Zwischen Gegenwart und Zukunft. Dystopien in Romanen des 21. Jahrhunderts


Masterarbeit, 2016

86 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zu den Begriffen Utopie und Dystopie
2.1 Utopie - Zur Begriffsbestimmung
2.2 Dystopie - Zur Begriffsbestimmung

3. Die klassischen ‚schwarzen‘ Dystopien
3.1 Jewgenij Samjatins Wir (1920)
3.2 Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932)
3.3 George Orwells 1984 (1949)

4. Juli Zehs Corpus Delicti - Ein Prozess (2009): Dystopie einer Gesundheitsdiktatur
4.1 Das Leben in der Gesundheitsdiktatur
4.1.1 Allgegenwart der Gesundheitskontrolle
4.1.2 Machtausübung im totalitären Staat
4.1.3 Widerstand gegen die „Methode“
4.2 Der Roman als Dystopie
4.3 Das Menschenbild in Corpus Delicti
4.4 Agambens Homo sacer als philosophischer Hintergrund
4.5 Anknüpfungspunkte an die Gegenwart

5. Marc Elsbergs Zero. Sie wissen, was du tust (2014): Dystopie einer Überwachungsgesellschaft
5.1 Der gläserne Bürger und seine Lenkung durch Telekommunikationssysteme
5.1.1 Die allgegenwärtige Überwachung
5.1.2 Selbstoptimierung als Geschäftsmodell
5.2 Ein neuer ‚Großer Bruder‘
5.3 Widerstand gegen die ‚Datenkraken‘
5.4 Die Gegenwärtigkeit der Zukunft
5.5 Das Menschenbild in Zero. Sie wissen, was du tust
5.6 Gumbrechts „breite Gegenwart“ als möglicher Bezugsrahmen

6. Michel Houellebecqs Unterwerfung (2015): Dystopie einer kulturellen Anpassung
6.1 Das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft im Roman
6.2 Unterwerfung statt Widerstand
6.3 Familie und Sexualität - Biopolitische Aspekte
6.4 François und Des Esseintes als Figuren der Dekadenz
6.5 Aspekte des Dystopischen
6.6 Satire und Ironie als Abschwächung des Dystopischen

7. Vergleich der Dystopien
7.1 Die Nahzeit als Dystopie
7.2 Wertungsaspekte

8. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Anhang: Übersetzung von Kapitel 7 ins Französische

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit stellt drei aktuelle Romane vor, die unterschiedliche Zu- kunftsbefürchtungen literarisch gestalten. Sie wurden nicht ausgewählt, weil sie aufeinander Bezug nähmen oder eine konsequente Abfolge dystopischer Entwürfe böten. Sie belegen zwar die Produktivität der Gattung, die sich in der boomenden Jugendliteratur und ihren Verfilmungen bestätigt, aber gerade die Vielfalt ermög- licht alternative Akzentsetzungen. Die vorliegende Arbeit erklärt sich zunächst aus der Tatsache, dass sie im Rahmen des Masters Deutsch-Französische Studien ent- standen ist, so dass prominente Dystopien wie Dave Eggers Der Circle (2013) oder Vladimir Sorokins Telluria (2013) nicht zur Debatte standen. Die Romane von Juli Zeh, Marc Elsberg und Michel Houellebecq vertreten die Gegenwartsliteratur aber auch, weil sie große öffentliche Aufmerksamkeit erhalten haben, vielfach in den Feuilletons diskutiert wurden und hohe Verkaufszahlen erzielten. Houellebecqs Unterwerfung (2015) stand in Deutschland sogar auf Platz 1 der Bestsellerliste.1 Zudem erwies sich ihr Vergleich als produktiv, da sich trotz der unterschiedlichen Themen viele Parallelen ergaben.

Juli Zehs Corpus Delicti (2009), Marc Elsbergs Zero (2014) und Michel Houelle- becq Unterwerfung (2015) werden daraufhin analysiert, welches Bild der Zukunft sie entwerfen und welche Gegenwartsphänomene die Befürchtung negativer Ent- wicklungen motiviert haben. Der Vorbereitung der Analyse dienen die Abgrenzung des Begriffs ‚Dystopie‘ vom Gegenbegriff ‚Utopie‘2 sowie ein kurzer Rückblick auf die klassischen ‚schwarzen‘ Dystopien: Jewgenij Samjatins Wir (1920), Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932) und George Orwells 1984 (1949), auf welche sich die aktuellen Romane indirekt beziehen, indem sie Themen und Motive auf- greifen. Sie gestalten den Umschlag von Hoffnungen in Ängste, indem sie Entwick- lungen, die in der heutigen Gesellschaft angelegt sind, in extremen Konsequenzen ausmalen. Dabei spielen die Themen ‚Macht und Widerstand‘, das ‚Verhältnis In- dividuum, Familie und Staat‘ und das vermittelte ‚Menschenbild‘ eine wichtige Rolle.

Trotz der Probleme und Zukunftssorgen, die den westlichen kapitalistischen Demo- kratien gemeinsam sind, zeichnet Houellebecq ein anderes Bild der Zukunft. Rich- ten die deutschsprachigen Autoren ihre Kritik gegen die Macht des paternalisti- schen Staates (Zeh) oder die Macht der Kommunikationskonzerne (Elsberg), ima- giniert Houellebecq die Machtergreifung des Islam, ermöglicht durch die innere Leere eines konsumorientierten Individualismus, ein Thema, das in der aktuellen deutschsprachigen Literatur bisher nicht aufgegriffen wurde, obwohl in den Medien die Rede von der Islamisierung des Westens gang und gäbe ist. Leif Randts Roman Schimmernder Dunst über CobyCounty (2011) ähnelt zwar Houellebecqs darin, dass auch für ihn eine liberale Gesellschaft in Gefahr ist, das Bedürfnis nach Werten wie Gemeinschaft und Lebenssinn zu vernachlässigen, doch spielt in seiner Son- nenscheinidylle das Vordringen der Religion keine Rolle.

Die vorliegende Arbeit will zeigen, dass die ausgewählten Romane in ihrer Zu- kunftsprognose zugleich Gegenwartsdiagnose sind. Damit bestätigen sie ein Gat- tungsmerkmal, das auch für ihre Vorläufer gilt. Was diese Romane des 21. Jahr- hunderts aber von denen des 20. unterscheidet, ist die Sorge, dass im Fortschritt selbst Gefahren sichtbar werden, die positive Entwicklungen ins Negative verkeh- ren. Inzwischen muss das Individuum nicht nur vor dem Staat geschützt werden, sondern auch vor Konzernen und Marktinteressen und schließlich vor sich selbst, wenn es seine Freiheit einer vermeintlichen Sicherheit opfert. Die deutschsprachi- gen Romane sind ein Beispiel für Karl Poppers berühmte Aussage über den irrati- onalen Weltverbesserer : „Sogar mit der besten Absicht, den Himmel auf Erden einzurichten, vermag er [der Romantizismus] diese Welt nur in eine Hölle zu ver- wandeln - eine jener Höllen, die Menschen für ihre Mitmenschen bereiten.“3 Dies gilt sogar für das Ziel eines langen und gesunden Lebens in Zehs Dystopie oder die Steigerung der Potentiale des Menschen und seiner weltweiten Vernetzung bei Els- berg.

Die Relevanz der drei Romane bestätigt sich im Verlauf der Arbeit durch Bezüge zu prominenten theoretischen Entwürfen der Gegenwartsanalyse. Zehs Corpus De- licti erweist sich als subtile Variante des homo sacer-Konzepts von Giorgio Agam- ben, Elsbergs Dystopie lässt sich im Aspekt der Orientierungslosigkeit und Zu- kunftsschwäche an den Begriff der „breiten Gegenwart“ von Hans Ulrich Gum- brecht anschließen. Und Houellebecqs Gedankenspiel einer Machtübernahme durch einen islamischen Präsidenten hat einen demographischen Hintergrund, der mit Foucaults Begriff der „Biopolitik“ erläutert werden kann. Geht es den Theore- tikern um die gedankliche Erfassung der Gegenwart, den literarischen Autoren4 in derselben Absicht um den Blick in die Zukunft, bezeugen diese die Gegenwärtig- keit der Zukunft, jene die Zukünftigkeit der Gegenwart, und beide das Näherrücken des Kommenden.

2. Zu den Begriffen Utopie und Dystopie

2.1 Utopie - Zur Begriffsbestimmung

Utopie setzt sich aus den griechischen Wörtern ou „nicht“ und topos „Ort“ zusam- men und bedeutet „Nicht-Ort“ oder freier „Nirgendwo“. Gebildet hat das Kunstwort der Humanist Thomas Morus (1478-1535) im Titel seines 1516 erschienenen Wer- kes De optimo statu reipublicae, deque nova insula Utopia (Über die beste Staats- ordnung und die Insel Utopia).5 Morus verlegt seine Staatsutopie auf eine Insel, auf der soziale Gleichheit die oberste Norm einer auf Vernunft gründenden Moral ist. Privateigentum wurde abgeschafft, Reichtum und Luxus werden als verwerflich an- gesehen, Arbeitszeit und die hauptsächlich der Bildung gewidmete Freizeit sind streng reguliert. Laster und soziale Spannungen existieren in Morus‘ Gegenentwurf zur absolutistischen, von religiösen Konflikten geprägten englischen Gesellschafts- ordnung des 16. Jahrhunderts nicht.

Utopie bezeichnet also den „Entwurf eines idealen Gemeinwesens und Staates, in dem Unglück, Gebrechen und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten durch soziale, politische, ökonomische, kulturelle Reformen oder Revolutionen in das vollkom- mene Glück aller verwandelt sind.“6 Der als mangelhaft empfundenen Wirklichkeit wird ein idealer, aber bisher nicht existierender Zustand gegenübergestellt. In die- sem Sinne kann schon Platons dialogische Untersuchung Politeia (etwa 380-370 v. Chr.) als erste europäische Utopie gelten.7 Der ideale Staat wird im Unterschied zu Morus jedoch nicht als gegeben präsentiert, sondern in einem Dialog zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern entwickelt.

Ihre erste Hoch-Zeit erlebte die Utopie8 Anfang des 17. Jahrhunderts, in der im Rahmen fiktiver Berichte eine Reihe von Staatsromanen9 entstanden, darunter Tommaso Campanellas Sonnenstaat (1602) oder Francis Bacons Nova Atlantis (1627). In letzterem wurden erstmals Wissenschaft und Technik als Instrumente der gesellschaftlichen Perfektionierung thematisiert. Eine Vielzahl utopischer Schriften entstand zur Zeit der Aufklärung. Sie stellten Gesellschaften dar, in denen die Ideale der Französischen Revolution und ein sozialer Wohlstandsstaat realisiert sind, wo- mit sie auf den immer deutlicher werdenden Gegensatz zwischen Arm und Reich reagierten.10 So zum Beispiel in Louis Sébastien Merciers Roman L’An 2440, den er 1770 verfasst hat. In ihm berichtet der Ich-Erzähler von seinem Traum, wie er im Jahr 2440 erwacht und die Ideale der Aufklärung verwirklicht sieht: Die Staats- form Frankreichs spiegelt die Lehre von Montesquieu, es herrscht die konstitutio- nelle Monarchie und die Gewaltenteilung ist eingeführt.11

Merciers L’An 2440 stellt einen Wandel in der Geschichte der Utopie dar: Spielten die Utopien zuvor noch in der Gegenwart, aber an einem fremden Ort, gab Mercier die räumliche Entferntheit des utopischen Staates auf und verlegte seine Handlung nach Paris ins Jahr 2440, eine sogenannte Uchronie.12

796, hier S. 795. - Wegen seiner Idealisierung des Menschen und der Gesellschaft ist der Begriff früh auf Kritik gestoßen, so dass er oft negativ konnotiert wurde (vgl. Erzgräber, Willi: Utopie/ Antiutopie. In: Borchmeyer, Dieter (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. 2. neu bearb. Auflage. Tübingen 1994, S. 446-452, hier S. 446.

Über die Ursachen der Wendung zur Uchronie ist in der Forschung viel diskutiert worden. Die geläufigste Erklärung weist darauf hin, dass die Welt im 18. Jahrhun- dert vollständig erschlossen wurde und die Utopien ihrer Möglichkeit der fiktiven geographischen Verortung beraubt wurden. Es blieb also nur die „andere Dimen- sion, in die hinein wir leben und denken können, nämlich die Zeit.“13 Auch Reinhart Koselleck spricht von einer „Verzeitlichung der Utopie“ und davon, dass die utopi- schen Räume von der Erfahrung eingeholt wurden. Damit der Sprung in die Zukunft gelingt, braucht die Utopie allerdings Anschlussstellen in der „empirisch einlösba- ren Gegenwart.“14 Der belgische Historiker Raymond Trousson kennzeichnet Mer- ciers Roman sogar pointiert als „gereinigte Gegenwart“ („Le monde de l’an 2440 n’est pas le futur, mais le présent épuré.“15 ). Eine Gegenwart ohne ihre moralischen und physischen Übel ist bereits der Idealzustand.

Thomas Schölderle hingegen sieht den Hauptgrund des Wandels von der Raum- zur Zeitutopie in der zunehmenden Bedeutung des Fortschrittsgedankens: Vertrat man in Europa jahrhundertelang eine christlich-eschatologische Geschichtsauffas- sung, wurde dieses religiöse Weltbild nach und nach säkularisiert. Das Streben der Menschen konzentrierte sich fortan auf das Diesseits und den irdischen Versuch, sich in einem ständigen Prozess zu vervollkommnen.16 Dieser Optimismus findet im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt, viele Autoren waren aufgrund des naturwis- senschaftlichen und sozialen Fortschritts der Ansicht, dass die gesellschaftlichen Probleme durch Technisierung und sozialen Ausgleich gelöst werden können. Saint-Simon, ein Hauptvertreter des Frühsozialismus17, postulierte, das goldene Zeitalter der Menschheit liege nicht hinter, sondern vor ihr, und zwar durch eine Vervollkommnung der sozialen Ordnung.18

Christoph: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt a. M. 1997, S. 9).

Ein drittes Erklärungsmuster verweist auf den Wandel des statischen Weltbildes in ein dynamisches. Gegenüber einer sich ständig wandelnden Welt musste auch die Utopie ihre festen Konturen verlieren.19 Schließlich wurde sogar der Fortschritt in Frage gestellt. Besonders radikal tat dies Herbert George Wells schon 1895 in sei- nem Roman Time Machine, der das Bild einer dekadenten Menschheit und das Ende allen Lebens auf der Erde entwirft. Obwohl er 1905 in A Modern Utopia eine posi- tive Evolution skizziert, prägte der Pessimismus seines Frühwerks auch später sein Schreiben, so dass er als wichtiger Wegbereiter der Dystopie gilt.20

2.2 Dystopie - Zur Begriffsbestimmung

Die griechische Vorsilbe dis oder dys bedeutet miss-, un- oder schlecht, demzufolge handelt es sich bei einer Dystopie um einen ‚Un-Ort‘. Dystopien entwerfen also per definitionem keine Idealgesellschaft mehr. Der Begriff Dystopie findet sich erst- mals 1868 beim Briten John Stuart Mill, der in einem Zeitschriftenartikel von „dys- topians“ sprach. Dieser Neologismus wurde 90 Jahre später durch den Amerikaner J. Max Patrick aufgegriffen,21 der Begriff hat somit erst seit den 1950er Jahren Ver- wendung gefunden, ohne dass er bisher in gängigen Sachwörterbüchern der Litera- tur als eigenes Lemma Eingang gefunden hätte. Der Brockhaus Literatur führt nur den Begriff Anti-Utopie auf, gibt aber als Synonyme negative Utopie, Gegenutopie und schwarze Utopie an.22 Metzlers Lexikon der Literatur gibt unter dem Eintrag Utopischer Roman an, dass sich im 19. Jahrhundert eine „negative Form des uto- pischen Romans“ gebildet hat und verwendet Anti-Utopie, Dystopie oder Mätopie gleichbedeutend.23

Die Forschungsliteratur ist sich uneinig beim Gebrauch der verschiedenen Begriffe. Für den Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Seeber ist Anti-Utopie ein „mißlicher Begriff“, weil er „die Vorstellung einer pauschalen Negation utopischen Verände- rungsdenkens erweckt“, weshalb er lieber von negativer Utopie spricht.24 Susanna

Layh zieht ebenfalls den Begriff negative Utopie vor, setzt ihn aber mit Dystopie gleich. In Dystopien wird eine fiktive Gesellschaft gezeichnet, die „als düstere und damit erschreckende Extrapolation der zeitgenössischen außertextuellen Gegenwart erscheint.“25

Die vorliegende Arbeit folgt der Argumentation von Layh und verwendet den Be- griff Dystopie, da die in ihr vorgestellten Romane ihrer Definition entsprechen. Sie zeichnen kein Wunschbild wie die Utopien, sondern ein Warnbild, und zwar indem sie technische oder kulturelle Phänomene der Gegenwart in ihrer Gefährlichkeit in eine beklemmende Zukunft fortschreiben. Man könnte sie in Parallele zur Uchronie ‚Dyschronie‘ nennen, da sie die zeitliche Entfernung einer räumlichen vorziehen. Stephan Meyer hat vier Standardthemen der Dystopie unterschieden: die Gefähr- dung des Individuums durch das Kollektiv, die Verteidigung ethischer Werte, die durch den Fortschritt bedroht werden, die Befürchtung, dass ein konfliktfreies Le- ben zu geistiger, körperlicher und gefühlsmäßiger Degeneration führe und die An- sicht, dass wahres Glück und wahre Freiheit nur außerhalb einer reglementierten Ordnung zu finden seien.26 Diese Themen bestätigen sich auch in den klassischen ‚schwarzen‘27 Dystopien bei Samjatin (1884-1937), Huxley (1894-1963) und Or- well (1903-1950). Sie werden im Folgenden kurz vorgestellt, um vor ihrer Folie die spezifischen Merkmale der aktuellen Tendenzen herausstellen zu können bzw. in Anmerkungen Kontinuität in Motiven und Strukturen zu zeigen.

3. Die klassischen ‚schwarzen‘ Dystopien

3.1 Jewgenij Samjatins Wir (1920)

Samjatins Roman spielt in einem Einheitsstaat, dem „Einzigen Staat“, der aus ei- nem 200-jährigen Krieg hervorgegangen ist und an dessen Spitze ein als „Wohltä- ter“ bezeichneter Diktator steht. Alle Menschen tragen Nummern statt Namen, In- dividualität und Originalität wurden verdrängt. Vernunft und Wissenschaft regieren uneingeschränkt, so dass alles Menschliche verleugnet wird. Das System wird von einer omnipräsenten Geheimpolizei gestützt, alle Lebensbereiche sind streng regle- mentiert: Die Nummern wohnen in gläsernen „Kommunehauszellen“, alle gehen zur selben Zeit zur Arbeit und auch ins Bett, Abweichungen werden nicht geduldet. Auch die Sexualität wird vom Staat kontrolliert: Jeder Bürger hat ein Heftchen mit Billets, auf denen er jeweils seinen Wunschpartner angeben kann. Liebesbeziehun- gen und Familien gibt es nicht, Kinder werden in Kollektiven erzogen.28 Zugunsten eines reglementierten Glücks hat der Staat die private Freiheit unterdrückt.

Protagonist und Ich-Erzähler ist der Chefkonstrukteur D-503 des „Integral“, einer Art Raumschiff, mit dessen Hilfe der totalitäre Staat den Weltraum erobern will. In ihm sollen Traktate, Gedichte oder Manifeste deponiert werden, um den möglichen Bewohnern des Weltraums kulturelle Zeugnisse zu übermitteln. Daher schreibt D- 503 Tagebuch, in vierzig Einträgen hält er seine Geschichte fest, die Inhalt des Ro- mans ist. Er lernt die systemfeindliche I-330 kennen und beginnt eine unerlaubte Liebesbeziehung mit ihr. Sie gehört zur Widerstandgruppe „Mephis“, die hinter der „grünen Mauer“, die den Einheitsstaat begrenzt, einen Aufstand gegen den Wohl- täter plant. Sie überzeugt D-503 davon, sich ihr anzuschließen und die Arbeit am „Integral“ zu sabotieren, was allerdings misslingt. D-503 wird gefangengenommen und einer Gehirnoperation unterworfen, die seine Seele, die als Krankheit angese- hen wird, entfernen soll. Richard Saage bezeichnet den Roman als „erste gelungene literarische Illustration der Dialektik einer technokratisch-szientifisch verkürzten Vernunft“29 und erklärt die Tatsache, dass Samjatins Ruhm hinter dem von Huxley und Orwell zurücksteht, obwohl sie sich an seinem Roman orientierten, mit seinem Verbot in der Sowjetunion.30

3.2 Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932)

Zwölf Jahre nach Samjatins Wir schrieb Aldous Huxley die Dystopie Schöne neue Welt. Ähnlich wie bei Samjatin ein Wohltäter über den Einzigen Staat herrscht, regiert bei Huxley ein Weltaufsichtsrat den Weltstaat. Im Gegensatz zur russischen Dystopie ist das totalitäre System jedoch nicht gewalttätig, es sichert sich den Ge- horsam der Menschen auf andere Weise: Sie werden in sogenannten „Flaschen“ gezüchtet und nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der Gesellschaft in Intelli- genzstufen von Alpha bis Epsilon aufgezogen. Die genetisch manipulierten Men- schen werden ihrer Kaste entsprechend konditioniert. Aus Individuen werden ‚Se- rienprodukte‘, Familien gibt es nicht mehr, natürliche Elternschaft und Geburt wer- den sogar als etwas Anstößiges und Perverses angesehen. Gleichzeitig wird Sexu- alität nicht unterdrückt, sondern in staatlich unterstützter Promiskuität ausgelebt. Die Konditionierung schaltet individuelle Gefühle und Gedanken aus, zugleich wird durch die Droge „Soma“, die alle regelmäßig einnehmen, ein konstantes Glücksgefühl erzeugt, um negative Stimmungen wie Missmut, Überdruss oder Är- ger zu unterbinden.31

Die Handlung spielt um das Jahr 632 A.F. (Anno Ford), was nach traditioneller Zeitrechnung dem Jahr 2540 entspricht.32 Die Vergangenheit wird geleugnet, alles, was vor dem Geburtsjahr des Staates existierte, (v.a. Kunst und Literatur) wurde zerstört oder zumindest verboten. Einzig das „Wildenreservat“ wird als Relikt der alten Kultur und Geschichte geduldet. Die Menschen dort leben noch in einer tra- ditionellen Stammeskultur und reproduzieren sich auf natürlichem Wege. Sigmund Marx33, der Protagonist des Romans, bringt den „Wilden“ Michel aus diesem Re- servat zu Forschungszwecken in die zivilisierte Welt, die jedoch in ihrer Sterilität und Gefühllosigkeit abstoßend auf den Außenseiter wirkt. Er fordert „das Recht auf Unglück“ und versucht, die Deltas zu einer Revolte anzustiften, was jedoch schei- tert. Er wird festgenommen und vom Weltaufsichtsrat Mustafa Mannesmann in die Verbannung geschickt.

Wie bei Samjatin sind die Menschen bei Huxley ‚verdinglicht‘34, sie sind zu Ob- jekten einer Glücksplanung geworden, die zur Selbstentfremdung des Menschen führt. Ließ Samjatin den Leser durch den Verweis auf die noch immer hohe Zahl der Widerstandskämpfer am Schluss mit der Hoffnung zurück, dass der Freiheits- drang der Menschen nicht auszumerzen ist, ist das Ende bei Huxley pessimistischer, da es keine Widerstandsbewegung mehr gibt.

3.3 George Orwells 1984 (1949)

Orwell entwirft eine Welt nach dem dritten Weltkrieg, die in die drei Supermächte Ozeanien, Eurasien und Ostasien aufgeteilt ist. Sie befinden sich untereinander in einem permanenten Kriegszustand, um ihre Gewaltherrschaft im innenpolitischen Bereich zu rechtfertigen. So ist der Feind Ozeaniens abwechselnd Eurasien oder Ostasien, die politische Geschichte wird jeweils nach dem Stand der aktuellen Ver- hältnisse umgeschrieben. Denn: „Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit“ (S. 298)35. Totalüberwachung, Manipulation und Folter prägen das gesellschaftliche Leben.

Im Fokus steht der Staat Ozeanien mit London als Zentrum, wo der Protagonist Winston Smith lebt. Es herrscht eine übermächtige Staatspartei, die durch den „Großen Bruder“ repräsentiert wird, der nie persönlich erscheint, sondern dessen Konterfei auf riesigen Plakaten mit der Aufschrift „Der Große Bruder sieht dich“ abgebildet ist. Das einzige Ziel der Partei ist es, an der Macht zu bleiben. Sie strebt keine Verbesserung der Lebensumstände der Menschen an, die alle gleich wenig besitzen und unter miserablen Bedingungen leben. Um ihren Gehorsam zu garan- tieren, sind alle Wohnungen und öffentlichen Gebäude mit einem „Televisor“ aus- gestattet, einem Gerät, das zugleich Kamera und Funksprechgerät ist, und das die Menschen rund um die Uhr überwacht und ihnen Befehle erteilt. Anders als bei Samjatin oder Huxley ist die Familie nicht abgeschafft, allerdings werden die Kin- der schon früh zur Bespitzelung ihrer eigenen Eltern erzogen. Sexualität ist nur in- nerhalb der Ehe gestattet und dient allein der Zeugung von Nachkommen. Da die Menschen nicht wie bei Huxley biologisch genormt und gedanklich geformt sind, versucht die Partei bei Orwell, Widerstand unmöglich zu machen, indem sie eine neue Sprache, „Neusprech“, einführt, die systematisch alle Wörter verbannt, die subversiven Gedanken dienen. Gleichzeitig propagiert sie Wahlsprüche („Krieg be- deutet Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“, S. 23), die eine Umwertung der Werte suggerieren und in ihrer Willkür den Machtanspruch dokumentieren.

Der Protagonist Winston arbeitet im Wahrheitsministerium und kann sich immer weniger mit der brutalen Herrschaft und allumfassenden Kontrolle des Systems identifizieren. Er lernt Julia kennen und beginnt mit ihr eine Liebesbeziehung, die er als „anarchischen Akt, als Revolte gegenüber dem Parteiapparat“36 empfindet. Ihr Glück währt jedoch nicht lange, sie werden von O’Brien, einem hohen Funkti- onär der Gedankenpolizei, überführt und im „Liebesministerium“ so lange gefol- tert, bis sie einander verraten. Ihre Liebe kann der Brutalität des Systems nicht standhalten, die Gehirnwäsche geht sogar so weit, dass Winston am Ende des Ro- mans bekennt, den Großen Bruder zu lieben.

Die drei ‚schwarzen‘ Dystopien weisen starke Parallelen auf: Alle schildern perfek- tionierte, rationalistische Gesellschaften innerhalb totalitärer Systeme. Humanität gibt es nicht mehr, systematisch werden individuelle Bindungen unterdrückt. Die Ideale von Rationalität und Ordnung sind zum Alptraum geworden, die Aussage Karl Poppers, dass „unter dem Deckmantel von Rationalität und Herrschaftsfrei- heit“ eine „wohlmeinende Utopie zum Totalitarismus“37 führe, wird von allen drei Dystopien bestätigt. Sie prägt die Antithetik von verordnetem Glück und individu- eller Freiheit und fragt, was vom Menschsein noch bleibt, wenn er um jegliche Selbsterfahrung gebracht wird. Es ist kein Zufall, dass die klassischen Dystopien die Liebe als oppositionelle Kraft sehen und in ihrer Werteskala über die staatlichen Normen stellen.

Auch die neuen, in dieser Arbeit behandelten, Dystopien setzen sich mit diesen Themen auseinander, wobei sie neue historische Erfahrungen mit technischen und kulturellen Entwicklungen berücksichtigen.

4. Juli Zehs Corpus Delicti - Ein Prozess (2009): Dystopie einer Gesundheitsdiktatur

4.1 Das Leben in der Gesundheitsdiktatur

4.1.1 Allgegenwart der Gesundheitskontrolle

Juli Zehs Corpus Delicti beginnt mit der Schilderung einer postindustriellen Idylle: Die Städte werden von waldigen Hügeln umgeben, aus Kies- und Kohlegruben sind schilfbewachsene Seen geworden und die Wolken sind nicht mehr grau „vom schlechten Atem einer Zivilisation“ (S. 11). Das ökologische Bewusstsein hat ge- siegt, wie die Wiederholung des Adjektivs „stillgelegt“ bestätigt: Nicht nur die Kies- und Kohlegruben sind stillgelegt, sondern auch Fabriken, die zu Kulturzen- tren wurden, und Autobahnen, die durch Magnetbahn-Trassen ersetzt worden sind. Allgemein heißt es: „Hier stinkt nichts mehr. Hier […] hat eine zur Ruhe gekom- mene Menschheit aufgehört, die Natur und damit sich selbst zu bekämpfen.“ (ebd.). Die Versöhnung zwischen Mensch und Natur bezeugen Millionen von Solarzellen, die die Häuser mit umweltfreundlicher Energie versorgen.

In einem dieser Idylle zugehörigen namenlosen Staat spielt der Roman in der Mitte des 21. Jahrhunderts (S. 12).38 Krankheiten gibt es nicht mehr, dafür sorgen in jedem Haus Desinfektionsmaschinen und „Bakteriometer“ (S. 21), selbst der Müll und die Abwässer werden kontrolliert, um eventuelle Symptome zu melden. Der Staat, der sich durch das Prinzip ‚Gesundheit‘ legitimiert, ist durch ein Sperrgebiet gegenüber einer fremden und feindlichen Außenwelt abgeschirmt, dem „unhygienischen Wald“ (S. 90), seine Lage bleibt unbestimmt.39

Im Wald ist die Natur sich überlassen, die scheinbar idyllische Harmonie zwischen Mensch und Natur ist in Wirklichkeit die Vervollkommnung der Herrschaft des Menschen über die Natur, eine Herrschaft im Namen und unter dem Vorwand der Gesundheitsförderung. Sie gelingt nur durch die staatliche Rundumkontrolle der Bürger und durch die damit verbundene Unterdrückung der menschlichen Natur. Der Staat der Zukunft, der nur die „Methode“40 genannt wird, um seinen wissen- schaftlichen Charakter zu signalisieren, zwingt die Bürger zu gesundheitlicher Prä- vention, selbst das Kauen an Fingernägeln ist wegen der septischen Gefahr verboten und das Rauchen einer Zigarette wird mit Gefängnis bestraft (vgl. S. 112). Das oberste Gut der Menschen ist die Gesundheit geworden, über die nicht mehr sie selbst wachen, sondern die „Methode“. Alle gesundheitlichen Daten müssen ihr übermittelt werden, vom Blutdruck über den Schlaf- und Ernährungsbericht bis hin zu Urinwerten. Die Daten werden auf einem Chip gespeichert, der im Oberarm der Menschen implantiert ist. Neben einer gesunden Ernährung müssen die Bürger da- rauf achten, ein gewisses Pensum an Sportstunden zu absolvieren, um sich körper- lich fitzuhalten. Jede Wohnung verfügt über einen Hometrainer, der die geleisteten Kilometer speichert und an die Gesundheitsbehörde weiterleitet.

Die Bürger leben in Hausgemeinschaften zusammen, die vom Staat auf Hygiene kontrolliert werden. In speziellen Einheiten, den sogenannten „Wächterhäusern, übernehmen die Bewohner die „hygienische Prophylaxe“ in Selbstverwaltung, was mit Rabatten auf Strom und Wasser belohnt wird (S. 22). Der Staat spart dadurch Geld bei der Gesundheitsvorsorge, alles ist Teil eines gesundheitlich-ökonomi- schen Kreislaufes. Die „Methode“ unterdrückt ihre Untertanen aus materiellen Interessen: Sie ist an gesunden Bürgern interessiert, damit diese wirtschaftliche Leistungen erbringen können und als Profitfaktoren fungieren.

Sie legitimiert sich durch ihren Anspruch, dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb zu folgen und mit ihrer Gesundheitspolitik die Interessen der Menschen zu verwirk- lichen. Es wird als natürlich angesehen, gesund leben zu wollen und nach Gesund- heit zu streben, Selbstschädigungen werden nicht geduldet. Unter dem Vorwand, nur das Beste für die Menschen zu beabsichtigen und „jedem Einzelnen ein mög- lichst langes, störungsfreies, […] gesundes und glückliches Leben zu garantieren. Frei von Schmerz und Leid.“ (S. 36), zwingt der Staat ihnen ein System auf, das die individuelle Freiheit weitgehend aufhebt.

Die Folgen dieser Herrschaftsmethode wird an den Geschwistern Mia und Moritz Holl deutlich gemacht. Die Protagonistin Mia Holl wird vor Gericht geladen, weil sie ihrer gesundheitlichen Meldepflicht nicht mehr nachkommt. Sie trauert um ih- ren toten Bruder Moritz, der sich im Gefängnis das Leben genommen hat. Er war wegen der Vergewaltigung an einer Frau und ihrer Ermordung zu einer lebenslan- gen Haft verurteilt worden, hatte aber - trotz eindeutigem DNA-Beweis - bis zu- letzt seine Unschuld beteuert, was viel Aufsehen erregte. Als Mia wegen weiterer Verfehlungen angeklagt wird (sie raucht eine Zigarette und steckt aus Versehen ihre Wohnung in Brand), übernimmt der Anwalt Rosentreter ihre Verteidigung. Er kann aufdecken, dass Moritz zu Unrecht verurteilt worden ist: Durch eine in der Kindheit durchgeführte Knochenmarkspende - Moritz litt an Leukämie, eine Krankheit, die nun vom Staat ausgerottet wurde - stimmt Moritz‘ ‚genetischer Fingerabdruck‘ mit dem seines Spenders überein, dieser ist der wirkliche Mörder. Mia lehnt sich gegen die „Methode“ auf und verfasst eine Proklamation, in der sie ihre Verachtung kund- tut. Der Methodenschutz verhaftet sie daraufhin als ‚Volksverhetzerin‘ und be- schuldigt sie der Zusammenarbeit mit der oppositionellen Gruppierung „Recht auf Krankheit“. Da Mia - auch nicht unter Folter - zu einem Geständnis bereit ist, wird sie zum Tode verurteilt, doch in letzter Sekunde begnadigt. Der Staat möchte keine Märtyrerin aus ihr machen, sie soll sich einem Resozialisationsprogramm unterzie- hen (vgl. S. 263).41

4.1.2 Machtausübung im totalitären Staat

Die Macht wird von der „Methode“ und ihren Institutionen ausgeübt. Wie genau diese aufgebaut sind, wird nicht näher beschrieben. Von Exekutive oder Legislative ist keine Rede, dafür von einem Spitzelsystem, wie es in totalitären Staaten üblich ist: Zum einen führt das Leben in den Hausgemeinschaften dazu, dass die Menschen sich gegenseitig überwachen, zum anderen gibt es den sogenannten „Methoden- schutz“, eine Art Geheimdienst, der wie die Polizei Gegner des Systems ausfindig macht und bekämpft.

Allerdings bleibt Juli Zeh in vielen formalen Elementen dem aus demokratischen Verfahren vertrauten juristischen Vorgehen eines Rechtsstaates treu. Um keine Spannung auf den Ausgang des die Romanhandlung prägenden Prozesses gegen die Protagonistin Mia Holl aufkommen zu lassen, setzt sie das gegen Mia ergehende

Urteil bereits an den Anfang des Romans, das Geschehen wird bis auf den Schluss in der Retrospektive geschildert. Mit der klassischen Rollenverteilung von Richter, Staatsanwalt und Verteidiger soll der Anschein eines Rechtsstaats aufrechterhalten bleiben. An Mia Holl wird jedoch gezeigt, in welcher Weise er ausgehöhlt wurde. Ihre Gerichtsverhandlung gleicht einem Schauprozess: Sie verfolgt ihn aus einem Käfig heraus, ihr Verteidiger Rosentreter legt das Mandat nieder, um nicht ebenfalls zum „Methodenfeind“ (S. 253) zu werden, und ihr Urteil wird so schnell verlesen, dass der Verdacht naheliegt, es wurde schon vor der Verhandlung geschrieben (vgl. S. 258). Mia spricht nicht zufällig von einem „Hexenprozess“ (S. 243), auch in diesen bestand keine Chance auf ein faires Verfahren.42

Da es keine unabhängige Justiz gibt, verwundert es nicht, dass die Medien gleich- geschaltet wurden. Sie kritisieren oder hinterfragen nicht die Maßnahmen des Staa- tes, sondern unterstützen ihn mit ihrer Berichterstattung. Der Chefredakteur Hein- rich Kramer der Regierungszeitung „Der gesunde Menschenverstand“ fungiert als das Sprachrohr der „Methode“ und möchte keinen Zweifel an ihr aufkommen las- sen. Kramer hatte schon Mias Bruder mit seiner einseitigen Berichterstattung vor- verurteilt und die Justiz maßgeblich beeinflusst (vgl. S. 31). Da auch Mia negativ aufgefallen ist, befürchtet Kramer, dass der Fall Moritz Holl eine neue Bedeutung erlangen und zu Zweifeln am System führen könnte. In der politischen Talkshow, die ironischerweise „Was alle denken“ heißt, warnt er daher vor dem „Anti-Metho- dismus“ und sagt allen Gegnern den Kampf an. Daher will er Mias Verurteilung erreichen und bringt Zeugen zu Falschaussagen und manipuliert Beweismittel (vgl. S. 217-224).

Der moderne totalitäre Staat braucht für seine Existenz abhängige Medien so sehr, dass Juli Zeh einen Journalisten zum offiziellen Vertreter seiner Machtansprüche aufwertet und keine Funktionäre als Protagonisten auftreten lässt.

4.1.3 Widerstand gegen die „Methode“

Im Roman kämpft die Gruppierung „Recht auf Krankheit (R.A.K.)“43 gegen die Gesundheitsdiktatur der „Methode“ an, allerdings ist von ihr selten die Rede. Mo- ritz wird eine Zugehörigkeit zur „R.A.K.“ nachgesagt, doch hat er sich ihr nie an- geschlossen. Ihm genügt es, eine Art passiven Widerstand zu leisten, indem er Zi- garetten raucht und oft den unhygienischen Wald aufsucht.44 Obwohl Moritz die These, dass es den Menschen auszeichnet, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, da er als einziges Lebewesen Todesbewusstsein hat, in Gesprächen mit Mia vertritt, darf nicht übersehen werden, dass er sich im Gefängnis erhängt, weil er eines Ver- brechens angeklagt ist, das er nicht begangen hat, und ihm die ‚Todesstrafe‘ (Ein- frierung) droht. Es ist also fraglich, ob er damit einen Akt des Widerstands gegen die „Methode“ vollzieht. Tatsächlich aber stellt sein Freitod in doppelter Hinsicht die Grundlagen des Systems in Frage: Erstens bedeutet das Beharren auf seiner Un- schuld den Zweifel an der Unfehlbarkeit der herrschenden „Methode“; und zwei- tens widerlegt er die offizielle Ideologie, dass der Mensch grundsätzlich von seinem Überlebensdrang geleitet wird.45 Diese Aspekte werden im Roman nicht als be- wusste Motive für Moritz‘ Entscheidung dargestellt, sie sind aber wichtige Bau- steine für Mias Angriffe auf die totalitäre Gesundheitsideologie. Der Nachweis, dass Moritz die DNA seines Knochenmarkspenders trägt und daher zu Unrecht an- geklagt und verurteilt wurde, ist jedoch in der Romanhandlung der Auslöser für die entscheidende Veränderung in Mias Verhalten. Sie entscheidet sich für den politi- schen Kampf gegen die „Methode“, indem sie Kramer eine Proklamation diktiert. In ihr entzieht sie allem das Vertrauen: der Gesellschaft, der Moral, dem Recht, der „Methode“, der Politik, der Wissenschaft und der Sicherheit. Ihr Text wird in der Zeitung „Der Gesunde Menschenverstand“ publiziert und führt zu ihrer Verhaf- tung, die wiederum Demonstrationen für ihre Freilassung zur Folge hat (vgl. S. 196).

Außer Mia gibt es nur eine zweite Person, die aktiv Widerstand gegen die „Me- thode“ leistet, und zwar Rechtsanwalt Rosentreter, der sich am System rächen will, weil es ihm nicht erlaubt, die Frau, die er liebt, zu heiraten.46 Deshalb betreibt er während des zweiten Prozesses gegen Mia die Blamage der „Methode“, indem er Moritz‘ Verurteilung als Justizirrtum aufdeckt. Sein Widerstand geht also chrono- logisch dem von Mia voraus, ist aber genauso wirkungslos wie ihrer. Die „Me- thode“ siegt nicht wegen ihrer angeblichen Rationalität, sondern durch ihre dikta- torischen Machtmittel, durch die sie festlegen kann, was rational ist.

4.2 Der Roman als Dystopie

Wie es der Gattung der Dystopie entspricht, entwirft Juli Zeh in ihrem Roman ein Warnbild der Zukunft, in welcher der Staat ein System der vollständigen Kontrolle entwickelt hat, das dem Ziel der Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung dient. Diesem Staat des 21. Jahrhunderts ging im 20. Jahrhundert ein soziales Chaos voraus, dem im Roman nur eine kurze, als Kontrast gedachte Passage gilt. Die Frage, wie der Autor den Übergang von der Gegenwart der Leserschaft in die alptraumhafte Zukunft gestaltet, findet bei Zeh folgende Antwort:

Nach den großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts hatte ein Aufklärungsschub zur weitgehenden Entideologisierung der Gesellschaft geführt. Begriffe wie Nation, Religion, Familie verloren rapide an Bedeutung. Eine große Epoche der Abschaffung begann. Zur Überraschung aller Beteiligten fühlten sich die Menschen zur Jahrtausendwende jedoch nicht auf einer höheren Zivilisationsstufe, sondern vereinzelt und orientierungslos, sprich: nah am Naturzustand. Man redete ununterbrochen vom Werteverfall. Man hatte jede Selbstsicherheit verloren und fing an, einander wieder zu fürchten. Angst regierte das Le- ben der Einzelnen, Angst regierte die große Politik. Es war übersehen worden, dass auf jede Abschaffung eine Neuschaffung folgen muss. Was waren die konkreten Folgen? Geburten- rückgang, die Zunahme stressbedingter Krankheiten, Amokläufe, Terrorismus. Dazu eine Überbetonung von privaten Egoismen, das Schwinden von Loyalität und schließlich der Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme. Chaos. Krankheit. Verunsicherung.“ (S. 88-89)

Der Überblick stammt aus dem Mund von Heinrich Kramer, der seinen Überzeu- gungen und seiner Funktion gemäß die „Methode“ als politisches System der Ver- nunft und des Fortschritts rechtfertigt. Sie hat die Werte der Vergangenheit entide- ologisiert und abgeschafft und ihnen das Vernünftige der Gesundheit aller entge- gengesetzt. Allerdings ist der Preis für die wohlmeinende und wohltätige Herrschaft der „Methode“ hoch: Juli Zeh entwirft einen Staat, der sich auf die Aufklärung be- ruft47, aber keine Aufklärung über seine Mechanismen duldet und daher auch keine anders gearteten Ideale. Sein Hauptmerkmal ist die totale Kontrolle seiner Bürger. Die Perfidie des Systems wird vor allem daran deutlich, dass Krankheit so weit gefasst wird, dass abweichendes Verhalten und sogar abweichende Gedanken als krank gelten und dementsprechende staatliche Maßnahmen nach sich ziehen. Der gesunde Mensch ist der sozial integrierte, der angepasste Mensch. Symptomatisch für das Selbstverständnis der „Methode“ ist die Gleichsetzung von Gesundheit und gesundem Menschenverstand. Wiederum legt Zeh die wesentlichen Grundsätze Kramer in den Mund. In seiner Fernsehansprache innerhalb der Talkshow „Was alle denken“, gesendet nach dem Bekanntwerden der Fehlbarkeit der Justiz, heißt es programmatisch: Krankheit müsse „als das Ergebnis von fehlender Überzeugung und fehlender Kontrolle betrachtet werden“. Kramer verkündet, „die gefährlichsten Viren“ bestünden „aus infektiösen Gedanken.“ (S. 200), und fordert indirekt Mias Vernichtung. Seine Formulierung, niemand könne sich „den Selbstheilungskräften eines starken Körpers entziehen“ (S. 201), verrät, dass die „Methode“ sich als Or- ganismus48 versteht und die Bürger, die in Gedanken und Verhalten abweichen, mit derselben Berechtigung ausgemerzt werden, mit der sich ein Körper gegen Viren wendet. Mit dieser zentralen Metaphorik, die an die nationalsozialistische Polemik gegen die Juden als Parasiten erinnert, entlarvt Kramer ungewollt die wohlwollende Diktatur der Methode als faschismusähnlichen Staat.

Damit konstruiert Juli Zeh eine paradoxe Pointe: Gelten totalitäre Staaten oft als Gebilde, die Ausdruck von Irrationalität sind, wird in Corpus Delicti ein scheinbar rationaler Staat mit guten Absichten gezeigt, der ebenfalls inhumane Züge trägt, auch wenn er nicht mit den historisch bekannten Beispielen diktatorischen Terrors gleichgesetzt werden kann. Sein Herrschafts- und Machtbedürfnis richtet sich ge- gen die Natur als Feind, wie ihre Ausgrenzung hinter Sperrgebiete bestätigt (dies ist kein Widerspruch zu den Hinweisen auf den ausgeprägten Umweltschutz, da dieser dem menschlichen Überlebensdrang gehorcht und Natur nicht als Selbst- zweck sieht, sondern nur als Grundlage für die Erfüllung der menschlichen Bedürf- nisse).

[...]


1 Hammelehle, Sebastian/ Keller, Maren: „Platz eins der Bestsellerliste: Dieser gemeingefährliche Humor“ (22.01.2015), in: Spiegel Online, unter: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/michel-hou- ellebecqs-unterwerfung-platz-1-der-spiegel-bestsellerliste-a-1014450.html (aufgerufen am 15.03.2016).

2 Die anderen Begriffe des Titels der Arbeit werden in ihrem umgangssprachlichen, intuitiv verständlichen Sinn benutzt, da Fachwörterbücher in erster Linie herausstellen, dass ‚Gegenwart‘ und ‚Zukunft‘ im 18. Jahrhundert ihren theologischen Hintergrund verloren haben. Vgl. Henning, J.: Gegenwart. In: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3 G-H. Basel 1974, S. 136-138. Und Link, Ch.: Zukunft; Vergangenheit. In: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12 W-Z. Basel 2004, S. 1426-1436.

3 Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons. Bd. 1. 6. Auflage München 1980, S. 227.

4 Aus Gründen der Lesbarkeit wird in der Arbeit bei Aussagen, die zwei Autoren und eine Autorin betreffen, die männliche Form bevorzugt.

5 Zur sprachlichen Konstruktion des Neologismus vgl. Schölderle, Thomas: Geschichte der Utopie. Eine Einführung. Wien [u.a.] 2012, S. 10-11.

6 Innerhofer, Roland: Utopischer Roman. In: Burdorf, Dieter [u.a.] (Hgg.): Metzler Lexikon Lite- ratur. Begriffe und Definitionen. 3., völlig neu bearb. Auflage. Stuttgart/ Weimar 2007, S. 795-

7 Für Karl Mannheim lieferte Plato „das allgemeine Modell […], von dem alle späteren Utopien nachhaltig beeinflußt wurden.“ (Mannheim, Karl: Utopie. In: Neusüss, Arnhelm (Hrsg.): Utopie - Begriff und Phänomen des Utopischen. Neuwied/ Berlin 1972, S. 113-119, hier S.113.) Mannheims Artikel stammt aus dem Jahr 1929.

8 Der Gattungsbegriff Utopie ist Ende des 18. Jahrhunderts zu belegen, und zwar erschien er erstmals 1798 im Dictionnaire de l’Académie française (5. Auflage) (vgl. Einleitung von Berghahn, Klaus/ Seeber, Hans Ulrich (Hrsg.): Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart. 2. Auflage. Königstein 1986, S. 14-15). Dort auch der Hinweis auf die verschiedenen Bedeutungen: Zum einen bezeichnet Utopie eine literarische Gattung, zum anderen einen „wirklichkeitsübersteigenden Entwurf“ oder eine nicht zu verwirklichende Idee (vgl. ebd., S. 10).

9 Den Begriff Staatsroman hat Robert von Mohr im Jahr 1845 geprägt (vgl. Schölderle 2012, a.a.O, S. 12).

10 Vgl. Regenbogen, Arnim: Utopie. In: Ders./Meyer, Uwe (Hgg.): Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. Hamburg 2013, S. 695.

11 Vgl. Gnüg, Hiltrud: Der utopische Roman. München [u.a.] 1983, S. 105 und 108.

12 Der Neologismus Uchronie ist analog zu Utopie gebildet und meint damit wörtlich eine Nicht- Zeit. Geprägt hat den Begriff Charles Renouvier in einem 1857 publizierten Aufsatz (vgl. Rodiek, 4

13 Freyer, Hans: Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart. Leipzig 1936, S. 9. - Schon zuvor waren die Autoren des Nirgendwo auf den Mond und die Sterne ausgewichen: zum Beispiel Cyrano de Bergeracs L’autre Monde ou les Etats et Empires de la Lune (1657 posthum erschienen) oder Voltaires Micromégas (1752).

14 Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer. 6. Auflage. Frankfurt a. M. 2003, S. 136.

15 Trousson, Raymond: Utopie, Geschichte, Fortschritt: Das Jahr 2440. In: Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Stuttgart 1985, S. 15-23, hier S. 16.

16 Vgl. Schölderle 2012, a.a.O., S. 105.

17 Vgl. Dierse, Ulrich: Utopie. In: Ritter, Joachim [u.a.] (Hgg.): Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11 U-V. Darmstadt 2001, S. 510-526, hier S. 515.

18 Vgl. Schölderle 2012, a.a.O., S. 115.

19 Vgl. Schwonke, Martin: Vom Staatsroman zur Science Fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlichen Utopie. Stuttgart 1957, S. 99-100.

20 Vgl. Erzgräber in Borchmeyer 1994, a.a.O., S. 449-450.

21 Vgl. Meyer, Stephan: Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung. Frankfurt a. M. [u.a.] 2001, S. 25.

22 [Art.] Utopische Literatur. In: Der Brockhaus Literatur. Schriftsteller, Werke, Epochen, Sachbegriffe. 2., völlig neu bearb. Auflage. Leipzig/ Mannheim 2004, S. 875-877, hier S. 876.

23 Innerhofer in Metzler 2007, a.a.O, S. 796.

24 Vgl. Seeber, Hans Ulrich: Bemerkungen zum Begriff „Gegenutopie“. In: Berghahn, Klaus/ ders. (Hgg.): Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart. 2. Auflage. Königstein 1986, S. 163- 171, hier S. 164.

25 Layh, Susanna: Finstere neue Welten. Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie. Würzburg 2014, S. 15.

26 Vgl. Meyer 2001, S. 36. - Zur Rolle der Themen in den aktuellen Romanen siehe S. 61-62.

27 Oft werden die Romane von Samjatin, Huxley und Orwell als ‚schwarze‘ Dystopien bezeichnet. Vgl. u.a. Innerhofer in Metzler 2007, a.a.O., S. 797; oder Esselborn, Hans (Hrsg.): Utopie, Antiuotpie und Science Fiction im Roman des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2003, S. 8.

28 Schon Platon schaffte in seinem Staat die Familie ab und propagierte wechselnde Sexualverhältnisse ohne emotionale Bindung, damit der Bürger nicht seine persönlichen Interessen über die des Staates stellt. Siehe Platon: Der Staat. Deutsch von August Horneffer. Eingeleitet von Kurt Hildebrandt. Stuttgart 1973, S. 161-163.

29 Saage, Richard: Die konstruktive Kraft des Nullpunkts. Samjatins Wir und die Zukunft der politischen Utopie. In: ders.: Utopische Profile. Band 4. Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts. Münster [u. a.] 2004, S. 13-23, hier S. 14.

30 Vgl. ebd., S. 14-15.

31 Keith Booker sieht in Schöne neue Welt eine Antizipation der 1960er Jahre und zugleich eine Warnung vor ihren Folgen: „Brave New World anticipates the […] counterculture’ of the 1960s, warning that this emphasis might lead not to liberation, but to enslavement.“ (Booker, Keith M.: Dystopian Literature. A Theory and Research Guide. London 1994, S. 175).

32 Die Zeitzählung der neuen Welt beginnt 1908, das Jahr, in dem das erste Automodell von Henry Ford produziert wurde.

33 Die Namen weichen von der Originalfassung ab: Im Englischen heißt Sigmund Marx „Bernard Marx“ und der Wilde Michel „John“. Auch die Hauptstadt wurde in der Übersetzung von London nach Berlin verlegt.

34 Vgl. Gnüg 1983, S. 163.

35 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Orwell, George: 1984. Übersetzt von Michael Walter. 23. Auflage. München 2002.

36 Gnüg 1983, S. 169.

37 Popper 1980, a.a.O., S. 268.

38 Juli Zeh hat Corpus Delicti ursprünglich als Theaterstück für die Ruhrtriennale geschrieben, es wurde 2007 uraufgeführt. In der zweiten Szene des Stücks ergibt sich aus dem Urteil das genaue Datum, an dem die Handlung spielt, und zwar im April 2057. Vgl. Giesler, Birte: „Das Mittelalter ist keine Epoche. ‚Mittelalter‘ ist der Name der menschlichen Natur.“ Zeitgenössisches Drama als rückwärts gekehrte Dystopie in Juli Zehs Corpus Delicti. In: Braungart, Wolfgang/ Laak, Lothar van (Hgg.): Gegenwart - Literatur - Geschichte. Zur Literatur nach 1945. Heidelberg 2013, S. 265-293, hier S. 277-278.

39 In ihrem Theaterstück entwirft Zeh eindeutig ein Bild vom zukünftigen Deutschland, das Urteil verkündet das Schwurgericht Essen (vgl. ebd., S. 277). Im Roman kann man indirekt auf Deutschland als Ort der Handlung schließen, da als Druckorte des Buchs vom Journalisten Kramer Berlin, München und Stuttgart genannt werden (vgl. S. 87).

40 Dies ist eine Anspielung auf René Descartes’ Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences (1637), einem Hauptwerk des Rationalismus. Zehs Staat setzt sich also mit der menschlichen Vernunft gleich.

41 Ihr Schicksal ähnelt dem von Winston Smith bei George Orwell: Auch seinem Todeswunsch wird nicht nachgegeben, sondern er wird wieder ins System integriert (vgl. Orwell 2002, a.a.O., S. 345 ff.).

42 Auch die Namen der Figuren wurden nicht zufällig gewählt: Der historische Heinrich Kramer war Inquisitor und der Verfasser des Hexenhammers (lat. Malleus Maleficarium) (1486), in dem er die Hexenverfolgung zu legitimieren suchte. Maria Holl war eine Gastwirtin in Nördlingen und wurde der Hexerei angeklagt. Sie ging als „Die standhafte Maria Holl“ in die Geschichte ein, da sie zahlreiche Folterungen überlebte und 1594 freigesprochen wurde. Vgl. Giesler in Braungart/ van Laak 2013, a.a.O., S. 288-289.

43 Zeh übernimmt hier ein Motiv aus Huxleys Schöne neue Welt: Wie der Außenseiter John ein „Recht auf Unglück“ fordert (S. 236), wollen die Anhänger der „R.A.K.“ nicht in einer leidfreien Gesellschaft leben.

44 Der unhygienische Wald, der das Gesundheitsstaatsgebiet umgrenzt, mag an Samjatins „Grüne Mauer“ erinnern. Siehe Samjatin, Jewgenij: Wir. Aus dem Russischen von Gisela Drohla. Köln/Berlin 1968, S. 13. Beide dienen als Orte des Widerstandes bzw. entziehen sich der Kontrolle des Staates. Er ist die räumliche Grenze zwischen Non-Konformismus und Anpassung. Vgl. Saage, Richard: „Die konstruktive Kraft des Nullpunkts. Samjatins Wir und die Zukunft der politischen Utopie.“ In: ders. (Hrsg.): Utopische Profile. Bd. 4. Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2004, S. 13-23, hier S. 14.

45 Siehe Kapitel 4.4.

46 Vgl. Kapitel 4.2.

47 Kramer sieht die „Methode“ als die logische Folge der Aufklärung (vgl. S. 83).

48 Zur Metapher des Staatskörpers vgl. u.a. Guldin, Rainer: Körpermetaphern: Zum Verhältnis von Politik und Medizin. Würzburg 2000, S. 27-54, insb. S. 27-29.

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Zwischen Gegenwart und Zukunft. Dystopien in Romanen des 21. Jahrhunderts
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Philosophische Fakultät)
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
86
Katalognummer
V339220
ISBN (eBook)
9783668303911
ISBN (Buch)
9783668303928
Dateigröße
982 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dystopie, Roman, 21. Jahrhundert, Literatur, Juli Zeh, Marc Elsberg, Michel Houellebecq
Arbeit zitieren
Verena Rumpf (Autor:in), 2016, Zwischen Gegenwart und Zukunft. Dystopien in Romanen des 21. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/339220

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