Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Novelle
3 Die Novellen Maupassants – Versuch einer Klassifizierung
4 Analyse und Interpretation der Novelle La Parure
4.1 Figuren
4.2 Erzählsituation
4.3 Raumstruktur und Zeit
5 Überlegungen zur Moral in La Parure
Bibliographie
1 Einleitung
Guy de Maupassant gilt als größter Meister der Novellen des 19. Jahrhunderts. Seine mehr als 300 Novellen, die er in nur zehn Jahren verfasste, wurden zunächst in Frankreich und danach in der ganzen Welt bekannt. Eines seiner Werke, die psychologische Novelle La Parure, die 1884 in der Zeitung Le Gaulois erschienen ist und einen großen Erfolg verzeichnete, ist das Thema der vorliegenden Arbeit.
Mathilde Loisel lebt mit ihrem Ehemann ein durchschnittliches Leben des niedrigen Bürgertums, träumt aber von einem Leben in der haute bourgeoisie. Für einen Ballabend leiht sie sich von einer reichen Freundin eine vermeintlich wertvolle Halskette, die sie während der Festivität verliert. Um der Freundin den Verlust nicht beichten zu müssen, kauft das Ehepaar Loisel ein neues Schmuckstück, für das es sich hoch verschulden und zehn Jahre lang ein Leben in Armut führen muss. Erst in der Schlusspointe der Novelle erfahren sie, dass die geliehene Kette keineswegs wertvoll war.
Bevor die Novelle analysiert wird, gehe ich auf die Gattung der Novelle im Allgemeinen ein. Im Anschluss wird eine versuchte Klassifikation der Novellen Maupassants vorgestellt und dabei das Augenmerk auf die psychologische Novelle gelegt. Mit Hilfe der Analyse, die sich schwerpunktmäßig auf die Figuren, die Erzählsituation, die Raumstruktur sowie auf den Zeitaspekt bezieht, sollen die psychologischen Elemente in der Novelle hervorgehoben werden. Zum Schluss soll geklärt werden, ob die Novelle La Parure der reinen Unterhaltung dient oder ob sich in ihr eine tiefere Moral findet.
2 Die Novelle
1462 fand der Begriff der Novelle mit den Cent nouvelles nouvelles, die nach italienischem Vorbild eine Sammlung novellesker Erzählungen darstellten, erstmals im französischsprachigen Raum Verwendung. Im Laufe der Jahrhunderte etablierten sich neben der nouvelle auch Bezeichnungen wie conte, propos oder histoire.[1] Seit dem 19. Jahrhundert werden die Begriffe synonym verwendet, so auch von Maupassant, der seine Erzählungen „vorzugsweise nouvelles und nur gelegentlich contes “[2] nennt und damit „nicht die geringsten Anhaltspunkte für eine Bedeutungs- geschweige denn für eine Gattungsdifferenzierung gibt.“[3]
Wie das Etymon des Wortes zeigt, handelt es sich bei einer Novelle um etwas Neues, Unerwartetes, um „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“[4]. Die Bedeutung dieser Unerhörtheit, die bis zum 19. Jahrhundert als außerordentlicher Fall charakterisiert wird, ändert sich im späten 19. Jahrhundert: Das Unerhörte bezeichnet nun „das Skandalöse des Alltäglichen, […] die Aufdeckung des wahren Charakters des Normalen.“[5] Damit verknüpft ist der Authentizitätsanspruch der Novelle, die stets etwas Wahrscheinliches präsentiert und damit dem Anspruch des Realismus, die Wirklichkeit objektiv abzubilden, gerecht wird. Kennzeichnend für eine solche Wirklichkeitsspiegelung ist die personale Erzählsituation, die man in einem Großteil der französischen Novellen des 19. Jahrhunderts wiederfindet.[6]
Ein weiteres Charakteristikum ist die Kürze, der die orale Erzähltradition der Novelle zugrunde liegt[7] und zu der sich Baudelaire folgendermaßen äußerte: „Dans la composition tout entière, il ne doit pas se glisser un seul mot qui ne soit une intention, qui ne tendra, directement ou indirectement à parfaire le dessein prémédité.“[8] Doch warum wurden Novellen erzählt? Dienten sie, wie das mittelalterliche Exemplum, der moralischen Lehre oder bloß der reinen Unterhaltung der Gesellschaft? In den Contes morals des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist „eine positiv vorbildliche oder negativ abschreckende moralische Wirkung“[9] noch intendiert, doch erfreut sie sich auch Ende des 19. Jahrhunderts noch besonderer Beliebtheit? Dies ist eine weitere Frage, die es in der vorliegenden Arbeit zu klären gilt.
3 Die Novellen Maupassants – Versuch einer Klassifizierung
Es lässt sich also festhalten, dass alle Erzählungen Maupassants gemeinhin als Novellen zu verstehen sind, obwohl sie sich stark in Umfang, Personenzahl, Darstellungsmitteln und vielen anderen Aspekten unterscheiden.[10] Zahlreiche Wissenschaftler versuchten, die mehr als 300 Novellen des französischen Autors anhand verschiedenster Faktoren zu kategorisieren. Zu dieser Klassifikation liegen verschiedene Vorschläge vor, die an dieser Stelle nicht einzeln aufgeführt werden können, sodass ich mich auf den Vorschlag von Blüher beschränke, der in phantastische Novellen, Schauernovellen, sozialkritische Novellen, Schwanknovellen und psychologische Novellen unterteilt, die im Folgenden skizziert werden.
Im 19. Jahrhundert ging von der phantastischen Novelle, in der das Übernatürliche in einer objektiv dargestellten Wirklichkeit auftaucht, eine besondere Faszination aus. Abhängig von der Textstruktur lassen sich drei Typen phantastischer Novellen unterscheiden: Der erste Typ vermeidet eine Erklärung des Unbegreiflichen, ein zweiter erklärt das Übernatürliche durch die Enthüllung als Sinnestäuschung oder raffinierten Schwindel. Das dritte und wohl bekannteste Modell, zu welchem auch Maupassants Le Horla (1887) zählt, erklärt das Phantastische mithilfe des seelischen Ausnahmezustands der Figuren.[11]
Ungefähr 60 Novellen Maupassants lassen sich dem Conte noir, der Schauernovelle, zuordnen, in der unter Wahrung des Wahrscheinlichen das Grauenhafte in eine alltägliche Atmosphäre verlegt wird.[12] Sie soll dem Leser in einer schockierenden Schlusspointe Angst und Schrecken bringen und verfolgt häufig eine kathartische Wirkung. Als Beispiele für diesen Novellentyp gelten La Tombe (1884) und Le Père Judas (1883).[13]
Ein dritter Typ, der im Laufe des 19. Jahrhunderts entsteht, ist der der sozialkritischen Novelle. Ihre Themen sind stets gegen Missstände des vorherrschenden Gesellschaftssystems gerichtet und spiegeln diese ungeschönt wider. Demonstriert wird diese Kritik an der Ungerechtigkeit der Gesellschaftsordnung häufig anhand eines menschlichen Problemfalls, wie er auch in Maupassants Le Gueux (1884) zu finden ist.[14]
Vor allem zum Ende des 19. Jahrhunderts erlebte die Schwanknovelle eine Blütezeit. Dieser Typus knüpft an die Renaissancennovellistik an und wurde durch Maupassant weiterentwickelt sowie thematisch erneuert. Es geht häufig um Dreiecksbeziehungen (Un Million, 1882), grobe Bauernspäße (Farce Normande, 1882), komische Verwechslungen (La Soirée, 1887) oder groteske Situationsschilderungen (Toine, 1885). Ihnen allen gemeinsam ist die stets auftretende Heiterkeit, die in einigen Werken jedoch die pessimistische Weltsicht Maupassants durchschimmern lässt.[15]
Nachdem diese vier Novellentypen nur jeweils kurz skizziert worden sind, soll die letzte Kategorie, die psychologische Novelle, detaillierter betrachtet werden. Zu diesem Typus zählen die meisten der Novellen Maupassants, darunter auch La Parure.
Während sich die phantastische Novelle und die Schauernovelle im 19. Jahrhundert erst in der Entstehung befinden, knüpft die psychologische Novelle bereits an die Novellistik des 18. Jahrhunderts an. Doch lassen sich in der Entwicklung der psychologischen Novelle im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Romantik und des Realismus vermehrt Wandelprozesse feststellen[16]: Gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts tritt ein neuer Typus der psychologischen Novelle auf, der sich wesentlich stärker auf die „innere, seelische Haltung der Personen“[17] konzentriert und „hierbei vor allem das individuell Einmalige und charaktermäßig Unverwechselbare hervorhebt.“[18] Wurden bisher exotische Milieus als Hintergrund gewählt, um das Ungewöhnliche hervorzuheben, so findet sich die Handlung nun im Alltäglichen Paris‘ und der französischen Provinzen, wo es „eine geheime Tragik […], eine auf den ersten Blick nicht erkennbare seelische Welt voller versteckter Gefühle und Regungen, voller heimlicher Enttäuschungen und Verbitterungen, voller innerer Einsamkeit und Verzweiflung“[19] aufzudecken gilt. Für Maupassant und die Novellistik des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen charakteristisch wurden die kürzeren Ereignisgeschichten, die die tragischen Liebesnovellen ablösten und „sich anekdotenhaft auf ein einziges, besonderes seelisches Erlebnis konzentriert[en].“[20] Eine weitere Innovation der psychologischen Novellen im 19. Jahrhundert war die Ausweitung der Themenbereiche auf bisher gänzlich unbekannte psychologische Themen. Balzac führte mit seiner Comédie humaine die Charakterstudie ein, die ein Bild von der zeitgenössischen französischen Gesellschaft zu zeichnen versuchte. Und auch Maupassant „zeichnet mit naturalistischer Nüchternheit manch unverfälschten Charaktertyp aus seiner normannischen Heimat“[21], aber auch aus den verschiedenen Pariser Gesellschaftsschichten, allen voran „aus der Welt der Kleinbürger, Beamten und Angestellten“[22]. In diesem Milieu spielt auch seine Novelle La Parure, mit der er, von Tragikomik dominiert, ein kritisches Porträt der Pariser Gesellschaft zeichnet.
4 Analyse und Interpretation der Novelle La Parure
Da es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, die Novelle La Parure in all ihren Einzelheiten zu analysieren, soll im Folgenden das Augenmerk auf die Figuren, die Erzählsituation, die Raumstruktur sowie die Zeit gelegt werden. Sie alle helfen dabei, die Erzählung zu interpretieren und ggf. eine Moral aus ihr zu ziehen.
4.1 Figuren
Gleich mit den ersten Worten der Novelle, „C’était une de ces jolies et charmantes filles […]“ (23)[23], wird die Protagonistin Mathilde Loisel eingeführt, die sich nicht von anderen französischen Frauen unterscheidet. Auch mit der Aussage „car les femmes n’ont point de caste ni de race“ (23) findet eine Generalisierung der französischen Frauen statt, die den Eindruck verstärkt, dass es sich bei Madame Loisel um eine durchschnittliche Pariser Bürgerin handelt, die durch keine Besonderheiten auffällt. So macht Maupassant den Anspruch deutlich, die unerhörte Begebenheit, die das Herzstück einer jeden Novelle bildet, im alltäglichen Leben zu finden, hinter verschlossenen Türen, unbemerkt von der Gesellschaft. Denn „née, comme par une erreur du destin, dans une famille d’employés“ (23), fühlt Mathilde Loisel sich „déclassée“ (23) in der Welt des niedrigen Bürgertums. Von einem Leben in einer höheren sozialen Schicht, die ihrem Aussehen und Charakter entspricht, kann sie jedoch nur träumen, da sie aufgrund ihres Schicksals nur einen „petit commis de ministère de l’Instruction publique“ (23) heiraten konnte. An dieser Stelle wird zum ersten Mal die pessimistische Lebenseinstellung Maupassants deutlich, dessen Ansicht nach der Mensch keinen Einfluss auf sein Leben hat und dieses mehr oder weniger von Zufällen bestimmt ist, wie auch später die markante Schlusspointe zeigen wird. So zeigt gleich der erste Satz, dass Madame Loisel keine Chance auf einen sozialen Aufstieg hat, so wie es ihr Wunsch wäre, und dass somit auch die Einladung zum Ball ihr Leben nicht positiv verändern wird. Letzterer verschlimmert ihre soziale Situation vielmehr, wie man im Laufe der Erzählung feststellen wird. Unzufrieden mit ihrem Leben flüchtet sie sich in eine Traumwelt, was durch die vierfache Wiederholung von „elle songeait“ (24) deutlich wird. Die äußerst positive Beschreibung eines besseren Lebens mit den „antichambres muettes, capitonnées avec des tentures orientales“ (24) steht im Gegensatz zu der Wirklichkeit, die durch „la pauvreté de son logement, […] la misère des murs, […] l’usure des sièges, [et] la laideur des étoffes“ (23) geprägt ist.
Dann aber erhält sie durch ihren Ehemann eine Einladung zum Ministerienball, auf dem sie tatsächlich einmal in die Rolle einer Dame des gehobenen Bürgertums schlüpfen kann. Doch so schnell sie ihre Chance auf Anerkennung sieht, so schnell sieht sie sie auch schon wieder verschwinden, besitzt sie „pas de robes, pas de bijoux, rien“ (24). Der fürsorgende Ehemann, der seiner Frau mit der Einladung eine große Freude machen wollte, kann sie nicht länger leiden sehen und gibt ihr sein Erspartes, damit sie sich ein Ballkleid kaufen kann. Doch auch mit einem neuen Ballkleid gibt sie sich nicht zufrieden, da sie auch keinen zum Anlass passenden Schmuck besitzt. Den Vorschlag ihres Ehemanns, ihre Haare mit zwei oder drei Rosen zu schmücken, nimmt sie nicht an, da es für sie ein Zeichen von Armut ist, sich keinen Schmuck leisten zu können. Der nächste Vorschlag ihres Mannes, sich Schmuck von einer „amie riche“ (24) zu leihen, überzeugt sie schon eher. So leiht sie sich bei ihr eine „superbe rivière de diamants“ (27). Auffällig ist, dass Madame Loisel sich mit dem Schmuck ihrer Freundin zunächst nicht zufrieden gibt. Erst als sie das Schmuckstück nimmt, das ihr am Wertvollsten scheint, verfällt sie in eine „extase devant elle-même“ (27). Besonders an dieser Stelle wird deutlich, dass Madame Loisel eine sehr ungenügsame und materialistische Frau ist, die sich nur mit dem Wertvollsten zufrieden gibt.
[...]
[1] Vgl. Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.), 19. Jahrhundert. Drama und Novelle, Erlangen: Stauffenburg 2001, S. 19/20.
[2] Kessler, Helmut, Maupassants Novellen. Typen und Themen, Braunschweig: Westermann 1966, S. 19.
[3] Ebd.
[4] Zitiert nach: Neuschäfer, Hans-Jörg, Boccaccio und der Beginn der Novelle, München: Fink 1969, S. 76.
[5] Krömer, Wolfram, Die französische Novelle im 19. Jahrhundert, Frankfurt: Athenäum 1972, S. 204.
[6] Vgl. Blüher, Karl, Die französische Novelle, Tübingen: Francke 1985, S. 12/143.
[7] Vgl. Ebd., S. 10.
[8] Zitiert nach: Godenne, René, Études sur la nouvelle française, Paris: Champion 1993, S. 54.
[9] Blüher, Die französische Novelle, S. 179.
[10] Vgl. Kessler, Maupassants Novellen. Typen und Themen, S. 15.
[11] Vgl. Blüher, Die französische Novelle, S. 144/145.
[12] Vgl. Krömer, Wolfram (Hrsg.), Die französische Novelle, Düsseldorf: Bagel 1976, S. 176.
[13] Vgl. Blüher, Die französische Novelle, S. 164/175.
[14] Vgl. Blüher, Die französische Novelle, S. 196/199.
[15] Vgl. Ebd., S. 205/206.
[16] Vgl. Ebd., S. 176.
[17] Ebd., S. 178.
[18] Ebd.
[19] Krömer, Die französische Novelle, S. 179.
[20] Blüher, Die französische Novelle, S. 180.
[21] Ebd., S. 193.
[22] Ebd.
[23] Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf: Maupassant, Guy de, La Parure et autres scènes de la vie parisienne, Paris: Flammarion 2001 (¹1884), S. 23-35.