Nietzsches Selbstvernichtung im Versuch, den Nihilismus durch amor fati zu überwinden


Essay, 2016

47 Seiten


Leseprobe


2
,,Indem Nietzsche zurücksah, sah er voraus die Heraufkunft des ,europäischen Nihilismus'
(...). ,Was ich erzähle' ­ heißt es im Vorwort des Willens zu Macht ­ ,ist die Geschichte der
nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen
kann: Die Heraufkunft des Nihilismus.'"
1
Weiter heißt es bei Löwith:
,,Diesen europäischen Nihilismus hat Nietzsche in seinem
geschichtlichen Ursprung und seinen Erscheinungsweisen mit
psychologischer Meisterschaft sichtbar gemacht, in der Wissenschaft
und Kunst, in der Philosophie und Politik. Das Resultat seiner
15jährigen Besinnung war der Wille zur Macht, ineins mit der Lehre
von der ewigen Wiederkunft."
2
,,Über Nietzsches Selbstvernichtung" heißt das letzte Kapitel des Buches von Ludwig Klages
Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, dem Löwith in seinem Nietzsche-Band
(Sämtliche Schriften Bd. 6) unter dem Titel ,,Nietzsche im Lichte der Philosophie von Ludwig
Klages"
3
in Bezug auf die scharfsinnige Analyse, ,,warum und wie der Philologe Nietzsche
zum ,ersten Psychologen' wurde"
4
, ,,vorbehaltlos eine überragende Bedeutung"
5
zuspricht. So
urteilt Löwith, obwohl er bei Klages eine ,,Befangenheit im Geiste einer dem Geiste
feindlichen Zeit"
6
bemängeln muss: ,,Klages, in seinem geistreichen Widerwillen gegen Wille
und Geist [halbiert] Nietzsche und [erklärt] den Nietzsche der dionysischen Philosophie auf
Kosten des Willens zur Macht und zum Nichts als einen ,orgiastischen' Philosophen des
,Leibes' und der ,Seele'"
7
. Sei's drum: Selbst unter Verzicht auf den metaphysischen
Hintergrund des Geistes als Widersacher der Seele springt einem in der Analyse von
Nietzsches Selbstvernichtung aus der Sicht Klages' noch viel Überzeugendes ins Auge, das
Löwiths Interpretation ergänzt. Genannt seien noch einige hellsichtige Erkenntnisse in der
,guten Hälfte' der von Löwith erwähnten ,Halbierung': Nietzsche sei ,,der
Entwicklungstheoretiker des Wertcharakters der Allgemeinbegriffe"
8
. Beispiele: ,,Im Sohn
wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war", oder: ,,Wir leben in den Überresten der
Empfindungen unserer Urahnen", oder: ,,Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden, auch ihr
Wahnsinn bricht an uns aus."
9
- Lauter kleine Erzählungen als Bestandteile großer.
1
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd.4: Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1988, S. 241
2
ebd., S. 242
3
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche, Stuttgart 1987, S. 7-52
4
ebd., S. 14
5
ebd., S. 12
6
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd.4: Von Hegel zu Nietzsche a.a.o., S. 244
7
ebd.
8
Klages, Ludwig: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Bonn 5. Aufl.1989, S. 57
9
ebd.

3
Unter zahllosen Nietzsche-Interpreten hat kaum einer wie Klages die ,,strenge
Folgerichtigkeit in Nietzsches Produktion zu Gesicht"
10
bekommen. Er glaubt eine ,,geradezu
monomanische Einheitlichkeit in Nietzsches buntem Schrifttum" zu erkennen. Mit diesen
Worten beschreibt Löwith die Klagessche Entdeckung und führt dazu weiter aus: ,,Es sind
immer dieselben, im Grunde ein und dieselbe Frage, der Nietzsche sein Leben lang verhaftet
blieb."
11
Er billigt Klages auch zu, dass er ,,eine so dunkle Lehre wie die von der ewigen
Wiederkunft teilweise aufzuschließen vermag."
12
Klages bezeichnet Nietzsches Philosophie
als ,,Selbstauslegung seiner Persönlichkeit" und zitiert dazu aus Jenseits von Gut und Böse:
,,Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede große Philosophie bisher war: nämlich das
Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires."
13
Für Löwith ist ,,Nietzsches Philosophie: ein System in Aphorismen"
14
. Er weist auf die
,,Periodisierung von Nietzsches Schriften" hin und schreibt dazu: ,,Dem verborgenem System
in Nietzsches Schriften widerspricht nur scheinbar, daß sich seine Philosophie, zugleich mit
ihm selbst, bei der Durchführung seines Experimentes gewandelt hat."
15
. Vom
Versuchscharakter seiner Philosophie schreibt Nietzsche häufig, am Anfang wie am Ende.
,,Versuchsweise nimmt Nietzsches Experimentalphilosophie die Möglichkeiten des
grundsätzlichen Nihilismus vorweg ­ um zum Umgekehrten, dem ewigen Kreislauf des Seins
hindurchzukommen."
16
Dieses Selbstexperiment eines exzessiv reflektierenden Bewusstseins , das mit dem Verlust
des Bewusstseins endet, soll beschrieben werden.
Die Periodisierung in 3 ­ durch Lebenskrisen getrennten ­ Perioden begründet Löwith, ,,ist
keine äußerliche Schematisierung, die man ohne Schaden für das Verständnis von Nietzsches
System durch eine andere und bessere ersetzen könnte; sie wird von Nietzsche selbst in ihrer
vollen Bedeutung bestätigt."
17
,,Die Periodisierung von Nietzsches Schriften" heißt und
beschreibt ein Kapitel in Löwiths fast 300 Seiten umfassenden Schrift ,,Nietzsches
Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen". Darin heißt es:
10
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.o., S. 15
11
ebd.
12
ebd.
13
zit. n. Klages, Ludwig: Die psychologischen Errungenschaften..., a.a.O., S. 71
14
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S. 111
15
ebd., S. 123
16
ebd., S. 112
17
ebd., S 126

4
,,Die erste Periode umfaßt an von ihm selbst veröffentlichten Schriften
die Geburt der Tragödie und die Unzeitgemäßen Betrachtungen; die
zweite die Schriften der ,Pflugschar': Menschliches-
Allzumenschliches, Morgenröte und die vier ersten Bücher der
Fröhlichen Wissenschaft. Die dritte Periode beginnt auf dem Grunde
des Gedankens der ewigen Wiederkehr mit dem Zarathustra und
endet mit Ecce homo. Sie allein enthält Nietzsches eigentliche
Philosophie."
18
Hierzu führt Löwith weiter aus:
,,Im Vorredematerial von 1886 hat Nietzsche seine Schriften ... selber
gruppiert und die Schriften der zweiten Periode, von seiner letzten
Philosophie des ,Mittags' her, als eine Philosophie der ,Morgenröte'
und des ,Vormittags' verstanden. Sie sind ihm der Zugang zum
Verständnis desjenigen Typus, in dem sich der frei gewordene Geist
selber nochmals von seiner äußersten Freiheit zum amor fati befreit."
19
Im ,,Nachgesang" zu Jenseits von Gut und Böse beansprucht Nietzsche für sich: ,,Nur wer
sich wandelt, bleibt mit mir verwandt."
20
Voraus geht die Frage, ob er ein ,,Andrer ward"
21
,
sich selber fremd. Diese Frage beantwortet Nietzsche wiederholt, z.B. in der Vorrede zu
Menschliches, Allzumenschliches II mit dem Bild der Häutung einer Schlange als ,,Pessimist,
der oft genug aus der Haut gefahren, aber immer wieder in sie hineingefahren ist."
22
Diese
Selbstauslegung besagt, es kann sich nur wandeln, wer sich gleich geblieben ist und in seinem
Anderswerden derselbe geblieben ist. Im Zarathustra setzt Nietzsche diese Beschreibung der
Wandlungen eines Gleichen fort, und zwar gleich in der ersten Rede, die ,,drei
Verwandlungen"
23
ein- und desselben Geistes beschreibt. Löwith führt dazu aus:
,,Diese zweifache Wendung des Wegs, auf dem einen Wege zur
Weisheit, von dem ,Du sollst' des gläubigen zum ,Ich will' des
freigewordenen Geistes und von ihm zum ,Ich bin' da und kehre
immer wieder, kennzeichnet das philosophische System von Nietzsche
im Ganzen. Ein erster Entschluß zum ,Ich will' macht frei von allen
bisherigen Bindungen und zum Nihilismus. Der zweite Entschluß: sich
aus der Freiheit selbst zu entwerfen, ist die Kehrseite einer Eingebung,
empfangen vom höchsten Gestirn des Seins. Ein ,doppelter Wille',
der sich von seiner errungenen Freiheit zum Nichts zum amor fati
befreit, kehrt den extremen Nihilismus eines zum Nichts
18
ebd., S. 125
19
ebd., S. 127
20
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 7: Jenseits von Gut und Böse ­ Zur Genealogie der Moral,
Leipzig 1923, S. 279
21
ebd., S. 278
22
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 3: Menschliches Allzumenschliches ­ Vermischte Meinungen
und Sprüche - (Menschliches Allzumenschliches II, Erste Abtheilung), Leipzig 1922, S. 424
23
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 6: Also sprach Zarathustra, Leipzig 1923, S. 33

5
entschlossenen Daseins um in das notwendige Wollen der ewig
notwendigen Wiederkehr des Gleichen."
24
Operational in der Vorgehensweise von Thema und Intention dieser Arbeit bestimmt, suche
ich den Weg Nietzsches in folgenden drei Stufen zu beschreiben:
A Das Dionysische oder Instinkt gegen Vernünftigkeit
a) Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik
b) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
B Wert wissenschaftlicher Erkenntnis
C Seinsgewissheit (Amor fati) gegen Nihilismus (,,Das Sinnlose" ­ ewig)
A Das Dionysische oder Instinkt gegen Vernünftigkeit
a) Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik
Die Geburt der Tragödie war im Januar 1872 Nietzsches philosophischer Erstling und somit
auch die Geburt seiner Philosophie. In seiner Schrift entdeckt und beschreibt er die
Untergründe des Dionysischen. Der Begriff ,dionysisch' taucht in Nietzsches Werk wieder
und wieder auf. Noch am Ende seines geistigen Schaffens hielt er sich für den ,,letzten Jünger
des Dionysos". Klages meint in seinem Buch über Die psychologischen Errungenschaften
Nietzsches, die Geburt der Tragödie sei das eigentliche dionysische Zeugnis Nietzsches
gewesen, statt des Zarathustra, den er selbst dafür hielt
25
. Vordergründig geht Nietzsche in
seinem Erstlingswerk von der Unterscheidung der griechischen Göttergestalten des Apollo
und des Dionysos aus: Apollo als der geistige Gott des ,schönen Scheins', der Gott von
Delphi und der gestaltenreiche Dionysos, der fremde Gott aus Thrakien. Das Begriffspaar
dionysisch und apollinisch, das bald von dem viel fundamentaleren Gegensatz dionysisch und
sokratisch ersetzt wird, übernimmt Nietzsche aus dem zweiten Buch von Platos Gesetzen, wie
Hans M. Wolff in seinem Buch Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts schreibt
26
.
Allerdings merkt er dazu an
27
, der Begriff habe bei Nietzsche ,,pythagoreischen Anstrich". Er
24
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S. 128f.
25
vgl. Klages, Ludwig: Die psychologischen Errungenschaften..., a.a.O., S. 204
26
vgl. Wolff, Hans M.: Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts, Bern 1956, S. 36
27
ebd., S. 301

6
führt weiter aus: ,,Der Begriff des Dionysischen bezeichnet die Kunst, die aus den Tiefen des
Unbewußten quillt; apollinische Kunst entspringt dagegen aus einem bewußten Streben nach
höchster Schönheit und ist in erster Linie ein Erzeugnis des Intellekts."
28
Vor dem
Hintergrund einer am Mythos orientierten Gesamtdeutung des Griechentums beschreibt
Nietzsche Aufstieg und Verfall der griechischen Tragödie, die ,,in ihrer ältesten Gestalt nur
die Leiden des Dionysos zum Gegenstand hatte."
29
Der Deutung des Griechentums als auf
einer tief tragischen Grunderfahrung des Lebens beruhend, liegt die eigene Seinserfahrung
des jungen Nietzsche zugrunde, die für ihn
,,zum Ausgangspunkt seiner eigenen Vision einer neuen
Welterfahrung im Zeichen des Dionysos-Mythos wird. Diese
Grunderfahrung weist auf eine innere Dynamik im Walten der Götter,
die Macht und Ohnmacht des Menschenlebens, das in allem Seienden
wirkende Schicksalsgesetz, dem selbst die Götter nicht enthoben sind.
So gesehen ist der Vorgang des Lebens als solcher tragisch, weil er
sich im Zerstören erfüllt. Nietzsches Tragödienschrift ist der Boden,
aus dem seine Philosophie eines tragischen Weltdenkens erwächst."
30
Schließlich hat die Geburt den Untertitel ,,Griechentum und Pessimismus".
Woran aber ging das ,,Kunstwerk der griechischen Tragödie", das als heilsames
Befreiungsritual so sehr benötigt wurde, zugrunde? Sie starb durch einen ,,Zuschauer, der die
Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete."
31
Dieser Zuschauer, dessen
,,Cyklopenauge" voll moralischen Entsetzens auf der Tragödie ruhte, war ,,ein ganz
neugeborener Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und
das Sokratische."
32
Dem Dualismus Leben ­ Geist entsprechend, ergibt sich in der Geburt der Tragödie die
Gegenüberstellung zweier Menschentypen: der dionysische und der sokratische Mensch. Als
,,die zwei entscheidenden Neuerungen des Buchs" bezeichnet Nietzsche in Ecce homo:
,,einmal das Verständnis des dionysischen Phänomens bei den Griechen...Das Andre ist das
Verständnis des Sokratismus: Sokrates als Werkzeug der griechischen Auflösung, als
28
ebd., S. 36
29
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie ­ Schriften aus den Jahren 1869-
1873, Leipzig 1922, S. 100
30
Ries, Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung, a.a.O., S. 25
31
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 112
32
ebd., S. 114

7
typischer décadent zum ersten Male erkannt. ,Vernünftigkeit' gegen Instinkt. Die
,Vernünftigkeit' um jeden Preis als gefährliche, als leben-untergrabende Gewalt!"
33
Den besten Einblick in das Wesen des Dionysischen bekommt man, wenn man die Analogie
des Rausches gebraucht. ,,Entweder durch den Einfluß des narkotischen Getränkes...oder bei
dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen
jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjektive zu völliger
Selbstvergessenheit hinschwindet."
34
Des weiteren schreibt Nietzsche: ,,In jenen griechischen
Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre
Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe."
35
Die dionysischen Orgien haben die
Bedeutung von ,,Welterlösungsfesten und Verklärungstagen."
36
,,Unter dem Zauber des
Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch zusammen:
auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit
ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen."
37
Die entscheidenden Züge an diesem Menschenbild stellen sich folgendermaßen dar: Die
wahre Größe des Menschen liegt nicht im Intellekt, sondern im Instinkt, im Intuitiven, im
Unbewussten. Der Mensch erhebt sich umso höher, je mehr es ihm gelingt, den Trugschleier
der Maja, den das Bewusstsein um das ,Ur-Eine' hüllt, zu zerreißen und sich in einer Art unio
mystica mit dem All-Einen zu verbinden. Je weniger das Bewusstsein ausgebildet, je enger ist
die Verbundenheit mit dem Ur-Einen. Das ,,glühende Leben dionysischer Schwärmer"
38
ist
eine Offenbarung des Dings an sich, das in Anlehnung an Schopenhauer der Weltwille ist.
Der Mensch, als Träger des Dionysischen, ist nicht wollend, sondern pathisch; er erfährt
etwas an sich, ein Prinzip, das sein waches Bewusstsein überwältigt und ihn in einen verloren
gegangenen Rhythmus des Lebendigen wieder einfügt. Im Dionysischen fließen alle
Lebensäußerungen aus einer Quelle, aus dem Weltwillen, der den Eigenwillen entmächtigt
und den Intellekt, der den Menschen in Gegensatz zu dem Urquell alles Lebens bringt,
auslöscht.
Während der dionysische Mensch auf das Unbewusste eingeht, und so unmittelbar am Wesen
der Dinge teil hat, an einer Weisheit, die der des Intellekts überlegen ist, besteht der Hauptzug
33
Nietzsches Werke, Bd. 8: Schriften aus dem Jahr 1888: Der Fall Wagner ...a.a.O., S. 368
34
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 51
35
ebd., S. 56
36
ebd., S. 55f.
37
ebd., S. 52
38
ebd.

8
des sokratischen Menschen darin, alles in die Sphäre des Bewusstseins zu übertragen und dem
Intellekt die Führung zuzuweisen. Das bedeutet aber, dass das Gefühl für die Einheit der Welt
verloren geht: Indem der Intellekt seinem Grundprinzip, dem principium individuationis,
absolute Geltung verschafft, bleibt das Erkennen auf die Oberfläche beschränkt. Indem der
sokratische Mensch es zu seinem Ziel macht, sich den Instinkten zu entziehen, richtet sich
sein Kampf gegen die eigentlichen Quellen des Lebens, sodass sein Dasein zur
Unfruchtbarkeit verurteilt ist.
,,Mit Staunen erkannte er
[Sokrates], daß alle jene Berühmtheiten selbst
[nämlich Staatsmänner, Redner, Dichter und Künstler] über ihren Beruf ohne
richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinkt trieben.
,Nur aus Instinkt': mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt
der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus ebenso die
bestehende Kunst wie die bestehende Ethik. Wohin er seine prüfenden
Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns
und schließt aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und
Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus glaubte
Sokrates das Dasein corrigiren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der
Miene der Nichtachtung und der Überlegenheit ... in eine Welt hinein, deren
Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum größten Glücke rechnen
würden."
39
,,Das Problem des Sokrates"
40
hat Nietzsche wieder und wieder beschäftigt. Sechzehn Jahre
später, nämlich 1888, in der Götzendämmerung, meint Nietzsche: Sokrates habe für eine
hoffnungslos weitgediehene Anarchie der Instinkte den, wenn auch trübenden, Anschein eines
Gegenmittels erfunden, indem er ,,gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in
Permanenz herstellen [wollte] ­ das Tageslicht der Vernunft. Man muß klug, klar, hell um
jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, an's Unbewußte führt hinab..."
41
In
Sokrates sieht Nietzsche ,,den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten
Weltgeschichte"
42
. Er erkennt in Sokrates den Typus einer vor ihm nicht möglich gewesenen
Daseinsform, ,,den Typus des theoretischen Menschen"
43
. In der Person des Sokrates sei
zuerst jene Wahnvorstellung zur Welt gekommen, die die Wissenschaft charakterisiert: ,,jener
unerschütterliche Glaube, daß das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten
Abgründe des Seins reiche, und daß das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern
sogar zu corrigiren im Stande sei."
44
Sokrates ist ,,das Urbild des theoretischen Optimisten"
45
,
der, im Glauben an die Ergründlichkeit der Geheimnisse der Natur, ,,dem Wissen und der
39
ebd., S. 122
40
Kapitelüberschrift in der ,,Götzendämmerung", Nietzsches Werke Bd. 8, a.a.O., S. 94
41
ebd., S. 100
42
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 134
43
ebd., S. 132
44
ebd., S. 133
45
ebd., S. 135

9
Erkenntnis die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Übel an sich
begreift."
46
Sokrates sei ,,der specifische Nicht-Mystiker ..., in dem die logische Natur durch
eine Superfötation ebenso excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinktive
Weisheit."
47
Aus der sokratischen Lehre, dass Untugenden, Schwächen und Mängel in
Abwesenheit der Einsicht bestehen, ergibt sich, dass selbst die hochvortreffliche Handlung,
falls ohne Einsicht und ,nur aus Instinkt' vollbracht, allermindestens keinen moralischen Wert
besitzt.
Nietzsche sucht ,,zu begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von
Vernunft = Tugend = Glück stammt: jene bizarrste Gleichsetzung, die es giebt und die in
Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat."
48
Sokrates ist ihm ,,eine wahre
Monstrosität per defectum!"
49
,,Die Instinkte bekämpfen müssen ­ das ist die Formel für
décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt."
50
Sokrates lebt einen flachen Optimismus, der die wahre Beschaffenheit der Welt verkennt. Um
Abgründe des Lebens, um die tragische Komponente des Seins weiß er nicht. Er ist auch ohne
Gefühl für die Verbundenheit aller Wesen. Das principium individuationis setzt er absolut.
Für Ries ist ,,die Geburt der Tragödie eine ästhetische Transponierung der Schopenhauer-
schen Willensmetaphysik in die Begriffssprache der griechischen Mythologie"
51
Hans M.
Wolff macht in seinem bereits erwähnten Nietzsche-Buch auf ,,einen wesentlichen Gegensatz
zu Schopenhauer aufmerksam"
52
: zwar lehrt auch er, dass wahre Erkenntnis durch Intuition,
nicht durch den Intellekt zu erreichen ist, aber ganz gewiss nicht durch Intuition und
Leidenschaften, die zum Weltwillen gehören. ,,Schopenhauer sieht in der ,genialen
Erkenntnis' gerade die Erlösung vom Wollen, vermöge derer der Mensch einen Zustand
ruhiger Abgeklärtheit erreicht."
53
Nietzsche folge hier vielmehr der Philosophie des
Unbewussten von Eduard von Hartmann, den er ­ später mit abschätzigem Sarkasmus über
ihn urteilend ­ zu Zeit der Geburt sehr schätzte. Dies beweist ein Brief an Rohde vom Februar
1870, den Wolff zitiert. Hartmann ist überzeugt, ,,daß der Mensch sich umso höher erhebt, je
46
ebd.
47
ebd., S. 123
48
Nietzsches Werke Bd. 8 (Götzendämmerung, Das Problem des Sokrates), a.a.O., §4, S. 96
49
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 123
50
Nietzsches Werke Bd. 8 (Götzendämmerung, Das Problem des Sokrates), a.a.O.,§ 11, S. 100
51
Ries, Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung, 6. Aufl. Hamburg 2001, S. 16
52
Wolff, Hans M.: Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts, a.a.O., S. 42
53
ebd., S. 43

10
mehr es ihm gelingt, den Trugschleier der Maja, den das Bewußtsein, der Intellekt über das
Ding an sich breitet, zu zerreißen und in eine Art unio mystica mit dem All-Einen zu treten:"
54
,,Es gibt gar keine näher liegende Konzeption für den mystisch Erregbaren, als die, die Welt
als einheitliches Wesen aufzufassen, sich als Teil dieses Wesens zu fühlen, aber als Teil, in
dem zugleich das Ganze wohnt."
55
Abgesehen davon, dass diese Sätze Hartmanns auch
Klages zugeordnet werden könnten ­ der in seinem Hauptwerk Hartmann nur mit einer
kleinen Fußnote würdigt
56
- ist ,,die Verwandtschaft von Hartmanns mystisch erregbaren und
Nietzsches dionysischen Menschen offensichtlich."
57
Auch seine Schilderung der Vernunft
könnte als ,sokratisch' definiert werden: ,,Die bewußte Vernunft ist nämlich nur negierend,
kritisierend, kontrollierend, korrigierend, messend, vergleichend, kombinierend, ein- und
unterordnend, Allgemeines aus Besonderem induzierend, den besonderen Fall nach der
allgemeinen Regel einrichtend, aber niemals ist sie schöpferisch produktiv, niemals
erfinderisch; hierin hängt der Mensch ganz vom Unbewussten ab"
58
.
Nietzsche betrachtet Sokratismus nicht nur als unannehmbar, sondern auch und vornehmlich
als ungriechisch. Dagegen sind dionysisches und apollinisches Menschentum aufeinander
angewiesen und ergänzen sich, wobei der ontologische Primat beim Dionysischen liegt. Das
Apollinische verhält sich zu ihm wie die Erscheinung zum Ding an sich. Der griechische
Apollinismus ist aus einem dionysischen Untergrund herausgewachsen: der dionysische
Grieche hatte es nötig, apollinisch zu werden. Die ,griechische Heiterkeit' der delphischen
Welt des Apoll gründet auf lebensnotwendigen Illusionen, die Klarheit, Maß und
Besonnenheit für den Menschen der Polis sichern. Apollinisch ist Bewahrung der
Individuation. Dionysisch ist deren Auflösung, ein Einssein mit dem überströmend
Lebendigen. Wie beschrieben, verbindet dionysisches Menschentum ursprüngliche
Lebensfülle mit tiefster Lebensweisheit. Leben und Erkennen sind in Einheit. Das geistige
Erkennen verbleibt im Dienste des Lebens, kann dieses ergänzen und steigern. Das wäre eine
geglückte Synthese von Leben und Geist.
Aber da sind einige Züge, die das ganze so hoffnungsvolle Bild wieder unsicher werden und
ins Ungewisse zerfließen lassen. Bis hinein in die sprachlichen Formulierungen ist ein
gewisser Unwirklichkeitscharakter der großartigen Vision vom Dionysischen zu verspüren:
54
ebd., S. 44
55
Hartmann, zit.n. Wolff, Hans M.: Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts, a.a.O., S. 44
56
Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher der Seele, 6. Aufl., Bonn 1981, S. 790
57
Wolff, Hans M.: Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts, a.a.O., S. 44
58
ebd.

11
,,Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der
Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem
Joche schreiten Panther und Tiger (...). Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und
Honig giebt, so tönt auch aus ihm [dem Menschen] etwas Übernatürliches".
59
Ein ,Land, in
dem Milch und Honig fließen', pflegt es aber nur in der Fabel zu geben. Sodann wurde schon
ein nur transitorisch anmutender Charakter des Dionysischen angedeutet: in Wendungen wie
,,durch den Einfluß des narkotischen Getränks ... oder beim Nahen des Frühlings erwachen
jene dionysischen Regungen"
60
. Rund 30 Seiten später bekommen wir ein anderes Bild des
Dionysischen zu Gesicht:
,,Die Verzückung des dionysischen Zustandes, mit seiner Vernichtung
der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins, enthält
nämlich während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich
alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet
sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und
der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene
alltägliche Wirklichkeit wieder in's Bewußtsein tritt, wird sie mit Ekel
als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung
ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische
Mensch Ähnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren
Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt
sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der
Dinge ändern ... Die Erkenntniß tödtet das Handeln, zum Handeln
gehört das Umschleiertsein durch die Illusion ... nicht das Reflektiren,
nein! ­ die wahre Erkenntniß, der Einblick in die grauenhafte
Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibendes Motiv, bei
Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängt
kein Trost mehr ... das Dasein wird, sammt seiner gleißenden
Widerspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits,
verneint. In der Bewußtheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt
der Mensch überall das Entsetzliche oder Absurde des Seins ... es
ekelt ihn."
61
Jetzt erst erfahren wir, dass der dionysische Mensch auch ohne Ekstase, ,ohne dionysische
Wirklichkeit' sein kann. Was wir vorher als wesentliche, d.h. dauernde Charakteristika des
dionysischen Menschen aufgefasst hatten, das stellt sich nun heraus als sozusagen nur zu der
Festtagsstimmung des dionysischen Menschen gehörig, die den Namen hergegeben hat für die
Gesamtbezeichnung dieses Menschentypus. Daneben aber hat dieser Mensch seine
,alltägliche Wirklichkeit', und dieser Alltag des dionysischen Menschen sieht ganz anders,
nämlich trostlos aus. Nun müssen wir erkennen, dass er auch noch ­ und sogar überwiegend
59
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 52
60
ebd., S. 51
61
ebd., S. 83f.

12
­ einer ganz anderen, diametral entgegengesetzten Lebenshaltung fähig ist, die durch das
reine Walten des Intellekts bestimmt ist.
Hans M. Wolff hat in seinem Nietzsche-Buch diesen fast immer übersehenen Wesenszug am
,dionysischen Menschen' Nietzsches deutlich ans Licht gebracht, weshalb seine Formulierung
hier wiedergegeben werden soll:
,,Mit diesen Angaben werden nun aber Begriffe wie dionysisches
Leben und dionysisches Menschentum unhaltbar, jedenfalls in dem
Sinne, in dem sie früher gebraucht worden waren, denn da sich die
Ekstase als zeitlich beschränkt erweist, kann nur noch von
,dionysischen Zuständen' die Rede sein, denen der Zustand der
Ernüchterung als der Normalzustand gegenübersteht. Das Bild des
dionysischen Menschen hat sich also mit einem Schlage radikal
verwandelt. Von der großen Einheit aller Lebensäußerungen kann
keine Rede mehr sein; sobald die Ekstase nachläßt und die Fülle der
Gesichte schwindet, wird aus dem von glühendem Leben beseelten
Schwärmer der extreme Nihilist, den das Erkennen zur Verneinung
des Lebens führt"
62
.
In dieser Verneinung muss er den sokratischen Menschen noch bei weitem übertreffen, denn
da dieser, sowohl von Wahrheit wie Lebensfülle ausgeschlossen, in seiner ,flachen
Besinnung' gar nicht an den tragischen Urgrund des Daseins heranreicht und er vom Leben
nur eine gewisse Oberfläche zu streifen und (nur das ihm selbst gleichsam Antipodische
daran) zu begreifen vermag ­ eben die ,Anarchie der Instinkte' und den ,Mangel an Einsicht',
richtet sich sein Wüten gegen das Leben als gegen etwas, an dem er selbst innerlich keinen
Anteil hat; es muss also auch nicht zur Selbstverneinung führen. Während also der sokratische
Mensch, infolge seiner Verkennung der wahren Beschaffenheit des Daseins, ein heiteres
Leben zu führen vermag, wofür Sokrates selbst das beste Beispiel ist, steht der dionysische
Mensch im Zustand der Ernüchterung ohne Rückhalt da, fehlen ihm die Hilfskonstrutionen
(Moral, Ethik, Wissenschaft). Indem seine ,tiefe Besinnung' ihn alle Illusionen durchschauen
lässt, gelangt er zu unverhüllter Einsicht in den grauenhaften Wesensgrund der Welt, der das
Dasein des Einzelnen in seinem gerade So- (und nicht anders) Sein sinnlos erscheinen lässt
wie Nietzsche an anderer Stelle in Auslegung der Ödipus-Sage noch einmal hervorhebt: ,,Ja
der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, daß die Weisheit und gerade die dionysische
Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, daß der, welcher durch sein Wissen die Natur in den
Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren
62
Wolff, Hans M.: Friedrich Nietzsche. ... , a.a.O., S. 51

13
habe. ,Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen; Weisheit ist ein Verbrechen an
der Natur': solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu"
63
.
Die Eigenart des dionysisch gestimmten Menschen besteht also darin, dass er, je nach seiner
seelischen Verfassung, sowohl höchster Bejahung wie äußerster Verneinung des Lebens fähig
ist. Während seine Verneinung intellektuell begründet ist, ist seine Bejahung das Ergebnis
ekstatischer Verzückung, deren ,lethargisches Element' es ihm ermöglicht, seine
Verzweiflung gelegentlich zu vergessen, d.h. zu leben?
Diese gedankliche Logik entspricht freilich nicht der Wirklichkeit der alltäglichen Welt des
Apollinischen, die als immer vorgestellt wird und den gelegentlichen Ausnahmezustand des
dionysischen Rausches ablöst und ertragen lässt. Diesen ,Alltag' in der Polis beschreibt
Nietzsche so:
,,Der Grieche kannte und verstand die Schrecken und
Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte
er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen
stellen...Um leben zu können, mußten die Griechen diese Götter, aus
tiefster Nöthigung schaffen ... Wie anders hätte jenes so reizbar
empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig
befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe,
von einer höheren Glorie umschlossen, in seinen Göttern gezeigt
worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die
zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des
Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehn, in der sich der
hellenische ,Wille' einen verklärenden Spiegel vorhielt."
64
Wenn auch in diesem Bilde ­ wie ja überhaupt in der Geburt der Tragödie ­ die
Remineszenzen an Schopenhauer unverkennbar sind, die den originären Nietzsche noch
teilweise verhüllen, muss doch auf einen bedeutsamen Unterschied hingewiesen werden, der,
trotz der düsteren Grundanschauung vom Sinn des Lebens, doch schon andeutungsweise
erkennen lässt, dass Nietzsche dennoch nicht Pessimist ist ­ im Sinne der traditionellen
Pessimisten (Buddha, Schopenhauer, Eduard von Hartmann). Er selbst bezeichnet sich als
,,den ersten tragischen Philosophen ... das heißt den äußersten Gegensatz und Antipoden eines
pessimistischen Philosophen."
65
Auch für Nietzsche bedeutet die Kunst, wie für
Schopenhauer, Erlösung, aber Erlösung nicht vom Willen zum Leben, sondern gerade zum
Leben. Das Wissen um den grauenhaften Urgrund der Welt ruft ein Schaudern hervor, das
63
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 95f.
64
ebd. S. 59f.
65
Nietzsches Werke Bd. 8 (Ecce homo), a.a.O., S. 371

14
den Rausch und damit die Macht der Instinkte vermehrt. Die Tragödie purgiert nicht von den
Emotionen, wie Aristoteles meint, sondern lädt diese auf. Der Hellene, ,,der in Gefahr ist, sich
nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen ..., rettet die Kunst, und durch
die Kunst rettet ihn sich ­ das Leben."
66
An anderer Stelle heißt es: ,,Schopenhauer irrt, wenn
er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht
,Resignation'"
67
. Weit davon entfernt, Willensverneinung (d.h. Verneinung des Weltwillens,
der den Eigenwillen des dionysischen Menschen entmächtigt) zu lehren , bewirkt die
Tragödie im Gegenteil Stimulation, sie ist kein ,Quietiv' (im Sinne Schopenhauers), sondern
ein ,Tonicum'. Aber dieses ,große Stimulanz des Lebens' steht eben nicht immer zur
Verfügung.
So trifft man in der Geburt der Tragödie auf einen krassen Dualismus zwischen Instinkt und
Intellekt, Unbewusstem und Bewusstsein, Leben und Geist, den der dionysische Mensch nur
vorübergehend zu überwinden vermag. Im Willen zur Macht findet man eine treffende Formel
für das Wesen des Dionysischen: ,,Dionysisch: zeitweilige Identifikation mit dem Prinzip des
Lebens"
68
, wobei der Akzent wieder auf das ,Zeitweilige' zu legen ist.
Welche Antworten scheinen sich aus der Geburt der Tragödie in Bezug auf Nietzsches
Grundproblem zu ergeben? Der Mensch ist nicht für die Wahrheit geschaffen, sondern für den
Irrtum ­ die Lüge. Der Baum der Erkenntnis ist nicht der des Lebens. Es ist die tiefste
Wahrheit, die der weise Silen, der Begleiter des Dionysos, auf die Frage, was für den
Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei ­ nur unter Zwang ­ preisgibt: ,,'Elendes
Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was
nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich
unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für
dich ­ bald zu sterben.'"
69
Die Ähnlichkeit des dionysischen Menschen mit Hamlet war von
Nietzsche bereits betont worden; man kann diesen Hamlet-Bild mit dem Ecce Homo noch
deutlichere Züge verleihen: ,,Versteht man den Hamlet? Nicht der Zweifel, die Gewißheit ist
Das, was wahnsinnig macht ... Wir fürchten uns alle vor der Wahrheit"
70
.
Nietzsche selbst bezeichnet in einem im Jahre 1886 (als Vorwort für die Geburt) verfassten
,,Versuch einer Selbstkritik" sein Buch als ,,Artisten-Metaphysik (... ) ein Wille, welcher nicht
66
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 83
67
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, Leipzig 1923, § 521, S. 291
68
ebd., § 202, S. 116
69
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 58f.
70
Nietzsches Werke Bd. 8 (Ecce homo), a.a.O., S. 342

15
gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist"
71
; er lässt es mit dem für ihn typischen
Fragezeichen sogar dahingestellt sein, ob sein ,,Pessimisten-Buch nicht selbst ein Stück
Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas ,ebenso Berauschendes als Benebelndes', ein
Narcotikum jedenfalls"
72
sei. Auch die Bezeichnung ,,das ächte rechte Romantiker-
Bekenntniß"
73
meint kein Lob.
Klages zollt der ,,erleuchteten"
74
Geburt der Tragödie höchstes Lob. Sie bedeutet für ihn ,,den
Anfang einer Auslegung einer neuen der seelischen Grundlagen des Altertums"
75
; er meint,
sie müsse ,,fürder von jedem gekannt und verarbeitet sein, der sich irgend an die Erforschung
symbolischen Denkens und mythischen Träumens heranwagen will"
76
, wenn er auch,
Nietzsches Entdeckung einschränkend, meint, dass ,,in jener ganz unscharf begrenzten
Fassung des Apollinismus [dessen] Bedeutungsgehalt ... mit dem ihm so gründlich vertrauten
,Sokratismus' zusammenfalle."
77
Es gibt zwei Gründe, Klages an dieser Stelle zu erwähnen, zwei Gründe, die einen
überraschenden Zusammenhang herstellen: Zum einen beginnt die ,,Abschließende Kritik" in
Klages' Nietzsche-Buch mit einem Kapitel ,,Nietzsches Sokratismus"
78
. Zum anderen gibt es
ein Selbstbekenntnis Nietzsches aus dem Nachlass: ,,Socrates [...] steht mir so nahe, dass ich
fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe"
79
. Diese Problematik ist festzuhalten und später zu
behandeln. ,,Die ursprüngliche Fassung der ,Geburt der Tragödie' trug übrigens den Titel
,Sokrates und die griechische Tragödie'", berichtet Döring
80
.
Löwith hat die Gestalt des Sokrates, anders als der mit ihm befreundete Leo Strauss, nur an
wenigen Stellen gewürdigt. Er hat ihn aber in seiner Schrift Wissen, Glaube und Skepsis mit
einer unnachahmlich schlüssigen Kurzbiographie karikiert:
,,Der Ironiker Sokrates wußte eben allen Ernstes nicht, was er selbst,
was ein Mensch und was der Tod ist, geschweige denn, was das Sein
ist. Er war auch nicht sicher, ob das Leben unter Umständen
71
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 40
72
ebd., S. 41
73
ebd.
74
Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher der Seele, a.a.O., S. 815
75
ebd., S. 907
76
ebd.
77
ebd.
78
Klages, Ludwig: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, a.a.O., S. 179
79
zit.n. Ottmann, Henning (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 327
80
Döring, Klaus: Sokrates, die Sokratiker und die von ihnen begründete Tradition, in: Flashar, Hellmut (Hrsg.):
Grundriss der Geschichte der Philosophie, Die Philosophie der Antike, Bd. 2/1, Basel 1998, S. 139-364, hier S.
175

16
lebenswert ist. Im Gorgias erhebt Sokrates die Frage, ob man dem
Steuermann, der einen samt Weib und Kind und Hab und Gut von
fernher durch viele Gefahren in einen sicheren Hafen gebracht hat,
dafür dankbar sein müsse. Der philosophische Steuermann selbst
denkt darüber sehr bescheiden. Er verlangt für seinen Dienst nur ein
paar Drachmen, vermutlich ­ meint Sokrates ­ weil er sich sagt, daß
es sehr ungewiß ist, ob er den Mitreisenden eine Wohltat erwiesen hat,
indem er sie vor dem Ertrinken bewahrt hat. Er sagt sich, daß von all
denen Mitreisenden keiner nach der Landung an Leib und Seele besser
daran ist, als er es vor der Einschiffung war. Wenn also einer etwa mit
einem unheilbaren Leiden des Leibes oder der Seele behaftet war, so
ist es eher ein Unglück für ihn, daß er gerettet wurde und nicht
umkam. Nur ein Ironiker wie Sokrates konnte sich solche ernsten
Scherze leisten."
81
Hier erscheint Sokrates als ,verkopfter' Sophist, der jegliches Urvertrauen von
Seinsgewissheit hinweganalysiert, indem er die flüchtige Verzeitlichung und Kurzlebigkeit
aller dahinschwindenden Phänomene ,gefährlichen Lebens' beschwört. Wenn auch ironisch,
so ist dies doch ein Philosophieren über ,Sein und Zeit'.
b) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
In allem, was Nietzsche ausspricht, kann noch eine andere, geheimnisvollere Gegenstimme
gleichsam mitgehört werden, die etwas verschweigt, was sie dennoch verraten möchte. Auf
diese zweite Stimme stößt man überall in den Aphorismen des Nachlasses, die sich
gleichzeitig mit allen zu seinen Lebzeiten herausgegebenen Werken anhäufen, also das
wiedergeben, was noch nicht ­ oder überhaupt nicht ­ für die Öffentlichkeit bestimmt war.
Die unter dem Titel Der Wille zur Macht kompilierte Aphorismensammlung ist ein solches
Zeugnis, hier findet sich ein Aphorismus, der den wirklichen Sinn der Geburt der Tragödie
unter dem Titel ,,Die Kunst in der ,Geburt der Tragödie'" wie folgt zusammenfasst:
,,Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es
gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich,
verführerisch, ohne Sinn... Eine so beschaffene Welt ist die wahre
Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese ,Wahrheit'
zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben... ,Das Leben soll
Vertrauen einflößen': die Aufgabe so gestellt, ist ungeheuer. Um sie
zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr
als alles andere Künstler sein. (...). In Augenblicken, wo der Mensch
zum Betrognem ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben
81
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 3: Wissen, Glaube und Skepsis. Zur Kritik von Religion und Theologie,
Stuttgart 1985, S. 223f.

17
glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken!(...). Der
Mensch ward wieder einmal Herr über den ,Stoff' ­ Herr über die
Wahrheit!...er genießt die Lüge als seine Macht....."
82
Das Problem in der Geburt der Tragödie ist also das von ,Wahrheit oder Lüge'. Dieses wird
fortgeführt in dem nicht viel später als die Geburt entstandenen Fragment Über Wahrheit und
Lüge im außermoralischen Sinne; diese kleine Schrift fand sich in Nietzsches Nachlass, gibt
also ebenfalls in reiner Form die ,zweite Stimme' wieder; man kann in ihr in manchen
Punkten einen Kommentar zur Geburt der Tragödie sehen.
,,In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnen-
systemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein
Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die
hochmüthigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte': aber
doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte
das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. ­ So könnte
jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt
haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und
beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur
ausnimmt."
83
Wenn man bei Nietzsche, neben gänzlich anderen Zügen seiner Bewusstseinskritik, auch eine
Linie der ,Ohnmacht des Bewusstseins' verfolgen will, so kann dieses Zitat als Musterbeispiel
hierfür dienen. ­ So ohnmächtig der Intellekt aber innerhalb des Weltalls ist, hat er doch
innerhalb der Welt des Menschen eine höchst bedeutsame Mission zu erfüllen: ,,Der Intellekt,
als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der
Verstellung"
84
. Zunächst muss gefragt werden, welcher Sachverhalt es denn ist, den er
verstellen muss. ­ Es wird gefragt: ,,Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst!"
85
Er
weiß nur sehr wenig und das zu seinem Glück:
,,Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, ... um ihn, ... in
ein stolzes gauklerisches Bewußtsein zu bannen und einzuschließen!
Sie warf den Schlüssel weg. Und wehe der verhängnißvollen
Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer
heraus und hinab zu sehen vermöchte, und die jetzt ahnte, daß auf dem
Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem
Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines
82
Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, a.a.O., § 503, S. 277f.
83
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke Bd. 2: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne -
Unzeitgemäße Betrachtungen, Leipzig 1922, S. 3
84
ebd., S. 4
85
ebd., S. 5

18
Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in
Träumen hängend."
86
Diese Auffassung von der Schrecklichkeit der (für gewöhnlich verhüllt bleibenden) Wahrheit
über die Natur des Daseins und die eigene Natur des Menschen, war uns schon aus der
Tragödie bekannt. Aber dass hier der Intellekt, das Bewusstsein dafür verantwortlich gemacht
wird, dass sich der Mensch über den Wert des Daseins Illusionen hingeben kann und so ,,als
Hülfsmittel den unglücklichsten delikatesten vergänglichsten Wesen beigegeben ist, um sie
eine Minute im Dasein festzuhalten, aus dem sie sonst, ohne jede Beigabe ... zu flüchten allen
Grund hätten"
87
, ist doch neu. Diese These scheint der in der Geburt der Tragödie
angenommenen gänzlich zu widersprechen. Hier wie dort sind es zwei Menschentypen, die
einander gegenübergestellt werden: der ,,vernünftige" und der ,,intuitive" Mensch, ,,der eine
in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraktion, der letztere ebenso
unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist"
88
; wir erkennen in ihnen mühelos den
sokratischen und den dionysischen Menschen wieder. In der Geburt der Tragödie war es
ebenso die Kunst, die der dionysische Mansch zwischen sich und dem Abgrund des Daseins
stellte, wie die ekstatische, die in keinen verhängnisvollen Bruch zwischen sich und der Natur
mehr empfinden ließ; beides sollte ihm das Leben erträglich machen, während die
wissenschaftlichen und ethischen Begriffsgebilde des sokratischen Menschen als
lebensschädlich abgelehnt wurden:
,,Wenn schon der handelnde Mensch sein Leben an die Vernunft und
ihre Begriffe bindet, um nicht fortgeschwemmt zu werden und nicht
sich selbst zu verlieren, so baut der Forscher seine Hütte dicht an den
Thurmbau der Wissenschaft, um an ihm mithelfen zu können und
selbst Schutz unter dem vorhandenen Bollwerk zu finden. Und Schutz
braucht er: denn es giebt furchtbare Mächte, die fortwährend auf ihn
eindringen, und die der wissenschaftlichen ,Wahrheit' ganz anders
geartete ,Wahrheiten' mit den verschiedenartigsten Schildzeichen
entgegen halten."
89
Dieser Widerspruch ist aber nur ein scheinbarer, denn allerdings war schon immer
angenommen worden, dass gerade der sokratische Mensch ­ aus einem Gefühlsmangel heraus
­ viel vollkommener, ja geradezu restlos von jeder Tragik ausgeschlossen bleibt; er ist sich
dieser Tatsache aber nicht bewusst, und gerade bei ihm ist der ,,Trieb zur Wahrheit"
90
am
meisten entwickelt, aber zu Einsichtslosigkeit verurteilt. Dennoch wäre noch nicht
86
ebd.
87
ebd., S. 4
88
ebd., S. 20
89
ebd., S. 17
90
ebd., S. 5

19
einzusehen, warum die wissenschaftlichen und metaphysischen Erdichtungen des
vernünftigen Menschen geringer zu bewerten wären als die Traum- und Rauschwelten des
intuitiven Menschen. Doch der Unterschied ist fundamentaler Art: der vernünftige Mensch
besitzt des intuitiven Menschen tiefe Wahrheit nie, aber er kennt ,Wahrheiten', d.h. das was
er für Wahrheit hält. ,Wahrheiten' werden wie ein Netz der Wirklichkeit übergeworfen und
diese so verfügbar gemacht. Es wird festgemacht, was von nun an als ,Wahrheit' zu gelten
habe, und erst so entsteht für den vernünftigen Menschen der Kontrast von Wahrheit und
Lüge. Seine ,Wahrheiten' liegen aber auf einer völlig anderen Ebene, die sich mit der
Wirklichkeit gar nicht berührt, sie gehören zu der ,anderen Welt', d.h. zu der Welt, wie sie
sich verzerrt in seinem Bewusstsein spiegelt. ­ Diese Zusammenhänge sollen an anderer
Stelle unter dem Titel ,,Kritik der anderen Welt" noch gesondert verfolgt werden. ­ ,,Nur
durch Vergesslichkeit kann der Mensch je dazu kommen zu wähnen, er besitze eine
,Wahrheit' in dem eben bezeichneten Grade."
91
Der vernünftige und der intuitive Mensch
unterscheiden sich dadurch, dass der erstere die (von ihm selbst erst geschaffenen) Begriffe
ganz real nimmt, der andere sie nur als beliebig vertauschbare Metaphern verwendet, die
lediglich hinweisenden, kommunikativen Verständigungs-Wert besitzen. Der eine glaubt an
ihre wirkliche Existenz und setzt damit eine andere Welt, der andere nimmt sie nur als
Begriffsdichtung und bleibt sich auch in seinen Kunst-Schöpfungen bewusst, dass er hier nur
eine schöne Welt des Scheins vor sich hinstellt, in die er eintauchen und sich eine Zeitlang
vergessen kann: ,, 'Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen!'"
92
Erwacht er, so ,,leidet er
[allerdings umso] heftiger"
93
, denn er weiß es ja, was dem vernünftigen Menschen ewig
verborgen bleiben muss; für Nietzsche gibt nur eine Welt, und diese sei falsch, grausam, ohne
Sinn. Der Unterschied zwischen dem intuitiven und dem vernünftigen Menschentypus ist der
von (bewusster) Lüge und (unbewusster) Verlogenheit: Diesen Unterschied hält ein
Aphorismus in der Genealogie der Moral fest:
,,Denn man täusche sich hierüber nicht: was das eigentliche Merkmal
moderner Seelen ... ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die
eingefleischte Unschuld in der moralistischen Verlogenheit.(...).
Unsere Gebildeten von heute, unsere ,Guten' lügen nicht - das ist
wahr, aber es gereicht ihnen nicht zur Ehre! Die eigentliche Lüge, die
ächte resolute ,ehrliche' Lüge ... wäre für sie etwas bei weitem zu
Strenges, zu Starkes; es würde verlangen, was man von ihnen nicht
verlangen darf, daß sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, daß
91
ebd., S. 7
92
Nietzsches Werke, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie... a.a.O., S. 49
93
Nietzsches Werke Bd. 2: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ..., a.a.O., S. 21

20
sie zwischen ,wahr' und ,falsch' bei sich selber zu unterscheiden
wüssten."
94
Während der intuitive Mensch also lügt, indem er ,so tut als ob', aber sich bewusst bleibt,
dass er Fiktionen schafft, Hypothesen setzt ­ weniger zu seinem Vergnügen als aus tiefster
Nötigung -, ist der vernünftige Mensch in sich verlogen, d.h. er hat vergessen, dass er lügt:
,,Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen andrer ist relativ
der Ausnahmefall."
95
Noch ein Merkmal, in dem der vernünftige Mensch mit dem in der Geburt gezeichneten
sokratischen Menschentypus übereinstimmt, sei kurz beschrieben. Beiden gemeinsam ist ein
Pathos der Erkenntnis: ,,Es ist nicht so verwerflich und gering in der Natur, was nicht, durch
einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens, sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt
würde; und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste
Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein
Handeln und Denken gerichtet zu sehen."
96
Auf den vernünftigen sokratischen Menschen
bezogen, heißt das, dass es gar nicht um die Weltgegenstände als solche geht, sondern um ihre
Erfassung als Dinge; es geht ihm um das In-den-Griff-bekommen und Verfügbar-machen, um
die Einordnung neuer Gegenstände in die alten Reihen, um das Zwängen in ein Schema,
Einordnung in ein System, dessen Lückenlosigkeit seiner ,,Eitelkeit"
97
schmeichelt. Es geht
ihm um den Gewinn von Erkenntnissen, an die geglaubt werden soll, die seinen Nachruhm
begründen und sein Angedenken verewigen, das sonst ebenso flüchtig wäre wie die immer
fließenden Erscheinungen der Welt. In Kürze: Der Intellekt, das Bewusstsein vermag nicht
zur Wahrheit vorzudringen auf Grund seines Willens zur Macht über die Wirklichkeit. ­
Sokratisches Menschentum ist für Nietzsche auch weiterhin unannehmbar. Die Linie der
Geburt ist im Ganzen nicht verlassen.
Ries urteilt über die von Nietzsche geheim gehaltene Abhandlung aus dem Jahre 1872: Sie
entwickele
,,zum ersten Mal die Grundfrage aller späteren Schriften Nietzsches:
Was sind der Sinn und die Stellung des rätselhaften ,Bruchstückes'
Mensch im Ganzen der von Natur aus seienden Welt? Das
Verständnis dieser kleinen Schrift mit ihrer genialen Einsicht,
94
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke Bd. 7: Jenseits von Gut und Böse ­ Zur Genealogie der Moral, Leipzig
1923, § 19, S. 448f.
95
Nietzsches Werke Bd. 8 (Der Antichrist), a.a.O., § 55, S. 286
96
Nietzsches Werke Bd. 2: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ..., a.a.O., S. 4
97
ebd., S. 5

21
Wahrheit als Textur, als ein ,bewegliches Heer von Metaphern' zu
sehen, ist für das Verständnis des radikalen erkenntnistheoretischen
Skeptizismus Nietzsches wie auch für die durch diesen eröffnete
Fragestellung nach dem umfassenden Verhältnis von Mensch und
Welt unentbehrlich und verdient von daher genaueste Beachtung."
98
B Wert wissenschaftlicher Erkenntnis
,,Auf die Einheit seiner aphoristischen Produktion hat Nietzsche selber
hingewiesen. Es handelt sich in seinen Schriften ,um die lange Logik
einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität' und ,nicht um ein
Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien'
(...). Schließlich gewinnt er die ,absolute Überzeugung', daß von der
Geburt der Tragödie an ,Alles Eins ist und Eins will'".
99
Die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen betrachtet Nietzsche als bloße ,Versprechungen', die
zur ersten Periode gehören. Die zweite Periode umfasst die Schriften der ,Pflugschar':
Menschliches ­ Allzumenschliches, Morgenröte und die vier ersten Bücher der Fröhlichen
Wissenschaft
100
. Nietzsche beschwört selbst die Wandlung vom verehrenden Jünger zum sich
selbst befreienden Geist und meint den Bruch mit Wagner, die Löwith so beurteilt: ,,Die
Bindung an Wagner, und der Bruch mit ihm, war das entscheidende und nie verwundene
Ereignis in Nietzsches Leben."
101
,,Zwischen den Unzeitgemäßen Betrachtungen und Menschliches-Allzumenschliches liegt eine
Krisis und Häutung."
102
Mit diesen Worten aus einem Brief vom Februar 1888 umschreibt
Nietzsche eine bedeutungsvolle Zäsur. Der Druck ist von ihm gewichen. Er sieht sich wieder
als Hoffender. Außerdem entdeckt er den Aphorismus als die ihm gemäße Darstellungsweise,
d.h. als Kunst der polemisch zugespitzten Formulierung (an Stelle einer gelehrten
Abhandlung). Es wird zu zeigen sein, dass er sich in diesem Stadium zu der Frage eines
lebensfördernden Erkennens, also zu dem Problem des Wertes des Bewusstseins noch am
positivsten verhalten hat. Dennoch wirkt Nietzsches Grundanschauung von der
Lebensfeindlichkeit der Wahrheit, da diese den tragischen Wesenskern des Daseins aufdeckt
und bewusst macht, zunächst nicht aufgegeben.
98
Ries, Wiebrecht: Nietzsche zur Einführung, a.a.O., S. 29
99
Ni, S. 120f.
100
zur Periodisierung s.o. S. 3 dieser Arbeit
101
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S. 125
102
zit.n. Wolff, Hans M.: Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts, a.a.O., S. 81

22
Diese Ansicht findet sich sogleich in einer Reihe von Aphorismen im Ersten Hauptstück von
Menschliches ­ Allzumenschliches, das den Titel führt: ,,Von den ersten und letzten Dingen"
(insbesondere in §§ 29-34). § 33 trägt die Überschrift ,,Der Irrthum über das Leben zum
Leben nothwendig": Wirkliche Teilnahme am ,,allgemeinen Leben" würde zur Verzweiflung
am Leben führen. Dass dennoch die ,,allermeisten Menschen das Leben ertragen, ohne
erheblich zu murren", ist auf ,,Unreinheit des Denkens", auf einen großen ,,Mangel an
Phantasie" zurückzuführen. Glaube an den Wert des Lebens ist ,,allein dadurch möglich, daß
das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im
Individuum entwickelt ist"; er beruht auf mangelnder Einfühlungsgabe. Hier wird also
festgestellt, dass zweifellos die meisten Menschen dem sokratischen Typus angehören und
somit eben nicht am vollen Leben teilhaben, ihnen aber auch der Blick in den Abgrund
versagt bleibt.
,,Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müßte am Werthe
des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewußtsein der
Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem
Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, - denn die Menschheit
hat im Ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung
des ganzen Verlaufs, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern
seine Verzweiflung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte
Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in
seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als
Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu
finden, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist
ein Gefühl über alle Gefühle. ­ Wer ist aber desselben fähig? Gewiß
nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten."
103
Es sind die ganz seltenen Ausnahmemenschen, die diesen letzten alles nihilisierenden
Hintergrund in ihr Bewusstsein zu heben vermögen, aber auch diese vermögen sich zu
trösten: So wie die Griechen die Tragödie hatten, haben sie die Kunst, das Werk, um das Gift
auszustoßen; sie vermögen die auflösende Wirkung dieses Bewusstmachens durch
schöpferische Gestaltung zu paralysieren.
§ 34 setzt diesen Gedanken unter den bezeichnenden Titel ,,Zur Beruhigung" fort. Wenn der
künstlerische Mensch seine negative Erkenntnis im Kunstwerk von sich weggestalten kann,
wie steht es aber mit dem Philosophen, der doch den Namen ,Philosoph' nicht verdient, wenn
nicht nach Wahrheit strebt? Das heißt aber unter diesem negativen Aspekt der Wahrheit, dazu
verurteilt sein, der Gorgo ständig ins Auge zu sehen und den Blick nicht abwenden dürfen,
und mehr noch: sein Philosophieren bedeutet, dass er auch die anderen Menschen aus ihrer
103
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 3: Menschliches Allzumenschliches I ­ Vermischte Meinungen
und Sprüche - (Menschliches Allzumenschliches II, Erste Abteilung), Leipzig 1922, § 33, S. 51

23
Ahnungslosigkeit aufrütteln und ihnen das Gift vom Baume der Erkenntnis in kondensierter
Form einflößen muss. ­ ,,Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die
Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu
beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewußt in der Unwahrheit bleiben
könne? Oder, wenn man dies müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei?"
104
Die erstaunliche
Antwort lautet: Nein, auch der Philosoph hat es nicht nötig, bewusst in der Unwahrheit zu
verweilen. Die ihm mögliche Haltung ist der Abstand, ,,der wünschenswertheste Zustand
jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen
Schätzungen der Dinge"
105
, ,,an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man
sich bisher nur zu fürchten hatte."
106
Was hier als erstrebenswerter Typus beschrieben wird, ist aber nicht mehr der dionysische
Mensch des tiefen Fühlens und Leidens, es ist der Typus des Menschen, der mit dem
Nihilismus einig geworden ist. Ihm geht es allein um die Unerschütterlichkeit seines Selbst,
die ataraxie. Es ist der Typus des heiteren Nihilisten, wie ihn Pyrrhon am beispielhaftesten
verkörpert. Ihm vermag nichts mehr Unruhe zu machen, auch nicht der Einblick in die
Sinnlosigkeit des Daseins. Er vermag durchaus theoretische Weltverneinung mit praktischer
Weltbejahung zu vereinen. Er kann seinem Dasein sogar dadurch einen Zweck verleihen,
,,daß er nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen"
107
.
Leben im Dienste des Erkennens: Diese Auffassung kündigt eine Wendung in Nietzsches
Einstellung zum Bewusstsein an. Zwar ist die Dualität von Leben und Erkennen durchaus
nicht aufgehoben ­ im metaphysischen Sinne. Das Erkennen führt zu einer Philosophie der
logischen Weltverneinung, ist aber dennoch für praktische Ziele nicht abzulehnen: ,,Deshalb
muß eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern
geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: neben
einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar"
108
. Einem solchen
Menschentypen steht es jederzeit offen, sich die Ziele des Sokratismus zu eigen zu machen,
d.h. den praktischen Zweck auch in wissenschaftlicher Erkenntnis zu suchen. Innerhalb der
Grenzen der Wissenschaft darf er nach Wahrheit suchen (flache Besinnung), aber von der
inneren Teilhabe der tiefen Besinnung schließt er sich aus; er schaut nicht hinter seine
104
ebd., § 34, S. 51
105
ebd., S. 53
106
ebd., S. 52
107
ebd., S. 53
108
ebd., § 251, S. 235f.

24
pragmatischen Konstruktionen. Diese Wendung Nietzsches zum Sokratismus führt in der
Folge zu einer Herabwertung der Kunst, aber auch der Philosophie, wie sie sich in den §§ 6
und 7 andeutet. Es kommt zu einer Ablehnung der Philosophie als ,,Störenfried in der
Wissenschaft"
109
. Die Philosophie ,,will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln
möglichste Tiefe und Bedeutung geben;" in den wissenschaftlichen Einzelgebieten ,,sucht
man Erkenntniß und nichts weiter ­ was dabei auch herauskomme."
110
Diese Wendung drückt
noch eine gewisse Unsicherheit aus. Einerseits scheint die Überzeugung nicht aufgegeben zu
sein, dass nichts Gutes dabei herauskomme; andererseits scheint es auch nützliche
Wissenschaften zu geben.
Diese Hoffnung wird ­ wenigstens nach außen hin ­ zu einer zeitweiligen Gewissheit in der
Morgenröte und der Fröhlichen Wissenschaft. Kampf gegen alle Überzeugungen, die nicht
der Vernunft gemäß sind, ist Leitmotiv der Morgenröte. Unvereinbar mit der Vernunft sind
aber alle Vorstellungen, die sich auf Gefühle gründen:
,,Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter den Gefühlen
stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von
Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. ... Seinem
Gefühle vertrauen ­ das heißt seinem Großvater und seiner
Großmutter ... mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind:
unserer Vernunft und unserer Erfahrung."
111
Niemals dürfen Stimmungen als Argumente dienen, sondern ,,Gründe"
112
.
Das ist aber das genaue Gegenteil von dem, was Nietzsche in seiner ersten Schaffensperiode
vertreten hatte. Diese Gedanken richten sich auch gegen jede Erhebung der Instinkte. Seine
derzeitige Verachtung ekstatischer Zustände kommt in § 50 klar zum Ausdruck:
,,Diesen schwärmerischen Trunkenbolden verdankt die Menschheit
viel Übles: denn sie sind die unersättlichen Unkraut-Aussäer der
Unzufriedenheit mit sich und den Nächsten, der Zeit- und
Weltverachtung und namentlich der Weltmüdigkeit. Vielleicht könnte
eine ganze Hölle von Verbrechern nicht diese drückende ...
Nachwirkung ... haben, wie jene kleine edle Gemeinde von
Unbändigen, Phantasten, Halbverrückten, von Genie's, die sich nicht
beherrschen können und allen möglichen Genuß an sich erst dann
haben, wenn sie sich völlig verlieren"
113
109
ebd., § 7, S. 23
110
ebd., § 6, S. 22
111
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 4: Der Wanderer und sein Schatten ­ (Menschliches
Allzumenschliches II, Zweite Abteilung) ­ Morgenröte, Leipzig 1922, § 35, S. 232f.
112
ebd., § 28, S. 227
113
ebd., § 50, S. 245

25
§ 36 übt Kritik an jeder ,,Geringschätzung des gegenwärtigen Geistes"
114
und ist gegen die
Verehrung von ,,uralten Kulturen" gerichtet. § 427 der Morgenröte spricht von einer
,,Rückkehr zur Wissenschaft"
115
. In § 46 der Fröhlichen Wissenschaft wird das Erkennen
sogar dazu berufen, den Menschen ,,ein tiefes und gründliches Glück" zu schenken, denn
immerhin ermittelt die Wissenschaft ,,Dinge ..., die Stand halten"
116
.
Diese Tendenz, die Vernunft über alles zu stellen, erreicht ihren Höhepunkt darin, dass er ihr
die Rolle zuerkennt, nicht nur nützliche Erkenntnisse zu liefern, sondern sogar zur
wesentlichen Wahrheit selbst vorzudringen. Wahrheit ist wieder das höchste und einzige
Ziel, aber sie liegt gerade nicht im Instinkt, im Intuitiven, im Gefühl, sondern in der
Erkenntnis, der Vernunft. Ihr verpflichtet er sich, selbst auf die Gefahr hin, dass sie das Leben
zerstört. Das Prinzip der Förderung des Lebens darf unter keinen Umständen als Schranke des
Strebens nach Erkenntnis aufgefasst werden. Es gibt keine verbotenen Wahrheiten, die um
des Lebens Willen nicht ausgesprochen werden dürften. ,,Ein Tragödien-Ausgang der
Erkenntniß"
117
ist ausdrücklich mit einkalkuliert. - § 550 der Morgenröte weist darauf hin,
,,daß die Erkenntniß auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist"
118
Wenn dort in § 45 schon
die Vision einer der Erkenntnis sich opfernden Menschheit geschildert wurde, wird in § 429
gerade die Gefährlichkeit des Strebens nach Wahrheit als Beweis für dessen Echtheit
angeführt. ,,Vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniß zu
Grunde geht! (...) wir wollen alle lieber den Untergang der Menschheit als den Rückgang der
Erkenntniß!"
119
Dieses Motiv klang schon in Menschliches ­ Allzumenschliches an: ,,Ein
Jauchzen der Erkenntniß ­ dein letzter Laut."
120
Man kann zusammenfassend die zweite Stufe die positivistische oder intellektualistische
nennen. Sie hat das Ideal nüchterner Wissenschaft. Nur Erfahrung und ihre Verwertung durch
den Verstand unter Ausschluss jeder Metaphysik einerseits und des unruhigen Trieblebens
andererseits ist ihr Ziel. Das führt zu einer Verherrlichung des wissenschaftlichen Menschen.
Aber wenn sich auch Nietzsche in dieser Zeit zu den Grundgedanken aufgeklärter Denkart
bekennt, was sich schon äußerlich darin ausdrückt, dass er Menschliches ­ Allzumenschliches
114
ebd., § 36, S. 233
115
ebd., § 427, S. 488
116
Nietzsche, Friedrich: Nietzsches Werke, Bd. 5: Die fröhliche Wissenschaft ­ Dichtungen, Leipzig 1923, § 46,
S. 81
117
Nietzsches Werke, Bd. 4 (Morgenröte), a.a.O., § 45, S. 242
118
ebd., § 550, S. 551
119
ebd., § 429, S. 489
120
Nietzsches Werke, Bd. 3: (Menschliches Allzumenschliches I), a.a.O., § 292, S. 267

26
dem Andenken Voltaires widmet, so ist doch der tragische Grundakkord nicht abgeklungen,
sondern nur um einige neue Töne bereichert. Ein letzter Sinn des Daseins fehlt zwar, aber ist
es nötig, dass der Mensch bei allem, was er tut, auf die letzte Ziellosigkeit sieht? Könnte er
nicht sich diesen letzten Durchblick verwehren und sich entschlossen den Aufgaben des
Lebens widmen, d.h. nützliche Wissenschaft anstreben? Das ,,Recht auf Lüge", d.h. das
Sichumgeben mit einem bergenden Horizont, das in der ersten Periode nur dem dionysischen,
intuitiven Menschen zuerkannt wurde (als gelegentliches Stimulantium), bekommt nun der
sokratische, vernünftige, wissenschaftliche Menschentypus in der ihm möglichen Art und
Weise gestattet, d.h. er darf sich den erkennenden Kräften seines Bewusstseins bis zu einer
gewissen Grenze überlassen. Das führt aber zu der Konsequenz, dass diese Grenze, die durch
die Lebensdienlichkeit gezogen werden soll, letztlich doch überschritten wird, d.h. Erkenntnis
wird um jeden Preis angestrebt: Bejahung der Erkenntnis trotz pessimistischer Bewertung der
Ergebnisse dieser Erkenntnis. Das Bewusstsein bleibt weiterhin ein Verhängnis für das Leben,
aber dieses unabwendbare Verhängnis wird bejaht. ­ der Dualismus von Leben und Geist ist
beibehalten, nur diesmal unter einem mehr negativen Wertaspekt des Lebens.
Exkurs: Der agonale Lebenstrieb
In beiden bisher festgehaltenen Stufen in Nietzsches Philosophieren war das Bewusstsein in
seinem Erkenntnisstreben als lebensfeindliche lebenzerstörende Macht dargestellt worden,
jedoch unter jeweils ganz verschiedenen Gesichtspunkten. Diese Widersprüchlichkeit zwingt
dazu, zu versuchen, ob sie sich nicht in einem erneuten Durchdenken auflösen lässt. Aus den
bisherigen Ausführungen muss sich doch zwingend die eine Frage ergeben: Liegt die
Gefährlichkeit des bewussten Strebens nach Erkenntnis eigentlich im Erkennen selbst, d.h. in
seiner die Instinktsicherheit aufhebenden, die festen ,Gehäuse' auflösenden, Unsicherheit
hervorrufenden, alles relativierenden Wirkung, in seiner Störbarkeit, die verknüpft sein kann
mit der Erstarrung, Fixierung, Abtötung des Lebendigen oder aber ­ in der Entsetzlichkeit der
erkannten Wahrheit? ­
In der ersten Periode wurde zwar die erste Hälfte der Alternative in Bezug auf das
Bewusstsein festgestellt, die sich ergebenden schädlichen Folgen waren aber indirekte, d.h.
auf die Dauer kam zwar das Leben zu Schaden , aber der sokratische Mensch, der diese
,Krankheit' verbreitete, blieb selbst von den Folgen verschont, konnte ein heiteres Leben

27
führen. Im Gegensatz dazu war es aber gerade das instinktive, intuitive Erkennen des
dionysischen Menschen, das, infolge seines ungleich größeren Tiefgangs, Einblick in die
schaurige Wahrheit der letzten Sinnlosigkeit bekam.
In der zweiten Periode vermochte der Intellekt, solange er auf einer gewissen Stufe verharrte,
dem Leben zu dienen und wurde erst dadurch lebensgefährlich, dass er die ihm gesteckten
Grenzen überschritt und so die verhängnisvolle Grundwahrheit aufdeckte. ­
In beiden Fällen war es also etwas nicht in den Instrumenten des Erkennens selbst Liegendes,
was dem Leben gefährlich wurde, sondern vielmehr etwas Dahinter-Liegendes, das nur
enthüllt wurde, das Erkannte. Aus dieser Antwort ergeben sich aber nun weitreichende
Konsequenzen. Es hieße u.a., dass wir uns bei unseren bisherigen Betrachtungen auf einer
absoluten Oberfläche bewegt haben: Sowohl das individuelle Bewusstsein wie das
individuelle Gefühl wären beide rein vordergründige Phänomene, die sich in einer besonderen
Art Lebewesen, eben den Menschen, nur für diese sichtbar, d.h. nur scheinbar von einer
hintergründigen Allkraft abheben. Alles menschliche Bewusstsein und Unbewusste, alles
Denken, Wollen, Fühlen würde gar nicht von den vermeintlich in ihnen selbst liegenden
Prinzipien gesteuert, sondern von einer vis a tergo, die ­ man weiß nicht welche ­ Ziele
verfolgt (wenn man überhaupt in so anthropomorpher Weise von ,Zielen' sprechen darf).
Bewusstsein wäre, so es lebensgefährlich würde, nur der verlängerte Arm dieser umfassenden
All-Macht und ohne sie (und durch sie) zur Ohnmacht verurteilt. ­
Wie sollte man sich aber diese Macht vorstellen, wenn nicht als ein Streben der Natur, des
Lebens selbst, und was hieße dann noch ,Lebensfeindschaft'? Eine Lebenskraft, die mit sich
selbst in Feindschaft träte, mittels des Mediums des Bewusstseins, wäre doch ein doppelter
Münchhausen, der, nicht genug damit, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, sein
Vergnügen darin fände, sich zunächst einen Sumpf zuzubereiten, um sich je nach Laune
abwechselnd darin zu ersäufen und selbst wieder herauszuziehen. Also wäre das Bewusstsein
in sich ebenso ohnmächtig wie es kraftlos gegenüber dem Leben bliebe? Diese Auffassung,
die das Bewusstsein zu einem bloßen Epiphänomen macht (während es in der ersten Periode
schädlich, in der zweiten Gift und Gabe zugleich war), ist es in der Tat, die sich in der
Fröhlichen Wissenschaft allmählich herauskristallisiert und sich von nun an in einer großen
Zahl von Aphorismen über das ganze Werk verstreut wiederfindet.

28
Gleich der erste Aphorismus des ersten Buches der Fröhlichen Wissenschaft mit dem Titel
,,Die Lehrer vom Zwecke des Daseins" bietet wesentliche Gesichtspunkte: "Ich mag nun mit
gutem oder mit bösem Blick auf die Menschen sehen, ich finde sie immer bei Einer Aufgabe
... das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt."
121
Aus diesem Satz
geht hervor, dass das Bewusstsein auch nichts anderes tun kann, als sich eben dieser
allgemeinen Tendenz, der menschlichen Gattung zu nützen, anzuschließen. Es bildet keinen
Bruch im Ganzen, sondern ist nur eine organische Weiterentwicklung. Es wird gar nicht
gefragt, ob es bereit ist, sich diesem allgemeinen Gefälle, der Gattung zu dienen,
anzuschließen. Aus der Stärke dieses primitiven Instinktes resultiert seine Ohnmacht. Das
Bewusstsein als Diener des Lebenstriebes: ,,Und zwar wahrlich nicht aus einem Gefühl der
Liebe für diese Gattung, sondern einfach, weil nichts in ihnen älter stärker unerbittlicher
unüberwindlicher ist als jener Instinkt ­ weil dieser Instinkt eben das Wesen unserer Art und
Herde ist."
122
Das Bewusstsein ist nur eine Fortbildung des Lebenstriebes: ,,Jener Trieb,
welcher in den höchsten und gemeinsten Menschen gleichmäßig waltet, der Trieb der Art-
Erhaltung, bricht von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor; er hat
dann ein glänzendes Gefolge von Gründen um sich und will mit aller Gewalt vergessen
machen, daß er im Grunde Trieb Instinkt Thorheit Grundlosigkeit ist."
123
Was bisher
unbewusst geschah, geschieht als spielerische Variante nun einmal bewusst. Im Grunde ändert
sich nichts, wenn auch jetzt Gründe gesucht werden für das, was bisher ohne Grund geschah.
Der Mensch neigt dazu, Die Wirkung und den Wert des Bewusstseins zu überschätzen:
,,Der Mensch ist allmählich zu einem phantastischen Thiere
geworden, welches eine Existenz-Bedingung mehr als jedes andre
Thier zu erfüllen hat: der Mensch muß von Zeit zu Zeit glauben, zu
wissen, warum er existiert, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne
ein periodisches Zutrauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die
Vernunft im Leben!"
124
Diesen positiven Zweck hat das Bewusstsein zu erfüllen, schädlich werden kann es auf gar
keinen Fall, denn:
,,Ich weiß nicht mehr, ob du, mein lieber Mitmensch und Nächster,
überhaupt zu Ungunsten der Art, also ,unvernünftig' und ,schlecht'
leben kannst; das was der Art hätte schaden können, ist vielleicht seit
vielen Jahrtausenden schon ausgestorben und gehört jetzt zu den
Dingen, die selbst bei Gott nicht mehr möglich sind."
125
121
Nietzsches Werke, Bd. 5: (Die fröhliche Wissenschaft), a.a.O., § 1, S. 33
122
ebd.
123
ebd., S. 35
124
ebd., S. 37
125
ebd., S. 34

29
Im 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft findet man einen Aphorismus, der diese Rolle des
Bewusstseins als ,,Genius der Gattung" fortsetzt und daran die Frage anknüpft: ,,Wozu
überhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache überflüssig ist?"
126
In § 333 der
Fröhlichen Wissenschaft kommt er zu dem Ergebnis: Denken sei nicht etwas den Trieben
Entgegengesetztes, sondern ,,nur ein gewisses Verhalten der Triebe zu einander"
127
. Diese
Ansichten treten in Nietzsches Spät-Philosophie immer klarer hervor.
Er beschreibt einen Grundtrieb der Natur, der nur noch agonal ist. In den Notizen seiner
Spätphilosophie bezeichnet er den 'Erkenntnis-Apparat' als bloßes Mittel des ,Ernährungs-
Apparates' und meint damit, die Menschen seien nur soweit erkennend, dass sie ihre
Bedürfnisse befriedigen könnten. ,,Der ganze Erkenntnisapparat ist ein Abstraktions- und
Simplifikationsapparat ­ nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf Bemächtigung der
Dinge"
128
. § 275 fasst zusammen: ,,Es gibt weder ,Geist', noch Vernunft, noch Denken, noch
Bewusstsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die unbrauchbar sind.
Es handelt sich nicht um ,Subjekt und Objekt', sondern um eine bestimmte Tierart ... Die
Erkenntnis arbeitet als Werkzeug der Macht. So liegt es auf der Hand, daß sie wächst mit
jedem Mehr von Macht..."
129
.
Hier stößt man auf eine Seite in Nietzsches Philosophie, die als eine Nebenstimme immer
schon herauszuhören war und die nun in seiner späten Philosophie die Oberhand gewinnt. ­
Bereits in Wahrheit und Lüge hatte Nietzsche von dem ,,unbesiegbaren Hang" des Menschen
,,sich täuschen zu lassen" gesprochen und damit die Möglichkeit eröffnet, dass nicht der
Intellekt als solcher, sondern hinter ihm waltende Triebe für die Verfälschung der Welt
verantwortlich sein könnten. Fällt aber die Entscheidung zugunsten dieser These, so ist damit
gleichzeitig die These von der Ohnmacht des Bewusstseins, des Geistes angenommen. Diese
steht wohl mittelbar (wie bereits aufgewiesen), aber nicht unmittelbar in Widerspruch zu
seiner Macht, d.h. der Lebensfeindlichkeit des Geistes. Denn ist er dem Leben gegenüber
mächtig, so könnte er doch in anderer Hinsicht auch wiederum ohnmächtig sein, insofern
nämlich, als hinter ihm wiederum eine andere Macht steht, die ihn steuert. Aber wie ist diese
ungeheuer mächtige (agonale) Kraft zu benennen? In Wahrheit und Lüge wurde sie die ,,eine
Flamme Eitelkeit" genannt, von der Morgenröte an werden Ausdrücke wie ,,Streben nach
126
ebd., § 354, S. 291
127
ebd., § 333, S. 252
128
Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, a.a.O., § 345, S. 190
129
ebd., § 275, S. 158

30
Auszeichnung", ,,Verlangen nach Macht" u.a. vorgezogen, Wendungen, die von ,,Zarathustra
II" an durch das prägnantere ,,Wille zur Macht" ersetzt werden. Dieser Gedanke, dass das
Bewusstsein zu wesentlich anderen als Erkenntniszwecken erfunden worden ist, ist von
Anfang an vorhanden. In der Geburt war es ja weniger der an und für sich, ohne die hinter
ihm stehenden Triebkräfte, machtlose Intellekt, der sich feindlich gegen das Leben richtete,
als vielmehr der aggressive Bemächtigungswille, der sich aus dem Lebensneid des
sokratischen Menschen heraus entwickelte. Jedoch war es hier ­ ähnlich wie in Wahrheit und
Lüge ­ nur der sokratische Menschentypus, der vom Willen zur Macht beherrscht war,
während im Gegensatz zu ihm der dionysische, intuitive Mensch als wesentlich pathisch
beschrieben wurde. Dieser personifizierte Wille zur Macht böte keine Schwierigkeiten, würde
keinen Widerspruch in Nietzsches Philosophie bilden. Er entsteht erst dadurch, dass mehr und
mehr dieser Wille zur Macht zu einer anonymen, sich nur ausnahmsweise in Menschen
organisierenden, agonalen Macht wird, die die Essenz alles Lebens bilden soll. Bereits in
Wahrheit und Lüge war von dem ,,Pathos" die Rede, mit dem auch die Mücke ,,durch die Luft
schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt."
130
,,Zu welchen Verzerrungen Nietzsches Versuch, seine Psychologie der Metaphysik des
Willens zur Macht anzupassen, führen und führen müssen, veranschaulicht § 702: ,Das
Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um etwas zu suchen, das ihnen widersteht ­
nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht... Das, was man ,Ernährung' nennt, ist bloß
eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu
werden.'"
131
Dieses Paradoxon, dass einerseits das Erkennen dem Leben feindlich sein
könnte, andererseits aber seinerseits im Dienste eines alles Leben durchwaltenden
Grundtriebes stehen soll, ist nicht aufzulösen, und so zieht sich durch Nietzsches ganzes Werk
die Dualität zweier Auffassungen: a) von der Macht des Erkennens = Lebensfeindlichkeit; b)
von der Ohnmacht des Erkennens = Lebensdienlichkeit, die neben der grundsätzlichen
Dualität von Leben und Geist herläuft. Diese Grunddualität wird aber in letzter Konsequenz
aufgehoben und entschärft durch den agonalen (= mächtigen) Lebenstrieb, der einen alles
vereinheitlichenden Monismus zur Folge hat. ­ Wie kann aber ein von unbewussten und
unbegreiflichen vitalen Kräften bewegter Geist überhaupt erkennen, wie kann er der Wahrheit
teilhaftig werden?
130
Nietzsches Werke Bd. 2: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ..., a.a.O., S. 4
131
Wolff, Hans M.: Friedrich Nietzsche... a.a.O., S. 262

31
C Seinsgewissheit (Amor fati) gegen Nihilismus (,,Das Sinnlose" ­ ewig)
,,Die dritte Periode beginnt auf dem Grunde des Gedankens der ewigen Wiederkehr mit dem
Zarathustra und endet mit Ecce homo. Sie allein enthält Nietzsches eigentliche
Philosophie."
132
Löwith spricht von einem ,,kritischen Überschritt", der sich vor allem in den
Aphorismen 341 und 342 der Fröhlichen Wissenschaft ausspricht mit den bezeichnenden
Titeln ,,Das größte Schwergewicht" und ,,incipit tragoedia".
,,Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die
Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese
höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann - ,
gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen,
mit der Unterschrift: ,6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit'. Ich
gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei
einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei
machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke."
133
,,Das größte Schwergewicht. - Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts
ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte:
,Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch
einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts
Neues daran sein"
134
.
Soweit die skizzenhaften Umrisse einer Art Offenbarung seiner neuen Weltkonzeption, für
die Nietzsche 1881 plante, ein jahrelanges Studium der Naturwissenschaften auf sich zu
nehmen. Der Gedanke der Ewigen Wiederkehr wird durch einen amor fati emphatisch bejaht,
ein Begriff, der ebenfalls in der Fröhlichen Wissenschaft als Wunsch ,,zum neuen Jahr"
ausgeht: ,,Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen:
- so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von
nun an meine Liebe! (...) Und, Alles in Allem und Großen: ich will irgendwann einmal nur
noch ein Ja-Sagender sein!"
135
Eine frühe Fassung des amor-fati-Gedankens, ohne ihn auf
diesen Begriff zu bringen, blitzt bereits in § 107 von Menschliches ­ Allzumenschliches auf:
,,Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der
Seele jener Einzelnen ... Alles ist Nothwendigkeit ­ so sagt die neue Erkenntniß; und diese
132
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S.125
133
Nietzsches Werke Bd. 8 (Ecce homo), a.a.O., S. 391
134
Nietzsches Werke, Bd. 5: (Die fröhliche Wissenschaft) a.a.O., § 341, S. 265
135
ebd., § 276, S. 209

32
Erkenntnis selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniß ist der Weg zur
Einsicht in diese Unschuld."
136
In umfassender Bedeutsamkeit finden sich Begriff und Gedanke im Ecce homo:
,,Meine Formel für die Größe des Menschen ist amor fati: daß man
Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle
Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloß ertragen, noch weniger
verhehlen ­ aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen
-, sondern es lieben"
137
.
Dies beschreibt die unabdingbare Beziehung zur Lehre von der Ewigen Wiederkunft.
Nach Löwith ist der endgültige Sinn dieser Lehre keineswegs ein moralischer, sondern ein
kosmologischer, d.h. Nietzsche geht von ,,einer als tatsächlich geschehend gedachten
Wiederkehr"
138
aus.
,,Die Einheit im metaphysischen Gleichnis der ewigen Wiederkehr
spaltet sich auf in eine zweifache Gleichung, nach Seite des Menschen
und nach Seite der Welt. Das Problem der Wiederkunftslehre ist aber
die Einheit dieses Zwiespalts zwischen dem menschlichen Willen zu
einem Ziel und dem ziellosen Kreisen der Welt.
(...).
Der Gedanke der ewigen Wiederkehr ist die ,Krisis' des Nihilismus.
In ihr entscheidet sich, ob der Mensch überhaupt noch da-sein will."
139
Die Lehre hat also Weltcharakter und verlangt vom Menschen das amor fati seiner
Seinsgewissheit.
,,Die These, daß die für alles moderne (naturwissenschaftliche,
geschichtliche und existenzialistische) Denken absurde Lehre von der
ewigen Wiederkehr das Kernstück in Nietzsches ganzer Philosophie
sei, muß freilich ... befremden ... Die Paradoxie ... verliert jedoch ihre
Anstößigkeit, sobald man einsieht, daß eine Lehre vom Menschen
bodenlos ist, wenn sie nicht entweder einen meta-physischen Gott
oder die physis der Welt zum tragenden Grunde hat; denn der Mensch
ist nicht da durch sich selbst. Und weil für Nietzsche der überweltliche
Gott tot war, musste er die alte kosmologische Frage nach der
Ewigkeit der Welt, im Gegensatz zu ihrer einmaligen Schöpfung, neu
stellen."
140
136
Nietzsches Werke, Bd. 3: (Menschliches Allzumenschliches I), a.a.O., § 107, S. 111
137
Nietzsches Werke Bd. 8 (Ecce homo), a.a.O., S. 354
138
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S. 355
139
ebd., S. 178f.
140
ebd., S. 337

33
,,Was Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen nach
der mit Descartes beginnenden Auflösung der christlichen
Daseinsauslegung auf der Spitze der Modernität wieder herstellen
will, ist die vorsokratische Sicht auf die Welt."
141
,,Der im Verlust der Welt auf sich zurückgeworfene christlich-
moderne Mensch ist nur noch so in der Welt, als wäre er nicht von
ihr"
142
.
Diese drei Zitate Löwiths umreißen das Gemeinte als kosmologische Frage. In seiner
Einleitung zur Schrift Vorspiel einer Philosophie der Zukunft führt er hierzu weiter aus:
Seine neue Weltkonzeption sei bereits in der frühen Abhandlung über Wahrheit und Lüge im
außermoralischen [d.h. kosmologischen] Sinn als Grundfrage auch aller späteren Schriften
nach dem Zarathustra zu erkennen. An den Philosophen im tragischen Zeitalter der Griechen
orientiere sich ,,Nietzsches Kritik der nihilistischen ,Modernität' der nachkopernikanischen
Menschenwelt, die ,nicht aus und nicht ein weiß' und ,aus einem Zentrum ins X fällt'."
143
Die Erzählung der nihilistischen Modernität kann mit der Beschreibung von Dieter Arendt
charakterisiert werden:
,,Nihilismus... ist die umgekehrte Seite des Idealismus. Nihilismus
kann sich nur entfalten, wo ein ontologisches Nichts vorausgeht in der
ideellen Konzeption der Welt, indessen ist das fadenscheinig
gewordene System des Idealismus bereits zu verstehen als die
säkularisierte Abfolge des christlichen Glaubens. Nihilismus ist somit
nur dort möglich, wo Glaube vorausging; ein Glaube in dem das
Nichts angelegt ist als Glaube an eine Schöpfung ex nihilo, oder als
Glaube, der sein Ethos als Negation der Sünde entwickelt. Die
Schöpfung aus dem Nichts ­ in der alttestamentlichen Überlieferung
noch verstanden als Ordnung des Chaos ­ war im Durchgang durch
die hellenistische Philosophie zum Kernstück neutestamentlicher
Dogmatik geworden; das Nichts blieb im Rahmen dieser Tradition
auch weiterhin der selbstverständliche Hintergrund oder Untergrund,
auf dem die Ordnung der Welt sich organisierte, auf dem die Welt
gleichsam schwimmt wie ,eine Insel im Ozean'."
144
Hier sei an den berühmten Brief Jacobis an Fichte vom März 1799 erinnert, in dem dieser
dessen Weiterentwicklung des Kantischen Transzendentalismus als nihilistisch bezeichnet.
141
ebd., S. 222
142
ebd., S. 274
143
Löwith, Karl: Einleitung des Herausgebers, in: Nietzsche, Friedrich: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft ­
Aus dem Nachlass ­ Briefe, ausgewählt und eingeleitet von Karl Löwith, Frankfurt /Main 1959, S. 7-27, hier S.
8
144
Arendt, Dieter: Nihilismus. Die Anfänge von Jacobi bis Nietzsche, Köln 1970, S. 89f.

34
Vorweggenommen sei Löwiths Urteil, ,,daß Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der
alten Welt seiner Modernität verhaftet blieb."
145
Von Schelling allein, als Denker des Idealismus, könnte gesagt werden, er habe, bildlich
gesprochen, im zitierten ,Ozean' des Nichts den Horizont des Seins im Auge behalten. Daher
zitiert Löwith aus seinem Werk Die Weltalter: ,,Die wahre Ewigkeit ist nicht die, welche alle
Zeit ausschließt, sondern welche die Zeit (die ewige Zeit) selbst sich unterworfen hält.
Wirkliche Ewigkeit ist Überwindung der Zeit."
146
Dies sei von Nietzsche ,,neu gedacht und
auf sein eigenes Verhältnis zur Zeit angewandt [worden]."
147
Weiter führt Löwith aus:
,,Schelling, mit dem sich Nietzsche nie befaßt hat und dessen
Wirksamkeit ihn nur in der abgeleiteten Gestalt von Schopenhauers
Metaphysik des Willens und von E. Hartmanns Philosophie des
Unbewussten erreicht hat, ist der einzige Denker des deutschen
Idealismus, der ­ trotz seiner theogonischen Konstruktionen ­ zu
Nietzsches Lehre vom ewigen Kreislauf ein positives Verhältnis
hat."
148
Schelling ist es auch, der in der Entgegnung auf Fichtes ,Annihilation' der natürlichen Welt
gesagt hat, sein rein handelndes Ich mache aus der Welt rein Nichts.
149
Die Moderne wird von Nietzsche als Ära des vollendeten Nihilismus diagnostiziert:
,,Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte.
Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die
Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt
werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke."
150
,,Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig?
Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte
Folgerung ziehen, weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik
unsrer großen Werte und Ideale ist, - weil wir den Nihilismus erst
erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich Werte dieser
,Werte' war...Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig...."
151
Soweit die Diagnose.
145
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O, S. 274
146
ebd., S. 336
147
ebd.
148
ebd., S. 285
149
ebd., S. 284
150
Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, a.a.O., § 1, S. 1
151
ebd., § 3, S. 2

35
Die Geschichte, d.h. die Entstehung und Verlaufsanamnese des Nihilismus schildert
Nietzsche in der Götzendämmerung als ,,Geschichte" des längsten ,,Irrtums": ,,Wie die
,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde"
152
: Die eine und ewige Welt des physischen Kosmos
ging im dualistischen Gegenbild der platonisch-christlichen Welt der Meta-physik verloren,
weil diese als die ,,wahre" Welt und jene als eine nur scheinbare Sinnenwelt galt. Mit der
Fabel von der ,,wahren" Welt ist es zu Ende. Dazu führt Nietzsche aus: "Die Kennzeichen,
welche man dem ,wahren Sein' der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht-
Seins, des Nichts, - man hat die ,wahre Welt' aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt
aufgebaut"
153
. ­ An anderer Stelle:
,,Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt
versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen
Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie ... bei einem
Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum
Umgekehrten hindurch ­ bis zu einem ... Jasagen zur Welt, wie sie
ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl -, sie will den ewigen
Kreislauf"
154
.
Dieses Ja zum Ganzen des Seienden nennt Nietzsche ,dionysisches Jasagen'. Löwith fasst es
so zusammen: ,,Was ist, soll so sein, wie es ist, weil es im Ganzen und notwendig ist.
Damit überwindet Nietzsche, scheinbar, den Nihilismus, unter dem Zeichen des Gottes
,Dionysos'."
155
Auf das ,,scheinbar" ist zurückzukommen. Problematisch bleibt auch das
Verhältnis von Welt und Mensch. Letztlich spricht Löwith von einer ,,fragwürdige[n] Lehre
von der ewigen Wiederkehr, die auf einen 'Kosmos Anthropos' abzielt"
156
.
Hier deutet sich ein Wendepunkt in der Auslegung von Nietzsches gesamter Philosophie an.
Die Problematik, ob es sich um eine anthropomorphe oder mundane Weltauslegung handelt,
kann als Dreh- und Angelpunkt aller sogenannten ,,großen Erzählungen" untersucht werden.
Diese Grundfrage soll im gesamtthematischen Schlussteil beantwortet werden.
Nach Nietzsche befindet sich der Mensch der vollendeten Moderne, die gleichzeitig
vollendeten Nihilismus bedeutet, in einem Sinnvakuum, das von ihm selber gefüllt werden
muss, nachdem alle metaphysischen und religiösen Bindungen, die zwei Jahrtausende
Sicherheit boten, weggebrochen sind. ,,Das eigentliche Problem in Nietzsches Philosophie ist
aber im Grund kein andres, als was es immer schon war: welchen Sinn hat das menschliche
152
Nietzsches Werke Bd. 8 (Götzendämmerung), a.a.O., S. 108
153
ebd., S. 107
154
zit.n. NI, S. 69 (dort ohne Quellenangabe)
155
ebd., S. 69f.
156
Löwith, Karl: Einleitung des Herausgebers...a.a.O., S. 19

36
Dasein im Ganzen des Seins?"
157
Kann man aber diesen Sinn mit den divergierenden Lehren
der Ewigen Wiederkunft auf der einen Seite und des Willens zur Macht auf der anderen Seite
ineins denken, wie Löwith es versucht hat? Selbst die Wiederkunftslehre wird ganz im Sinne
von Nietzsches ,Experimentalphilosophie' zweideutig und widersprüchlich mit dem üblichen
Spekulationspotential gedacht.
,,Das Wort vom Menschen als einem ,Ring' im großen Ring der Welt
dichtet ... in eins, was schon in Nietzsches eigenem Versuch zur
gedanklichen Explikation auseinanderfällt ... Die ,Subjektivität' der
Welt, heißt es einmal, sei nicht eine anthropomorphe, sondern eine
,mundane'. Der Mensch gehöre in seinem Höchsten und Niedrigsten
zum Wesen der physischen Welt, aber wir haben den Zugang zu ihr
nur durch uns selbst. Dieser menschliche Zugang vermenschlicht
jedoch nicht die Welt, sondern eröffnet den Blick für die
Weltförmigkeit unseres eigenen Verhaltens zu ihr ... Anders gesagt:
,Wir sind die Figuren im Traum des Gottes, die erraten wie er träumt'
­ ein Bild, welches dasselbe meint wie der Satz: ,,Es sind nicht unsere
Perspektiven, in denen wir die Dinge sehen: aber es sind Perspektiven
eines Wesens nach unserer Art, eines größeren: in dessen Bilder wir
hineinblicken.'"
158
Es wird gewissermaßen der unprivilegierte Mensch mit dem ,Auge des Universums' aus dem
,Wirken des Unendlichen' gesehen. Sicherlich kann hier geurteilt werden: Die
Wiederanlobung der alten, natürlichen Welt ist gelungen. Dazu gesellt sich die
Seinsgewissheit des amor fati:
,,Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück
schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die
Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel für: Weg
zum höchsten Glück."
159
,,Im Widerspruch zu diesem mundanen Verständnis des Menschen aus
dem Wesen der Welt, die keines Gottes bedarf, weil sie schon selber
schöpferisch ist, hießt es ein andermal umgekehrt: der Philosoph
suche nicht die Wahrheit der Welt, sondern ihre ,Metamorphose in
den Menschen', die ,Welt als Mensch'. Diese Umkehrung der
Blickrichtung macht aus dem kosmischen Ego eine vermenschlichte
Welt"
160
.
157
Ni, S. 104
158
Löwith, Karl: Einleitung des Herausgebers...a.a.O., S. 13; diese bildmächtigen und gleichzeitig fast mythisch
anmutenden Zitate entnimmt Löwith wohl Nietzsches Nachlass (bekanntlich ist die Quellenangabe umstritten;
Auseinandersetzung mit Schlechta)
159
Nietzsche, Friedrich: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft ­ Aus dem Nachlass ­ Briefe, ausgewählt und
eingeleitet von Karl Löwith, Frankfurt /Main 1959, S. 127
160
Löwith, Karl: Einleitung des Herausgebers...a.a.O., S. 13

37
Im Grunde ist diese Umkehr eine Rückkehr zur christlich gedachten Welt. Die unbewusste
Logik dieses Zusammenhanges schildert Löwith so:
,,Sein Versuch, aus dem endlichen Nichts des sich selber wollenden
Ich in das ewige Ganze des Seins zurückzufinden, mündet schließlich
in der Verwechslung seiner selbst mit Gott, um den herum alles zur
Welt wird."
161
Vor der abschließenden Beschreibung und Bewertung der Philosophie Nietzsches durch
Löwith sei erwähnt: Es ist Löwiths Bemühen, Nietzsche aus sich selbst heraus zu verstehen,
was ihm aufgrund gemeinsamer Denkwege gelingt. Insbesondere die Lehre von der Ewigen
Wiederkunft berührt Grundelemente seines eigenen philosophischen Denkens. Es ist sein
Verdienst, diese Lehre antik, griechisch zu verstehen und beschreiben zu können als Versuch
einer Wiedergewinnung der griechischen Ansicht der Welt. Vorher galt der
Wiederkunftsgedanke als moralischer Impetus einer nur ethischen Weltauffassung. Nietzsches
unzeitgemäßes Weltdenken ist Absage an Zeitgeist, Historismus und Fortschrittsgläubigkeit
und entspricht daher zentralen Motiven von Löwiths eigenem unzeitgemäßen Denken.
Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft ist für Löwith der Mittelpunkt seiner
auslegenden Nietzscheinterpretation. Sie ist der Versuch einer Überwindung des Nihilismus
in der fraglichen Verbindung des Willens zur Macht mit dem Wiederkunftsgedanken. Das
Wort vom Menschen als einem ,Ring' im großen Ring der kosmischen Welt bedeutet, dass
sich das ewig jasagende Wollen des menschlichen Daseins mit dem ewig wiederkehrenden
Sollen des Seins als Umkehrung des Willens zum Nichts vereinigt. Dazu schreibt Löwith in
seinem Buch Von Hegel zu Nietzsche unter 3. Nietzsches Versuch einer Überwindung des
Nihilismus:
,,Nietzsches eigentlicher Gedanke ist ein Gedanken-System, an dessen
Anfang der Tod Gottes, in dessen Mitte der aus ihm hervorgegangene
Nihilismus und an dessen Ende die Selbstüberwindung des Nihilismus
zur ewigen Wiederkehr steht. Dem entspricht die dreifache
Verwandlung des Geistes in der ersten Rede Zarathustras. Das ,Du
sollst' des christlichen Glaubens verwandelt sich zum freigewordenen
Geist des ,Ich will'; in der ,Wüste seiner Freiheit' zum Nichts
geschieht die letzte und schwerste Verwandlung vom ,Ich will' zum
ewig wiederkehrenden Dasein des kindlichen Spiels im Vernichten
und Schaffen ­ vom ,Ich will' zum ,Ich bin', nämlich im Ganzen des
Seins."
162
161
Ders., Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche aa.a.O. , S. 109
162
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 4: Von Hegel zu Nietzsche a.a.O., S. 246

38
Ineins gedacht wird das heraklitische Werden, als Wille zur Macht gedeutet mit dem
parmenidischen Sein der Ewigen Wiederkunft. Dazu schreibt Löwith in seinem Nietzsche-
Buch im Kapitel ,,Der einheitsstiftende Grundgedanke in Nietzsches Philosophie":
,,Wo der moderne Mensch ,nicht aus und nicht ein weiß', findet
Zarathustra den ,Ausweg aus zwei Jahrtausenden Verlogenheit',
indem er, als der Überwinder von Mensch und Zeit, die beiden endlos
geraden Wege, endend im Nichts, zum ewigen Kreis des Seins
zusammenschließt."
163
Überraschend heißt es wenige Seiten später:
,,Damit hat Nietzsche ­ scheinbar ­ die ,neuen Möglichkeiten des
Lebens' entdeckt, um derentwillen er schon zuerst die vorsokratische
Philosophie wiederholte, um zuletzt, auf der Spitze der
antichristlichen Modernität, die antike Ansicht der Welt zu
erneuern."
164
Die Dimension des ,Scheinbaren' erfasst Wiebrecht Ries sehr prägnant:
,,Jener der klassischen Philosophie unbekannte, in der Neuzeit
thematisierte und von Nietzsche radikalisierte Gegensatz zwischen
dem kosmischen Kreisen des Seins und dem wollenden Willen des
Daseins, zwischen einer dem Menschen abgründlich fremden Natur
und dem auf sie als hermeneutische Kategorie reflektierenden
geschichtlichen Bewußtsein, besitzt für Löwith eigenes Denken eine
höchste Relevanz. Von diesem Gegensatz ausgehend, wertet Löwith
Nietzsches grandioses Experiment als gescheitert."
165
Das Scheitern war zwangsläufig, ,,weil Nietzsche weder zur Antike zurückzukommen noch
aus dem Christentum herauszukommen vermochte."
166
Er benennt auch die ,Schärfe' der
Kritik Löwiths an der völlig ,ungriechischen' Verstiegenheit dieses Denkens. Diese Kritik,
die in außerordentlich präziser Form weite Teile von Löwiths Denken spiegelt und daher fast
vollständig zitiert werden muss, führt außerdem zu jenen acht Thesen aus dem Jahr 1935 hin,
die ein Resumée aus seinem Nietzsche-Studium beinhalten.
Nun zur Analyse des Scheiterns:
,,Kein griechischer Philosoph dachte so ausschließlich im Horizont der
Zukunft und keiner hat sich als ein geschichtliches Schicksal
genommen. Alle griechischen Mythen, Genealogien und Geschichten
vergegenwärtigen die Vergangenheit als eine immer währende
Grundlegung. Ebenso ungriechisch ist der Wille zur Macht, der als ein
Wille zu etwas die Zukunft will, wogegen der ewige Kreislauf des
163
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S. 189f.
164
ebd., S. 194
165
Ries, Wiebrecht: Karl Löwith, Stuttgart 1992, S. 87f.
166
ebd., S. 88

39
Entstehens und Vergehens diesseits von Wille und Zweck ist. Für die
Griechen offenbarte die sichtbare Kreisbewegung der himmlischen
Sphären einen kosmischen Logos und eine göttliche Vollendung; für
Nietzsche ist die ewige Wiederkehr der ,schrecklichste' Gedanke und
das ,größte Schwergewicht', weil er im Widerspruch zu seinem
Willen zu einer künftigen Erlösung ist. Nietzsche hat die Zeitlichkeit
der Zeit zur Ewigkeit der ewigen Wiederkehr ,überwinden' wollen;
die Griechen gingen vom Immerseienden aus und dachten die
vorübergehende Zeit als ein minderes Abbild der Ewigkeit. Für das
griechische Verständnis des Menschen bedeutet Menschsein so viel
wie ein ,Sterblicher' sein, während Nietzsche das flüchtige Dasein des
endlichen Menschen ,verewigen' wollte. Für die Griechen erklärte die
ewige Wiederkehr von Hervorgang und Rückgang den beständigen
Wandel in Natur und Geschichte; für Nietzsche erfordert die
Anerkennung einer ewigen Wiederkehr einen extremen und
ekstatischen Standpunkt. Die Griechen empfanden Furcht und
Ehrfurcht vor dem unausweichlichen Fatum; Nietzsche machte die
übermenschliche Anstrengung, es zu wollen und zu lieben, um die
höchste Notwendigkeit in eine ,Wende der Not' umzuschaffen. All
dies superlativische, ,höchste' und ,letzte' Wollen und Zurückwollen,
Schaffen und Umschaffen ist ebenso widernatürlich wie ungriechisch.
Es stammt aus der jüdisch-christlichen Tradition, aus dem Glauben,
daß Welt und Mensch durch Gottes allmächtigen Willen geschaffen
sind. Nichts ist in Nietzsches Denken so auffallend wie die Betonung
unseres schöpferischen Wesens, schöpferisch durch den Willensakt,
wie bei dem Gott des Alten Testaments. Für die Griechen war das
Schöpferische im Menschen eine ,Nachahmung' der Natur und ihrer
natürlichen Hervorbringungskraft. Nietzsche hat die Verwandlung des
biblischen ,Du sollst' in das moderne ,Ich will' zu Ende gelebt und
gedacht, aber nicht den entscheidenden Schritt vom ,Ich will' zu ,Ich
bin' des kosmischen Welten-Kindes vollbracht, welches Unschuld ist
und Vergessen. Als ein moderner Mensch war er so hoffnungslos
geschieden von einer ursprünglichen ,Treue zur Erde' und von dem
Gefühl einer ewigen Sicherheit unter dem Himmelszelt, daß seine
Anstrengung, den Menschen in die Natur ,zurückzuübersetzen' von
vornherein zum Scheitern verurteilt war. Seine Lehre bricht entzwei,
weil der Wille zur Verewigung der ins Dasein geworfenen Existenz
des modernen Ego mit der Schau eine ewigen Kreislaufs der
natürlichen Welt nicht zusammenpaßt."
167
Es sollen noch zwei kritische Stimmen zu Wort kommen: Ein Kritiker Löwiths und der größte
Kritiker Nietzsches, der gleichzeitig sein größter Bewunderer ist.
In einem kleinen, aber durchaus beachtenswerten Aufsatz unter dem Titel ,,Die Aporien von
Löwiths Rückkehr zur ,natürlichen Welt'"
168
(Untertitel: Gegen den Strom denken) misst
167
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S. 255f.
168
Covic, Ante: Die Aporien von Löwiths Rückkehr zur ,,natürlichen Welt", in: Philosophisches Jahrbuch 104
(1997), S. 182-192

40
Ante Covic am Scheitern Nietzsches ,,zugleich auch" das vermeintliche ,,Scheitern von
Löwiths philosophischer Intention": ,,Löwith konnte die Projektion der Rückkehr zur
natürlichen Welt als Grundintention und wichtigsten Programmpunkt seiner Philosophie
außerhalb des Mediums von Nietzsches Denken einfach nicht entwerfen."
169
Diese ,einfache'
Behauptung hat aber Covic selber bereits eine Seite vorher widerlegt durch seine eigene kluge
Analyse. Dort beschreibt er nämlich als ,,Kern des Problems":
,,die Unmöglichkeit des Übergangs vom Prinzip des Wollens (Wille),
auf dem die abendländische Welt begründet ist, zum Prinzip der
Überlassenheit, das der archaischen und entschwundenen Welt der
natürlichen Unmittelbarkeit anhaftete ... Erreichbar wird sie vielleicht
erst durch die Preisgabe des Willens."
170
Dem ist zuzustimmen. Nun hatte aber der Agnostiker Löwith, dessen ,,unfaßlicher Gleichmut"
immer wieder belegt ist
171
, niemals wie Nietzsches mit unüberwindbarer Christlichkeit und
dem Glauben an die Allmacht eines abendländischen Schöpfers zu kämpfen. Selbst Habermas
bezeichnet ihn als Stoiker (nebenher ist zu bezweifeln, dass er so spätantik war). Die pagane
Seinsgewissheit des id quod substat war bereits der Maßstab, den er an seinen Lehrer
Heidegger angelegt hat; hat er deswegen dessen versteckte Christlichkeit und seine
Nietzscheanischen Machtphantasien verkannt? Wer hat Denker wie Spinoza oder Goethe, die
nie aus der Vorstellungswelt einer antiken Kosmologie herausgefallen sind, besser
verstanden? Sein ganzes Denken hatte nicht im entferntesten die Wiedergewinnung einer
vorchristlichen Welt nötig und schon gar nicht mit Hilfe einer Lehre ewiger Wiederkehr, von
Nietzsche absurd christlich, als christlicher Schöpfungsakt und für ihn selber als äußerste
Strafe ­ gewissermaßen als ,der Sünde Sold' verstanden. Als Wiederlegung der Behauptung
Covics genügen bereits die erwähnten 8 Thesen Löwiths und je für sich alleine schon seine
ausführliche scharfe Kritik an Nietzsche ­ These für These ­ und dazu die Kommentierung
von Wiebrecht Ries.
Löwith wäre auch originär, wenn er sich nie mit Nietzsche befasst hätte. Dies kann man von
Klages nicht sagen, der aber bei Nietzsche eine ,giftige' (christliche) und eine ,goldene'
(heidnische) Seite feststellt, wobei es sich einerseits um die Philosophie, andererseits um die
Psychologie Nietzsches handelt. Löwith schreibt in seiner anfangs bereits erwähnten
Abhandlung von 1927 ,,Nietzsche im Licht der Philosophie von Ludwig Klages": ,,so erweist
169
ebd., S. 192
170
ebd., S. 191
171
z.B. Gadamer, Hans-Georg: Karl Löwith, in: Ders.: Philosophische Lehrjahre. Eine
Rückschau. Frankfurt/M. 1977, S. 231-239, hier S. 231

41
sich bei Klages die Psychologie Nietzsches als grundlegend für seine gesamte
Philosophie."
172
Die Wiederkunftslehre sei ­ so beschreibt Löwith die Interpretation von Klages ­ ,,das
Gegenteil von dem, was sie sein will; sie ist keine Bejahung des heraklitisch-dionysischen
Seins, sondern eine Verneinung des Selbstmords."
173
In Klages' Worten hat sie ,,das äußerste,
was sich ersinnen lässt, zwar nicht an Bejahung des Lebens, wohl aber an Verneinung der
Verneinung geleistet. Es ist die Abwehrformel der unbeugsamsten Selbstbehauptung gegen
den Hang zu Selbstvernichtung."
174
Sein endgültiges Scheitern resultiere daraus, dass er ,,'an
zwei einander todfeindlichen Standpunkten festhielt, dem der unbedingten Bejahung des
Lebens und dem der unbedingten Bejahung des Willens', der der Feind alles Lebens ist. Denn
was ist widersinniger und unmöglicher, meint Klages, als ,in einem Atem Ja und Nein zu
sagen?'"
175
Löwith urteilt über Klages' Nietzsche-Interpretation u.a. so: ,,Klages ist blind für die
wesentliche ,Negativität des Geistes', die nach Hegels Einsicht darin besteht, von allem, was
ist, ,abstrahieren zu können'"
176
In diesem Urteil kann aber ebensoviel Zustimmung wie
Ablehnung entdeckt werden, denn was geißelt Klages denn mehr als die alles auflösende, nie
endende willensmächtige Selbstreflexion? Klages, der erste ökologisch vorausblickende
Psychologe und Denker, kann an geeigneter Stelle (durchaus noch des öfteren) zur Analyse
der nihilistischen ,Erzählungen' bemüht werden, ohne dass der Dualismus seiner dunklen
Philosophie geteilt werden muss, die er selber ­ vor über 100 Jahren ­ so schildert: ,,Das
Wesen des ,geschichtlichen' Prozesses der Menschheit (auch ,Fortschritt' genannt) ist der
siegreich fortschreitende Kampf des Geistes gegen das Leben mit dem (allerdings nur) logisch
absehbaren Ende der Vernichtung des letzteren."
177
Mit der Interpretation der Lehre von der Ewigen Wiederkunft ist aber Nietzsches Denkweg,
der m.E. zum vollendeten Nihilismus führt, nicht zu Ende beschrieben. Hat er seinen
,abgründigsten Gedanken', die Vision von Sils Maria nicht ausgehalten? Miguel Skirl
schreibt im Nietzsche Handbuch: ,,N. verschwendet ab 1887 keinen Gedanken mehr an den
172
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O., S. 14
173
ebd., S. 361
174
Klages, Ludwig: Die psychologischen Errungenschaften... a.a.O., S. 216
175
Karl Löwith, Sämtliche Schriften Bd. 6: Nietzsche a.a.O, S. 361f.
176
ebd., S. 362
177
Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher der Seele, 6. Aufl. Bonn 1981, S. 69

42
Gedanken der Gedanken (nachdem er 1885 ,erledigt' wird)."
178
Mit dem Zarathustra habe
Nietzsche eine ,,Häutung" durchlebt. Die physikalischen Spekulationen gäbe es weiterhin,
,,aber sie lassen sich nun genauso in den ,Wirkungskreis' der Machtwillen einordnen."
179
Das
ateleologische Denken habe sich verschärft zu einem Ende aller Teleologie ­ eines
Wiederkunftgedankens.
Außerdem verlangt Nietzsche von seiner ,,Experimentalphilosophie", dass sie sozusagen die
eigenen Gedanken verrät. Dies wird jedenfalls in Jenseits von Gut und Böse beschrieben: Es
gehöre zur ,,Moral der Methode", einen Gedanken bis zum Exzess der Widersprüchlichkeit
,,( - bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen)"
180
zu treiben.
Diese ,Moral' kann aber nur noch als exzessiver und ganz bewusster Nihilismus beschrieben
werden. Ihre Rechtfertigung findet sich in der frühen Zusammenstellung unter dem Titel Der
Wille zur Macht: ,,Ein- und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein
subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine ,Notwendigkeit' aus, sondern nur ein
Nichtvermögen."
181
Hier wird nicht nur ,,der Satz vom Widerspruch [als] der gewisseste aller
Grundsätze"
182
aufgelöst. In einem Gedicht von Gottfried Benn, der, wie erwähnt, Nihilismus
als ,ein Glücksgefühl' bezeichnete, heißt es unter dem Titel ,,Verlorenes Ich" in einer
Strophe:
Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
und was die Menschheit wob und wob,
Funktion nur von Unendlichkeiten ­
die Mythe log.
Die ,verlogene Mythe' in der einstigen Beschreibung der Heraufkunft des Nihilismus durch
Nietzsche besteht im letzten Satz: ,,Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig..."
183
.
Inzwischen und letztendlich beschreibt Nietzsche seinen Weg so:
,,Zur Genesis des Nihilisten. ­ Man hat nur spät den Mut zu dem, was
man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen
bin, das habe ich mir erst seit kurzem eingestanden; die Energie, der
Radikalismus, mit dem ich als Nihilist vorwärts ging, täuschte mich
178
Miguel Skirl: Art. ,,Ewige Wiederkunft", in: Ottmann, Henning (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk,
Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 222- 230, hier S. 230
179
ebd.
180
Nietzsches Werke Bd. 7: Jenseits von Gut und Böse ..., a.a.O., § 36, S. 57
181
Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, a.a.O., § 339, S. 186
182
ebd.
183
Ebd., § 3, S. 2

43
über diese Grundtatsache. Wenn man einem Ziele entgegen geht, so
scheint es unmöglich, daß ,die Ziellosigkeit an sich' unser
Glaubensgrundsatz ist."
184
Am Weltgrunde, so meint Nietzsche, liegt gar nicht ein Sehendes oder Geplantes, sondern
lediglich Blindes und Alogisches. Aber auch nicht, wie die Romantik, vor allem Carus,
glaubte, eine unbewusste Weisheit, sondern etwas völlig bar jeder Weisheit, keine unbewusst
bildende Idee, sondern nur chaotisch strebende und drängende Kräfte. ,,Wer uns das Wesen
der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen."
185
,,Diese
Welt ist der Wille zur Macht ­ und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur
Macht ­ und nichts außerdem!"
186
Bereits Schopenhauer hatte den Blick auf die Sinnlosigkeit, Hässlichkeit, Bosheit, Leiden der
Welt geheftet, und Nietzsche blieb ihm in dieser Grundauffassung von der tiefen Irrationalität
und Wertfremdheit des Daseins zeitlebens verbunden ­ wenn er dies auch zeitweilig vergaß.
Für ihn ist die ,Dummheit des Willens der größte Gedanke Schopenhauers'. Aus der Blindheit
dieser alles durchdringenden Lebenskraft folgt aber für Nietzsche: ,,die Erde selbst, wie jedes
Gestirn, ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen, ein Ereignis ohne Plan, Vernunft, Wille,
Selbstbewußtsein, die schlimmste Art des Notwendigen, die dumme Notwendigkeit"
187
. So
wird bei Schopenhauer wie bei Nietzsche das Bewusstsein seiner Autonomie entkleidet. Es
findet eine Schwergewichtsvertauschung statt, nach der nicht mehr, wie bisher, das Kognitive,
sondern das Voluntative (von beiden als das Vitale missverstanden) den Primat hat, sowohl
im Menschen wie in der Natur.
Nietzsche geht aber in dieser Tendenz noch weit über Schopenhauer hinaus. Bei
Schopenhauer greifen Erkenntnissphäre und Willenssphäre, trotz ihrer Abhängigkeit, doch
nicht ineinander über. Wiewohl der Wille sich den Intellekt erzeugt, ist dieser doch gleichsam
aus ganz anderem Material als er selbst. Er enthält gar nichts vom monotonen Drang des
Willens und gelangt auf seiner höchsten Stufe im interesselosen Schauen zur Verneinung des
Willens. Bei Nietzsche aber ist die Durchdringung beider viel enger. Es ist bei ihm völlig
ausgeschlossen, dass sich das Bewusstsein wie bei Schopenhauer in Auflehnung gegen seinen
ursprünglichen Zweck vom Gängelband des Willens löst, dass er autonom wird, und dadurch
184
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, hrsgg. v. Karl Schlechta, 9. Aufl. 1982, hier Bd. 3, S. 530
185
Nietzsches Werke, Bd. 3: Menschliches Allzumenschliches...a.a.O., § 29, S. 47
186
Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, a.a.O., § 696, S. 376
187
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden...(Schlechta), a.a.O., Bd. 3, S.836f.

44
dann doch zur Einsicht in metaphysische Wahrheiten gelangen kann. Es gibt für den Geist
kein Sichhinwegschwingen über die allgemeine Lebensgrundlage, oder wenn, dann ist es
nicht zu seinem Gewinn. ,,Den Willen aber überhaupt zu eliminieren ... , gesetzt daß wir dies
vermöchten: wie? hieße das nicht den Intellekt castriren?"
188
So wird bei Nietzsche in letzter Konsequenz seiner Lehre alles Bewusstsein restlos
depotenziert, und der Geist wird zu einem bloßen Epiphänomen eines dumpfen
Lebensdranges. ­ War es dieser Blick in den Grund des Daseins, der schon den dionysischen
Menschen erschaudern machen sollte? Wenn ihm aber die Vereinigung mit diesem Urtrieb
Linderung des Leidens brachte ­ dadurch dass er eben nicht im Anblick des Abgrunds
verharrte, sondern sich in ihn stürzte, um in der Vereinigung die beiden Pole Individuum
(Scheinordnung ­ Teilchaos) und Urchaos aufzuheben ­ warum dann suchte er sich nicht in
einzigartigen Willensanstrengungen mit dem Weltwillen zu vereinen? Warum wurde das
Wesen des dionysischen Menschen gerade als pathisch beschrieben, d.h. als nichtwollend? ­
Es könnte heißen, dass der Wille des Einzelnen sich wollend mit dem Weltwillen entzweit
habe und eben im dionysischen Rausch wieder auf diesen hinhört. ­
Nietzsche hat offenbar hin und wieder eine Zeitlang an diese Möglichkeit geglaubt. Jedenfalls
hat er lange Zeit für seine eigene Geisteshaltung nicht im entferntesten die Folgerungen
gezogen, welche sich aus seinem grundsätzlichen Monismus hätten ergeben müssen. Obwohl
es sich in seiner Parteinahme für das Leben doch bestenfalls nur um ein das Naturgeschehen
begleitendes Wünschen handeln könnte, nimmt sich das bei ihm so aus, als ob der
Lebensbejaher dem Leben gleichsam zur Hilfe kommen, der lebensverneinende Asket ihm
schaden könnte, eine Ansicht, die vor dem Hintergrund seiner eigenen monistischen
Grundanschauung nicht klüger erscheint, als wenn jemand glaubte, durch seine Zustimmung
oder Ablehnung die Erdbewegung beschleunigen oder verzögern zu können.
Damit wird aber auch der Wille nicht weniger als das Bewusstsein zur Ohnmacht verurteilt,
denn was ,will' hier noch ,zur Macht', wenn das Quantum der Macht doch immer gleich
bleiben muss, wie es die Lehre von der ,Ewigen Wiederkunft alles Gleichen' noch einmal
unterstreicht und so doppelt sichert? Warum überhaupt noch für dieses unbegreifliche Wirken
einer agonalen Lebenskraft das Wort ,Wille', wenn wir einen solchen Begriff doch nur
dadurch verstehen können, dass wir ihm uns analoge, d.h. anthropomorphe Qualitäten
188
Nietzsches Werke Bd. 7: (Zur Genealogie der Moral), a.a.O., § 12, S. 425

45
verleihen. Nietzsche hätte zuletzt gar nicht mehr von ,Willen' sprechen können, sondern von
einer Größe X , die auf unbekannte und unbegreifliche Art und Weise alles Leben durchwirkt.
Jedenfalls von einem ,,Willen zur Macht" zu sprechen, hätte nur dann Sinn, wenn er die
Möglichkeit des Mächtiger-Werdens enthielte. Aber da das Quantum der Macht im Ganzen
der Welt konstant ist und auf keine Weise vermehrt werden kann, wird durch Anhäufung
,dynamischer Quanten' an einem Punkt an anderen Stellen ebensoviel davon entzogen, und es
wäre nicht einzusehen, welche sinnvolle Bedeutung einer solchen Wanderung der
Machtfülle von einem Ort zum anderen innewohnen sollte ­ wenn überhaupt diese
Vorstellung sich aufrecht erhalten ließe. ­ Durch die Lehre von der ,Ewigen Wiederkehr alles
Gleichen' verliert aber auch alles Lehren von einer möglichen Höherentwicklung des
Menschen zum Übermenschen, zu dem er eben durch sein Schöpfertum, d.h. durch großartige
Willensanstrengung gelangen soll, jeden Sinn.
Wenn es im Willen zur Macht auch heißt: ,,der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch
zu sein"
189
, so konnte sich doch Nietzsches ,,intellektuelle Redlichkeit", sein ,,intellektuales
Gewissen"
190
der Einsicht in die absolute Sinnlosigkeit seiner Lehre zuletzt nicht mehr
entziehen.
Wohin sich der Blick des Erkennenden auch richtet, immer ergibt sich dasselbe Bild:
Unbegreifliches legt Unbegreifliches aus: ,,Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir
selbst uns selbst"
191
. Aber nicht nur die Tatsache, dass der Mensch sich selber ewig fremd
bleibt, ist festzuhalten, sondern:
,,Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von
Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft,
ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen außer sich
heraussetzen, als ihre Außenwelt. Die Fähigkeit zum Schaffen
(Gestalten, Erfinden, Erdichten) ist ihre Grundfähigkeit: von sich
selber haben sie natürlich ebenfalls nur eine solche falsche, erdichtete,
vereinfachte Vorstellung."
192
Die nicht hintergehbare Struktur des Erkenntnisapparates wird so beschrieben: ,,'Erkennen'
ist ein Zurückbeziehen: seinem Wessen nach ein regressus in infinitum. Was Halt macht (bei
einer angeblichen causa prima, bei einem Unbedingten usw.), ist die Faulheit, die
189
Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, a.a.O., § 29, S. 16
190
Nietzsches Werke, Bd. 3: Menschliches Allzumenschliches...a.a.O., § 109, S. 117
191
Nietzsches Werke Bd. 7: (Zur Genealogie der Moral), a.a.O., Vorrede, S. 283
192
Nietzsche, Friedrich: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt. VII/3, Nachgelassene Fragmente Herbst 1884 -
Herbst 1885, hrsgg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari et al., Berlin / New York 1974, S. 223

46
Ermüdung"
193
. So zerfließt alles in Nichts. Beispielhaft nur wenige Aussagen: ,,Es gibt
vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen -: und folglich gibt es vielerlei ,Wahrheiten', und
folglich gibt es keine Wahrheit."
194
Bereits in der Götzendämmerung heißt es: ,,Am Anfang steht das große Verhängniß von
Irrthum, daß der Wille etwas ist, das wirkt, daß Wille ein Vermögen ist...Heute wissen wir,
daß er bloß ein Wort ist"
195
.
Im Nachlass der Achtzigerjahre findet sich:
,,Unfreiheit oder Freiheit des Willens? ­ Es gibt keinen ,Willen': das
ist nur eine vereinfachende Konzeption des Verstandes, wie ,Materie'.
Alle Handlungen müssen erst mechanisch als möglich vorbereitet
sein, bevor sie gewollt werden. Oder: der ,Zweck' tritt im Gehirn
zumeist erst auf, wenn alles vorbereitet ist zu seiner Ausführung. Der
Zweck ein ,innerer' ,Reiz', nicht mehr."
196
Letztendlich: ,,Parmenides hat gesagt: ,man denkt das nicht, was nicht ist'; - wir sind am
andern Ende und sagen, ,was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein'."
197
Die letzte, nicht mehr zu hintergehende Einsicht ist die eines schroffen Determinismus: ,,Der
Einzelne ist ein Stück fatum, von vorne und von hinten, ein Gesetz mehr, eine
Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen ,ändere dich' heißt
verlangen, , daß Alles sich ändert, sogar rückwärts noch"
198
. ,,Die Fatalität seines Wesens ist
nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. Es ist nicht die
Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks"
199
.
Ivo Frenzel beschreibt in seiner Nietzsche-Monographie das Spätwerk als bestimmt von der
,,Einsicht", die sich bereits in der frühen Schrift Über Wahrheit und Lüge im
außermoralischen Sinne angedeutet habe, sein Leben ,,in einer an sich sinnlosen Welt zu
meistern."
200
Dies belegen folgende Zitate:
,,Im Sommer 1887 heißt es: Die extreme Form des Nihilismus wäre
die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes Fürwahrhalten notwendig falsch
ist: weil es eine wahre Welt gar nicht gibt. Also: ein perspektivischer
193
Nietzsches Werke, Bd. 9: Der Wille zur Macht, a.a.O., § 348, S. 191
194
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden...(Schlechta), a.a.O., Bd. 3, S.844
195
Nietzsches Werke Bd. 8 (Götzendämmerung, Die ,,Vernunft" in der Philosophie), a.a.O., § 5, S. 106
196
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden...(Schlechta), a.a.O., Bd. 3, S. 913
197
ebd., S. 730
198
Nietzsches Werke Bd. 8 (Götzendämmerung, Moral als Widernatur), a.a.O., § 6, S. 115f.
199
ebd. (Die vier großen Irrthümer), § 8, S. 126
200
Frenzel, Ivo: Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1966, S. 121

47
Schein. Und an anderer Stelle: Denken wir diesen Gedanken in seiner
furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel,
aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ,die
ewige Wiederkehr'. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das
Nichts (das ,Sinnlose') ewig!"
201
Wie aber hat Nietzsche das ausgehalten? In einem Brief an Franz Overbeck vom 22.Februar
1883 aus Rapallo heißt es: ,,Nein! Dieses Leben! Und ich bin der Fürsprecher des
Lebens!!"
202
,,Das ist das Nein des Jasagers, der Neinsager wieder als Wahrsager.
Noch deutlicher ein Zettel an Lou Andreas-Salomé: ,Zu Bett.
Heftigster Anfall. Ich verachte das Leben'. Wo Nietzsche
höchstpersönlich spricht, wo er nicht verkündet, da spricht der
Leidensrealismus. Und der mündet schließlich in einen Widerruf: ,Ich
will das Leben nicht wieder. Wie habe ich's ertragen? Schaffend. Was
macht mich den Anblick aushalten? Der Blick auf den Übermenschen,
der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen ­
Ach!'"
203
201
ebd.
202
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden...(Schlechta), a.a.O., Bd. 3, S. 1203
203
zit.n. Lütkehaus, Ludger: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst, Frankfurt/M. 2003, S. 380
Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Nietzsches Selbstvernichtung im Versuch, den Nihilismus durch amor fati zu überwinden
Autor
Jahr
2016
Seiten
47
Katalognummer
V337642
ISBN (eBook)
9783668269682
ISBN (Buch)
9783668269699
Dateigröße
645 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Vorarbeit für eine Dissertation. Essay über Nietzsches amor fati unter besonderer Berücksichtigung der Forschungsergebnisse des Philosophen Karl Löwith.
Schlagworte
Nietzsch
Arbeit zitieren
Wolf K. Obermanns (Autor:in), 2016, Nietzsches Selbstvernichtung im Versuch, den Nihilismus durch amor fati zu überwinden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/337642

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