Einleitung
Als der Schriftsteller Thomas Mann im Jahre 1930 in seiner „Deutschen Ansprache“ vor dem aufkommenden Faschismus warnte, untertitelte er seine Rede als „Appell an die Vernunft.“1 Seine
Warnung wurde überhört und wer heute noch von Vernunft oder Rationalität spricht, macht sich zunehmend des Anachronismus verdächtig. Die historische Entwicklung seit der Französischen
Revolution, die als Beginn der Wirkungsgeschichte der Aufklärung gelten kann, läßt Zweifel aufkommen an der Idee einer mit sich selbst versöhnten Gesellschaft, die immer wieder zur Legitimation für Barbarei mutierte. Die Geisteswissenschaften, die einst die Vernunft ausweisen wollten, haben seitdem den Niedergang der Aufklärung im Zuge der degenerierten Ausartungen, von der Schreckensherrschaft Robespierres über die sowjetischen Schauprozesse bis hin zu Auschwitz, reflektiert.
Hegel konnte zwar vor dem Hintergrund der „Sturm und Drang“ Zeit noch ausrufen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“2 Auf der anderen Seite
rechnete er aber bereits der neuen Zeit ihre Defizite in Form der Positivierung vor.3 Gegen die von ihm kritisierten Tendenzen bot er seinen dialektisch vermittelten Vernunftbegriff auf, der, vor dem
Hintergrund der Vernunftphilosophie, noch als totalitärer auftreten durfte. Die bereits von Kant vorgenommene Zersplitterung des Vernunftkosmos, wird bei Hegel noch einmal revidiert und findet
im sich selbst setzenden Weltgeist einen letzten Höhepunkt.
Karl Marx griff diese Lösung zwar auf, radikalisierte sie jedoch durch ihre Assimilation an eine materialistische Theorie der Gesellschaft. Er schrieb bereits im Zeitalter der industriellen Revolution, der damit einhergehenden Pauperisierung und verlangte nach einer Veränderung, die nicht in den spekulativen Ansätzen seines Lehrers stehen blieb.4
[...]
_____
1 Vgl. Thomas Mann: Ein Appell an die Vernunft. Essays 1926-1933, Frankfurt 1994, S. 259
2 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.: Werke Bd.7, Frankfurt 1995 (a), 4. Aufl., S.24
3 Vgl. etwa G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke Bd.3, Frankfurt 1991, 3. Aufl., S. 409
4 Zur marxschen Kritik an der idealistischen Fassung der Philosophie Hegels vgl.: Karl Marx: Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke (MEW) Bd.23, [...]
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung.
- 2. Die Notwendigkeit des kommunikationstheoretischen Paradigmenwechsels
- 2.1. Das Problem der selbstreflexiven Kritik
- 2.2. Zur Kritik der Kritischen Theorie.
- 3. Das Konzept der kommunikativen Vernunft.
- 3.1. Universalpragmatismus und kommunikatives Handeln…..\li>
- 3.2. Die Entwicklung kommunikativer Kompetenz........
- 3.3. Diskursethik als praktische Vernunft.
- 4. Eine Gesellschaftstheorie zwischen Aufklärung und Optimismus..
- 4.1. Das soziologische Lebensweltkonzept....
- 4.2. Die soziale Evolution als Entkoppelung von System und Lebenswelt
- 4.3. Kolonialisierung der Lebenswelt und Fragmentierung des Bewusstseins als Ausdruck moderner Sozialpathologien..........\li>
- 4.4. Die Kolonialisierungsthese vor dem Hintergrund kommunikativer Vernunft.....
- 5. Kolonialisierung und Habitus…..\li>
- 5.1. Methodische Vorüberlegungen.
- 5.1.1. Der Habitusbegriff..
- 5.1.2. Der Klassenbegriff.
- 5.1.3. Klassenhabitus und Distinktion.........
- 5.2. Der Unterklassenhabitus oder Geschmack aus Notwendigkeit..
- 5.3. Die kolonialisierte Lebenswelt und der Habitus..
- 6. Die Diskurstheorie des Rechts...
- 6.1. Der Stellenwert des Rechtsbegriffes..
- 6.2. Das System der Rechte.
- 6.3. Der deliberative Politikansatz...
- 6.4. Das Problem einer autonomen Öffentlichkeit.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Hausarbeit analysiert den Vernunftbegriff und die Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas im Kontext der Debatte über die Aufklärung und ihre Folgen. Sie befasst sich mit dem Paradigmenwechsel in der Kritischen Theorie, der die Kritik an den bestehenden Herrschaftsstrukturen neu denkt und den Fokus auf die kommunikative Vernunft richtet.
- Das Problem der selbstreflexiven Kritik
- Das Konzept der kommunikativen Vernunft und die Diskursethik
- Die Lebenswelt und ihre Kolonialisierung durch Systeme
- Der Zusammenhang von Habitus und Kolonialisierung
- Die Diskurstheorie des Rechts und die Rolle der Öffentlichkeit
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung beleuchtet die Problematik des Vernunftbegriffs in der modernen Gesellschaft und stellt die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Kritik der Aufklärung dar. Das zweite Kapitel untersucht die Schwächen der Kritischen Theorie und die Begründung für die Hinwendung zu einer kommunikationstheoretischen Perspektive. Das dritte Kapitel erläutert das Konzept der kommunikativen Vernunft, die sich auf die Entwicklung von kommunikativen Kompetenzen und die Diskursethik fokussiert. Das vierte Kapitel analysiert die Lebenswelt und ihre Kolonialisierung durch Systeme, wobei insbesondere die Folgen für das Bewusstsein und die Fragmentierung der Gesellschaft betrachtet werden. Das fünfte Kapitel widmet sich dem Habitusbegriff und seiner Verbindung zu der kolonialisierten Lebenswelt. Im sechsten Kapitel wird die Diskurstheorie des Rechts und die Bedeutung der öffentlichen Meinung im Kontext der deliberativen Politik analysiert.
Schlüsselwörter
Die Hausarbeit befasst sich mit zentralen Konzepten wie kommunikative Vernunft, Lebenswelt, Kolonialisierung, Habitus, Diskursethik, Öffentlichkeit, und deliberative Politik. Die Analyse verknüpft diese Konzepte mit der Kritik an der traditionellen Aufklärung, die insbesondere durch die Werke von Adorno und Horkheimer beleuchtet wird.
- Arbeit zitieren
- Raphael Beer (Autor:in), 1997, Zwischen Aufklärung und Kritik - Vernunftbegriff und Gesellschaftstheorie bei Jürgen Habermas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3386