbidität wird das Vorkommnis mindestens zweier gleichzeitig ablaufender Krankheiten beschrieben (vgl. Höfler 2004, S. 21). Zu den klassischen Symptomen der BPS können daher Begleiterkrankungen wie Schlaf-, Ess-, und Angststörungen, Affektive Störungen und Substanzmissbrauch zählen, die während der Therapie ebenfalls einen hohen Stellenwert einnehmen kann und daher erfasst werden müssen (vgl. Bohus 2002, S. 11).
Die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gestaltet sich aufgrund ihrer variablen Symptomgruppen oft schwierig, da zentrale Eigenschaften, wie selbstverletzende Verhaltensweisen oder Depressionen auch ausbleiben können. Die Diagnosestellung kann daher einige Zeit in Anspruch nehmen (vgl. Lawson 2011, S.11).
1.2. Neurobiologische Überlegungen
Die Neurobiologie hat hierzu einige interessante Hinweise zur der Entstehung einer BPS erforscht. Demnach soll eine BPS durch eine Störung der „Glückshormone“ zustande kommen, welche mit dem endogenen Opioidsystem im Zusammenhang steht (vgl. Reisdorf 2011, o.S.).
Dies spielt sich vereinfacht in etwa so ab: Unser Belohnungssystem arbeitet innerhalb eines verdickten Nervenstrangs im Gehirn; wird dieses System aktiviert empfinden wir ein Wohlbefinden und fühlen uns gut. Der Botenstoff Dopamin (ein Glückshormon) spielt bei diesem Funktionswerk eine große Rolle (vgl. Bandelow 2010, S.29). Diesem System ist dem endogenen (körpereigenen) Opioidsystem, EOS abgekürzt, vorgeschaltet. Empfinden wir Glück oder auch Stress binden sich endogene Opioide, auch bekannt als Endorphine, an die Rezeptoren unserer Synapsen. Durch diese Bindung aktivieren sie unser Belohnungssystem (vgl. ebd., S. 30).
Dies geschieht nicht ohne Grund. Endorphine senken das Schmerzempfinden. Desweiteren sorgen sie für eine schnellere Sauerstoffzufuhr durch eine aktivierte Atmungsbeschleunigung; unser Körper wird besser durchblutet: wir werden euphorisch und gleichzeitig auch aggressiver. All das dient dem Überleben in Gefahrensituationen wie beispielsweise in einem Kampf. Ziel des Systems ist also eine sofortige Bedürfnisbefriedigung, nämlich das Überleben; die Vernunft kann dabei zeitweise ausgeschaltet sein (vgl. ebd.). Besonders durch Blutverlust werden Endorphine mobilisiert und ausgeschüttet. In einer derartigen Gefahrensituation werden also Endorphine freigesetzt; sie führen zu Schmerzfreiheit, Euphorie und auch zu aggressiven Verhaltensweisen, die das Überleben durch eine höhere Kampfbereitschaft und Motivation zu Überleben sichern können (vgl. ebd., S. 206).
60-90% der Borderline-Erkrankten leiden unter chronisch selbstverletzenden Verhaltensweisen, die sich beispielsweise durch Einschnitte mit einer Rasierklinge in die Haut äußern können. Laut eigenen Aussagen, wird somit die innere Anspannung abgeleitet, ein positives Gefühl kehrt zurück, das Belohnungssystem wird also durch die Mobilisierung der Endorphine aktiviert (vgl. Ludäscher et al. 2011, S. 143).
Glücksempfindungen können aber auch durch zwischenmenschliche Beziehungen entstehen. Das würde bei einer BPS auch das sehr hohe Aufmerksamkeitsbedürfnis und die damit verbundenen Abhängigkeitsbeziehungen erklären. Es scheint also eine Fehlfunktion im Belohnungssystem und im EOS vorzuliegen. Das System scheint Glücksgefühle nur freizugeben, wenn rapide Maßnahmen ergriffen werden. Eine Erklärung hierfür wäre, dass entweder zu wenige Endorphine in die Blutbahn gelangen oder eine Fehlfunktion der Rezeptoren vorliegt, die die Endorphine nicht ausreichend an den Rezeptoren andocken lassen (vgl. Bandelow 2010, S.206).
Auch mögliche Komorbiditäten können durch dieses Konzept erklärt werden. Die häufige Verbindung mit einer Anorexie oder auch Bulimie kann ebenfalls durch eine Störung des Belohnungssystems unterstützt werden. Normalerweise findet bei der Nahrungsaufnahme ebenfalls eine Endorphinausschüttung statt. Bei einer BPS könnte der Lustgewinn durch Hungern höher sein als bei der Nahrungszufuhr. In langen Hungerstrecken schüttet das Belohnungssystem ebenfalls Endorphine aus um die Motivation zur Nahrungssuche beizubehalten. Hunger kann also auch zu euphorischen Zuständen führen, nach denen Borderline-Erkrankte sich sehnen (vgl. ebd., S. 289).
So plausibel diese Erklärung auch klingen mag, sie ist bisher keineswegs bewiesen. Das Ungleichgewicht des Belohnungssystems wird aber immer wieder mit einer BPS in Verbindung gebracht und ist daher ein möglicher Erklärungsansatz oder Bestandteil für eine BPS (vgl. Reisdorf 2011, o.S.). Dies kommt vor allem daher, dass das Medikament Naltrexon bei den Begleiterscheinungen einer BPS Erfolge gezeigt hat. Naltrexon besetzt die Endorphinrezeptoren, was dazu führt, dass negative Verhaltensweisen wie Selbstverletzung nicht wirken können da sie ins Leere laufen (vgl. Gießen 2008, o.S.). Kontrollierte Pharmastudien weisen allerdings bisher nur niedrige Fallzahlen in relativ kurzen Beobachtungszeiträumen vor und können daher auch hier kein allgemeingültiges Ergebnis liefern (vgl. Bohus 2006, o.S.). Der Erklärungsansatz könnte aber einen wichtigen Teilaspekt für die Entstehung und Behandlung der Krankheit darstellen und findet daher auch in dieser Bachelor-Arbeit seine Beachtung.
1.3. Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation nach Kernberg
Otto F. Kernberg gilt bis heute als einer der bekanntesten Borderline-Forscher weltweit und findet daher auch in dieser Arbeit seinen Platz. Sein psychoanalytisch geprägtes Werk der Borderline-Persönlichkeitsorganisation, welches 1975 erschien, dient vielen Therapeuten als Basislektüre und dem generellen psychoanalytischem Verständnis der Borderline- Persönlichkeitsstörung (vgl. Reinert 2004, S. 87f).
Sigmund Freud ist zwar nicht der Gründer der Theorie, er hat aber den Grundstein für Kernbergs späteres psychoanalytisches Verständnis gelegt (vgl. Kind 2011, S. 20). Daher wird vor der eigentlichen Vorstellung von Kernbergs Persönlichkeitsorganisation ein kurzer Exkurs in die für diese Arbeit relevanten Freudschen Grundlagen gewährt, insbesondere in die Struktur der Persönlichkeit. Kernbergs Konzept wird danach in seinen Grundzügen dargestellt, um einen überschaubaren rundum Blick der verschiedenen Theorien und Konzepte gewährleisten zu können.
1.3.1. Exkurs Freudsches Grundverständnis
Sigmund Freud ist Begründer der Psychotherapie und fand vor allem durch Beobachtung von Verhaltensweisen in der Traumtherapie heraus, dass der Mensch durch das Unbewusste gelenkt und geprägt wird (vgl. Storck 2009, S. 13). Es stehen also innerpsychische Ereignisse einer Person im Vordergrund. Das Bewusste hat keinen Zugriff auf das Unbewusste und kann meist nur mit Mühe hervorgebracht werden (vgl. Köhler 2007, S. 43).
Darauf aufbauend entstand Freuds psychoanalytisches Persönlichkeitsmodell, welches auf der Annahme basiert, dass die wesentliche Triebkraft eines jeden Menschen der Sexualtrieb ist. „Krank“ wurden Menschen dann, wenn diese ihre Triebe unterdrücken mussten (vgl. Storck 2009, S. 15). Die Persönlichkeit hingegen entsteht und beeinflusst sich durch drei mentale Instanzen. Dem miteinander konkurrierendem Es und dem Über-Ich und schließlich dem zwischen den beiden Parteien vermittelndem Ich. Sie beschreiben Freuds zweites topisches Modell, dem Instanzen-Modell (vgl. Köhler 2007, S.52).
Das Es ist die Heimat der menschlichen Triebe. Es sinnt nach unmittelbarer Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche ohne Rücksicht auf mögliche Einbußen sozialer, gesellschaftlicher oder moralischer Grundsätze. Das Über-Ich hingegen beschreibt das Gegenteil des Es. Es beinhaltet die eigenen moralischen Werte, die die Gesellschaft dem Individuum durch Werte, Normen und Regeln bereit gestellt hat. Es beschreibt das Ich-Ideal und kann auch mit dem Begriff „Gewissen“ gleichgesetzt werden. Ein gesundes Über-Ich entwickelt realistische Ansprüche und Ziele an sich selbst und seine Umwelt. Aufgrund dieser Eigenschaften gelangen Über-Ich und Es in einen ständigen inneren Konflikt (vgl. Zimbardo et al. 2008, S. 518).
Das Ich hingegen ist die „Schlichtungsstelle“ für das Es und das Über-Ich. (vgl. ebd.) Es „vermittelt zwischen den Ansprüchen von Es und Über-Ich als auch zwischen denen von Person und Umwelt“ (Zundel 1986, o.S.). Seine Aufgabe besteht darin, die gewünschten Triebe durch Kompromisse ohne unerwünschte Konsequenzen zu lösen (vgl. Zimbardo et al. 2008, S.518).
Dieser Kompromiss kann dazu führen, dass Wünsche des Es mit dem Über-Ich unvereinbar sind. Aufgrund dessen wird der Wunsch in das Unbewusste verdrängt und ist dem Menschen nicht mehr bewusst. Das Freudsche Grundverständnis geht von mehreren nützlichen Abwehrmechanismen aus, wie die Verdrängung ins Unbewusste, die die Konfliktsituationen oberflächlich auflösen können (vgl. ebd.). Können diese Konflikte zwischen den Instanzen weitläufig nicht geschlichtet werden, kommt es zu einer misslungenen Ich- Werdung (vgl. Storck 2009, S.15). Einige Abwehrmechanismen sind in Kernbergs Konzept von zentraler Bedeutung und werden im folgenden Kapitel beschrieben.
1.3.2. Konzept
Das Hauptaugenmerk der Borderline-Persönlichkeitsorganisation nach Kernberg liegt vor allem auf einer Charakteristischen Ich-Störung, welche unter deskriptiven, strukturellen und genetisch-dynamischen Aspekten analysiert wird (vgl. Kernberg 1983, S.26). Diese Ich-Störung hängt vor allem mit dem Begriff der Spaltung zusammen, ein Abwehrmechanismus nach Freud. Dieser verhält sich so: Während des Säuglingsalters stellt der Prozess der Spaltung ein entwicklungspsychologisches Zwischenstadium dar. Hierbei wird die Mutter in zwei unabhängige Persönlichkeiten gespalten; in die „gute“ Mutter und die „böse“ Mutter. Das liegt daran, dass Säuglinge in dieser Entwicklungsstufe noch nicht dazu fähig sind, „gut“ und „böse“ in einer Person zu sehen. Die liebevolle umsorgende Mutter wird also von der Mutter, die das Kind verlässt, da sie nicht allgegenwärtig bei ihrem Kind sein kann, gespalten (vgl. Rohde-Dachser 2004, S.69). Im weiteren Entwicklungsverlauf lösen sich diese polarisierenden Anteile auf und die „nur gut“ und „nur böse“ Konstellation zerfällt. Das Kind sieht während seiner Ich-Werdung eine Mutter die gleichzeitig Gutes aber auch Böses tun kann und erfährt Gefühle wie Wiedergutmachung, Freude, Trauer und Wut in einer Person. Eine reife „Ich-Identität“ entsteht, die Entwicklungsaufgabe ist erfolgreich gelöst worden Bei Borderline-Patienten ist die Lösung dieser Aufgabe nie geschehen; es kommt zu einer Regression auf dieser Ebene (vgl. Bohus 2002, S. 3).
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