Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Ausbildung
3. Die "Schwedische Mentalität"
4. Hinwendung zur Sozialdemokratie
5. Folkhemmet och välfärdsstat (Volksheim und Wohlfahrtsstaat)
6. Schlussbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das Zeitalter der Universalgelehrten scheint in der Moderne längst vergangen zu sein. Die Wissenschaft ist mittlerweile zu ausdifferenziert, zu viel Spezialwissen scheint erforderlich, um auf zwei oder gar mehr Wissenschaftsfeldern federführend tätig zu sein. Wenn es im 20. Jahrhundert ein paar wenige Personen gegeben haben sollte, welche diesem Ideal näherkamen, war Gunnar Myrdal sicherlich einer davon. Seine mannigfaltigen Talente und Interessen spiegeln sich in den Aktivitäten und eingeschlagen Wegen wider, welche sein Leben prägten.
Aus den Tälern seiner heimatlichen Provinz zog es ihn in die Großstadt. Seine Frau Alva forderte ihn Zeit seines Lebens heraus und bestärkte ihn darin, sein volles Potenzial auszuschöpfen. Durch die Juristerei war dies nicht möglich, weswegen Gunnar Myrdal sich relativ schnell den Wirtschaftswissenschaften zuwandte. Durch das Wohlwollen seiner Protegés und die sanfte Lenkung Alvas, wurde auch seine Passion für die – schwedisch-sozialdemokratische – Politik geweckt. Als aktiver Politiker sollte ihm zwar kein Glück beschieden sein, jedoch fanden wohlfahrtsstaatliche, bildungspolitische, wohnungsplanerische und auch erziehungswissenschaftliche Ansätze immer wieder Eingang in seine Untersuchungen und Vorstellungen.
Auch hier beschränkte Myrdal sich eben nicht lediglich auf ein Gebiet. Er widmete sich der wirtschaftswissenschaftlichen Doktrinbildung, der Entwicklung der Lebenshaltungskosten in Schweden, der Bevölkerungskrise, dem Umgang der US-amerikanischen Gesellschaft mit ihren afroamerikanischen Bürgern, der Unterentwicklung, dem Vietnamkrieg und des gesamten asiatischen Raumes, der weltweiten Armut, der Wohlfahrtstaatlichkeit und nicht zuletzt der Friedensforschung.
Seine stets ökonomisch basierten und valide fundierten Theorien brachten ihm schließlich den Nobel-Preis für Wirtschaftswissenschaften – jedoch nur zusammen mit einem seiner ärgsten Widersacher, Friedrich August von Hayek, ein. Beide Männer waren Antipoden und ihre Theorien stritten der jeweils anderen vehement ihre Richtigkeit ab. Myrdals Vorstellungen von Wohlfahrtsstaatlichkeit und Handeln nach gemeinschaftlichen Interessen ließen sich nicht mit marktliberalen Ideen und der absoluten (egoistischen) Freiheit des Individuums hayekscher Prägung vereinbaren.
Für die Sozialismuskonzeption Gunnar Myrdals ist ein Verständnis mehrer Faktoren erforderlich. Die Prägung in seiner Jugend, seine akademische Laufbahn, seine Hinwendung zur Sozialdemokratie, seine Vorstellungen von Wohlfahrtsstaatlichkeit, vom "Volksheim" und "social engeneering" und seine Heimat Schweden. Diese sollen im Nachfolgenden genauer aufgezeigt werden. Hinzu kommen noch eine pragmatische Einstellung und ein gewisses Grundvertrauen in das Entwicklungspotenzial der Menschheit. Diese Reichheit an Facetten lässt schon erahnen, warum jedes Gespräch mit ihm zu einem "intellektuella gästabud"[1] [intellektuellen Fest, Ü.d.V., Übersetzung d. Verf.] werden konnte.
2. Ausbildung
Um die Sozialismuskonstruktion Gunnar Myrdals zu verstehen, gilt es, ihn zu verstehen. Was hat ihn geprägt und wer hat ihn geprägt? Wie sehr hat er kulturelle Besonderheiten Schwedens verinnerlicht, die zu kennen von immenser Bedeutung sind. Seine Jugend verbrachte Myrdal in Dalarna, einer mittelschwedischen Provinz, welche jeher stark bäuerlich geprägt war, bis die Familie mehrfach umzog und in Stockholm eine neues Zuhause fand. Sowohl seine als auch Alvas, Myrdals spätere Frau, Familie gehörten dem unteren Mittelstand an.[2]
Myrdals Vater war ursprünglich als Landarbeiter und Bauunternehmer tätig. Obwohl Schweden während des Ersten Weltkriegs neutral blieb, gelang es ihm, durch Spekulationen Reichtum anzuhäufen. Er war streng konservativ, andere Quellen bezeichnen ihn gar als "höger-sinnad"[3] (rechts-gesinnt, [Ü.d.V.]). Währen seiner Schulzeit wurde er, auf Betreiben seines Vaters, Mitglied der "kristna gymnasist-rörelse"[4] (Christliche Gymnasiastenbewegung, [Ü.d.V.]) und verfasste darüber hinaus Einsendungen und Artikel für und mit seinem Vater, welche an die örtlichen Presseorgane ("sörmlandspressen"[5], [nach einem weiteren Umzug]) verschickt wurden. Besonderen Einfluss auf ihn hatten während seiner Schulzeit sein Geschichtslehrer, John Lindqvist, durch Erläuterung der "Upplysningsfilosofer"[6] (Erleuchtungsphilosophie, [Ü.d.V.]), die besagt, dass Menschen und deren Gemeinschaft sich reformieren und besser werden können, und Rudolf Kjellén, ein Politikwissenschaftler und zeitweilige Führer der "Unghöger" (Jungrechten [Ü.d.V.]), einer nationalistischen, anti-liberalen und elitären Strömung im Schweden der Zwischenkriegszeit. Dieser machte ihn mit der Idee des "Folkhemmet" [Volksheims, Ü.d.V.] vertraut. Er fand erst unter der Federführung von Per Albin Hanssons Eingang in sozialdemokratische Vorstellungen und wurde später von Gunnar und Alva Myrdal weiterentwickelt.[7],[8]
Während seines Studium widmete sich Myrdal zunächst der Juristerei, was ihn aber nicht erfüllte. Alva erkannte dies und brachte ihm durch geschickte aber sanfte Lenkung (zum Beispiel durch Bekanntmachung mit einer ihrer Freundinnen, welche praktischer-weise die Tochter eines führenden schwedischen Ökonomen war, oder durch strategisches Platzieren von Büchern wirtschaftswissenschaftlichen Inhalts) ein anderes Gebiet näher, die Ökonomie. Myrdal schloss sein Jura-Studium ab und versank in den Wirtschaftswissenschaften. Ein Stipendium der Wissenschafts-akademie ermöglichte ihm darüber hinaus, währenddessen Studienreisen nach England und Deutschland zu unternehmen. Unter der Anleitung Gustav Cassels, welcher sein Talent erkannte und ihn forthin protegierte, schloss er auch sein zweites Studium ab und promovierte nach nur vier Jahren. Diese Leistung ermöglichte es ihm, in den Kreis der angesehensten Wirtschaftswissenschaftler (Stockholmer Schule) aufzusteigen, in welchem unter anderem sein Mentor Gustav Cassel, Knut Wicksell, Eli Heckscher und Bertil Ohlin verkehrten.[9],[10],[11]
Die sogenannte Stockholmer Schule orientierte sich in erster Linie an der österreichischen Nationalökonomie, welche sich, stark vereinfacht dargestellt, mit dem Gleichgewicht des Marktes, den Bedingungen der Preisbildung und der Stabilität beschäftigte, wobei die Stockholmer Schule punktuell abwich. Des Weiteren hatte der in Deutschland als Kathedersozialist verspottete Gustav Schmoller ebenfalls Einfluss auf die Stockholmer Schule. Gustav Cassel war einst Student bei Schmoller in Berlin und unterhielt noch Beziehungen zu ihm, wodurch die Schweden ihre Theorien mittels Veröffentlichungen im deutschsprachigen Raum einer größeren Leserschaft zur Kenntnis bringen konnten. Seine akademische Karriere setze er zunächst an der Stockholmer Universität und später in Genf fort.[12],[13],[14],[15]
Politisch hingegen kann Myrdal zu diesem Zeitpunkt keinem Lager klar zugeordnet werden. Durch sein wissenschaftliches Fortschreiten hatte er zwar den Kontakt zu sozialdemokratischen Kreisen bekommen und seine frühe Prägung durch seinen Vater und Rudolf Kjellén verblasste zusehends, doch "politiskt var hans åsikter relativt obestämda"[16] (politisch waren seine Ansichten relativ unbestimmt [Ü.d.V.]) gegen Ende der 1920er Jahre.
3. Die "Schwedische Mentalität"
Die Familie und die Ausbildung, welche Gunnar Myrdal in den ersten drei Dekaden seines Lebens prägten, sind von enormer Wichtigkeit für das Verständnis seiner politischen Ansichten bis hin zu seiner Sozialismuskonzeption. Hinzu kommt jedoch eine weitere Komponente, welche gerade von kontinentaleuropäischen Forschern oftmals unterschätzt wird, nämlich der Einfluss der schwedischen Gesellschaft und der Landeskultur. Myrdal selbst beschrieb es einst so: Die schwedische Kultur hat im Ganzen eine stark rationalistische und technische Neigung. Die Bevölkerung hat trotz eines hoch entwickelten Individualismus vielleicht einen stärkeren Sinn für die kollektive Teilnahme an sozialen Angelegenheiten und ein größeres Gefühl der Verantwortung für das Wohlsein des ganzen Landes als Bevölkerungen anderer Länder besitzen.[17],[18]
Wodurch sich diese spezielle Mentalität entwickelt hat, ist sicherlich nicht in Gänze zu beantworten. Es gibt jedoch einige Faktoren, die in Betracht gezogen werden müssen. Das skandinavische Land verfügt über eine lange korporatistische Tradition. Minderheitsregierungen sind nichts besonderes und die Aussicht auf eine solche ängstigt die Schweden nicht annähernd so wie die Deutschen. Während über mehrere Jahrhunderte die kontinentaleuropäischen Bauern in Leibeigenschaft unterjocht wurden, bildeten sie in Schweden den vierten Stand. In der "Stormaktstiden" [Großmachtzeit, Ü.d.V.] spielte Schweden eine wichtige Rolle im Konzert der europäischen Großmächte, unter anderem auch im 30-jährigen-Krieg.[19] Danach zogen sich die Schweden in eine Phase des Isolationismus zurück. Während der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges verhielten sie sich neutral, weswegen sich ihr Hauptaugenmerk viel eher auf innere denn auf äußere Angelegenheiten richtete. Darüber hinaus entwickelte sich Schweden von einer Agrar- in eine urbane Gesellschaft, ohne dabei viele Zivilisationsprobleme, denen sich andere Staaten stellen mussten, zu importieren.[20],[21] "Of prime importance is the striking homogeneity of Swedish society and culture. Also, there is unusual homogeneity in language, ethnic composition, and religion."[22]
Aus diesen Gründen kristallisierte sich in Schweden eine andere Form des Gesellschaftsverständnisses heraus. Das zu veranschaulichen ermöglicht schon der Begriff für das Wort Gesellschaft, "samhälle". Er ist positiv konnotiert und umfasst eben nicht nur alle Individuen, sondern auch eine Gemeinschaft, die Kommunen, die Provinzen, die Städte und auch den Staat an sich.[23]
Diese Form der Gesellschaftsorganisation wird oftmals als Mittelweg zwischen den Extremen beschrieben. Schon 1936 bescheinigte der Amerikaner Marquis Childs Schweden, auf einem "fairly well-designed middle course"[24] zu sein. Diese Kombination von Faktoren führt zu einer Melange, die Åke Daun "Swedish Mentality"[25] nennt. Jeanne Marie O'Toole charakterisiert diese durch die Herausstellung einiger Merkmale. Es gäbe eine schwedische Bereitschaft zum Kompromiss. Darüber hinaus existiert eine Abneigung, die Sorgen einer Minderheit zu einer Obsession der Mehrheit werden zu lassen.
[...]
[1] Gustafsson, Bo: Gunnar Myrdal – 1898-1987 – Liv och verk, Uppsala Papers In Economic History, Research Report No. 25, Uppsala, 1990, S. 28.
[2] Vgl. Gustafsson, S. 3.
[3] Ebenda.
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.
[6] Ebenda, S. 4.
[7] Vgl. Ebenda S. 3f
[8] Vgl. Schultz, Helga: Europäischer Sozialismus immer anders Karl Kautsky - George Bernard Shaw - Jean Jaurès - Józef Pilsudski - Alexander Stambolijski - Wladimir Medem - Leo Trotzki - Otto Bauer - Andreu Nin - Josip Broz Tito - Herbert Marcuse - Alva und Gunnar Myrdal, Berlin, 2014, S. 449.
[9] Vgl. Carlson, Benny: Gunnar Myrdal, Econ Journal Watch 10(3), Fairfax, 2013, S. 507.
[10] Vgl. Schultz, S. 449.
[11] Vgl. Balabkins, Nicholas W.: Gunnar Myrdal (1898-1987): A Memorial Tribute, in: Eastern Economic Journal, Volume XIV, No 1, January-March 1988, Basingstoke, 1988, S. 99.
[12] Vgl, Schultz, S. 449.
[13] Vgl. Appleqvist, Örjan: Gunnar Myrdal i svensk politik 1943-1947 – En svensk Roosevelt och hans vantolkade nederlag, in: NORDEUROPAFORUMforum – Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, 1/1999, 9. Jahrgang, Berlin, S. 33-51.
[14] Vgl, Balabkins, S. 100.
[15] Vgl. Myrdal, Gunnar: Der Gleichgewichtsbegriff als Instrument der geldtheoretischen Analyse; in: Hayek, Friedrich A. (Hrsg.): Beitrage zur Geldtheorie – von Marco Fanno, Marius W. Holtrop, Johan G. Koopmans, Gunar Myrdal, Knut Wicksell, Wien, 1933, S. 370.
[16] Gustfsson, S. 7.
[17] Vgl. O'Toole, Jeanne Marie: An Analysis of Gunnar Myrdal's Social and Educational Theory, Dissertation, Loyola University Chicago, Chicago, 1972, S. 4.
[18] Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver: Variations of the Welfare State Great Britain, Sweden, France and Germany – Between Capitalism and Socialism, Heidelberg, New York Dordrecht & London, 2013, S. 120f..
[19] Vgl. Ebenda, S. 115.
[20] Vgl. O'Toole, S. 14f.
[21] Vgl. Kaufmann, S. 115ff.
[22] O'Toole, S. 15.
[23] Vgl. Etzemüller, Thomas: Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden, Bielefeld, 2010, S. 113.
[24] Etzemüller, Thomas: >>Swedish Modern<<, in: Mittelweg 36 – Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 6/2009, Hamburg, 2009, S. 49.
[25] Daun, Åke: Swedish Mentality, Pennsylvania, 1996.