Leseprobe
Gliederung
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Begriff ADHS und die Symptome
3. Ursachen der ADHS
3.1. Neurobiologische Ursachen
3.2. Psychosoziale Faktoren
3.2.1. Die ökonomisch-kulturellen Bedingungen
3.2.2. Die Bedingungen des sozialen Umfeldes
3.2.3. Die psycho-emotionalen Bedingungen
3.3. Das Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Aufmerksam- keitsstörungen
4. Vom Verdacht zur Diagnosestellung
4.1. Der Anfangsverdacht
4.2. Die Diagnose
4.3. Kritische Betrachtung der Diagnose
4.3.1. Empirische Befunde für eine Überdiagnostizierung
4.3.2. Zusammenfassung der kritischen Betrachtung
5. ADHS Typische Probleme der Betroffenen
5.1. Probleme des Kindes
5.2. Probleme der Eltern
5.3. Probleme der Lehrer
6. Handlungsempfehlungen
6.1. Handlungsempfehlungen für Eltern
6.1.1. Ausbruch aus dem Teufelskreis
6.1.2. Umsetzung und Arten der negativen Konsequenzen
6.1.3. Umsetzung von positiven Konsequenzen
6.2. Handlungsempfehlungen für Lehrer
6.2.1. Lob und Anerkennung geben
6.2.2. Klare Regeln aufzeigen
6.2.3. Auszeit als negative Konsequenz nutzen
6.2.4. Freiräume und Bewegungsmöglichkeiten bieten
6.2.5. Eine lernfreundliche Umgebung schaffen
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Typische Symptome im Tagesverlauf
Abbildung 2: Interaktionsmodell nach Barkley
Abbildung 3: Teufelskreis
Abbildung 4: Statistische Auswertung der gestellten Diagnosen
1. Einleitung
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gehört weltweit sowohl zur am häufigsten diagnostizierten, als auch umstrittensten psychischen Störung im Kindes- und Jugendalter (vgl. Becker 2014: 13). Die Zahl der ADHS Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland stieg nach Informationen des Ärztereports 2013 der Barmer zwischen den Jahren 2006 und 2011 um 42% an. In Deutschland leiden, laut der Ergebnisse der KiGGS Studie von 2014, 5% der Kinder und Jugendlichen von 3 bis 17 Jahren an einer diagnostizierten ADHS, wobei Jungen dabei mehr als viereinhalbmal so häufig betroffen waren als Mädchen (vgl. Schlack u.a. 2014: 822).
Die Barmer Krankenkasse geht aufgrund ihrer Ergebnisse des Barmer GEK Ärztereports 2013 sogar davon aus, dass 25% aller Jungen sowie 10% der Mädchen, welche ab dem Jahr 2000 geboren wurden, bis zu ihrem 22. Lebensjahr eine ADHS diagnostiziert bekommen (vgl. Grobe/ Bitzer/ Schwartz 2013: 179).
Aufgrund steigender Diagnosezahlen in den letzten Jahren und der dementsprechend zu prognostizierenden steigenden Relevanz für die zukünftige pädagogische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien, ist es das Ziel dieser Arbeit, das Störungsbild ADHS sowie seine Ursachen mit Schwerpunkt auf den psychosozialen Bereich zu skizzieren, sowie die gegenwärtige Diagnosestellung kritisch zu hinterfragen und Handlungs- empfehlungen für Eltern und Lehrer auszusprechen. Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass ein positives psychosoziales Umfeld sowie die pädagogische Förderung der betroffenen Kinder ADHS Symptome kompensieren und abschwächen kann. Die zentrale Fragestellung innerhalb dieser Arbeit lautet daher: „Welchen Einfluss haben psychosoziale Faktoren auf die ADHS und welche Handlungsempfehlungen lassen sich daraus für Eltern und Pädagogen ableiten?“ Die Beantwortung dieser Frage soll mit Hilfe aktueller Fachliteratur und fachlich wertvoller Internetquellen gelingen.
Dabei soll am Anfang dieser Arbeit grundlegendes Basiswissen aufgearbeitet werden, dazu zählen die Begrifflichkeit ADHS sowie die Hauptsymptome und die sich daraus ergebenden Sekundärsymptome und Schwierigkeiten im Alltag der Betroffenen. Anschließend ist es das Ziel, die aktuelle Ursachendiskussion zu skizzieren und ausgehend von der Annahme eines multifaktoriellen Entstehungsmodelles ausführlich die psychosozialen Faktoren und deren Einfluss auf die Ausprägung von ADHS Symptomen vorzustellen. Auch der Weg der Diagnosestellung soll in kritischer Betrachtungsweise, zusammen mit einer empirischen Studie, welche eine Überdiagnostizierung von ADHS nachweisen konnte, vorgestellt werden. Ein weiteres Kapitel wird den typischen Problemen der Betroffenen gewidmet, dabei wird nicht nur das Kind als Betroffener gesehen, sondern auch dessen Eltern und Lehrer. Zum Schluss der Arbeit sollen, basierend auf in der Literatur als wirksam beschriebenen Ratschlägen und aufbauend auf dem Wissen der folgenden Kapitel, Handlungsempfehlungen an Eltern und Lehrer gegeben werden. So soll für die betroffenen Kinder ein günstiges Umfeld geschaffen werden, welches dazu beiträgt, die ADHS bedingten Probleme zu mindern und somit auch den Eltern und Lehrern Erleichterung zu verschaffen.
2. Der Begriff ADHS und die Symptome
Die ADHS ist auch als hyperkinetische Störung bekannt, sowie unter seiner englischen Bezeichnung ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder) und gehört nach ICD 10 zu der Gruppe der Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (vgl. Krollner/ Krollner 2016).
Es gibt auch Formen der Aufmerksamkeitsstörung, bei denen keine ausgeprägte Hyperaktivität zu verzeichnen ist, weswegen die Abkürzung AD(H)S, mit dem „H“ für „Hyperaktivität“ in Klammern gesetzt, existiert.
Die Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. definiert ADHS folgendermaßen:
„ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu deutlicher Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Bezugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt. Diese Auffälligkeiten sollen länger als 6 Monate bestehen und beeinträchtigende Symptome von Hyperaktivität-Impulsivität und Unaufmerksamkeit sollen bereits vor dem Alter von 7 Jahren vorhanden gewesen sein. Die Symptome sollen nicht ausschließlich im Rahmen einer tief greifenden Entwicklungsstörung (z.B. Autismus-Spektrum) oder Psychose auftreten und nicht besser durch andere somatische oder psychiatrische Störungen erklärt werden können.“ (Grosse/ Skrodzki 2009: 1)
Nach den Erkenntnissen von Barkley aus dem Jahr 2005 handelt es sich bei der ADHS vor allem um eine Entwicklungsstörung der Selbstbeherrschung, indem eine Beeinträchtigung der Bereitschaft oder der Fähigkeit der betroffenen Kinder besteht, zukünftige Ziele und Konsequenzen in ihrem Verhalten zu berücksichtigen (vgl. Barkley 2005: 43).
Wie bereits aus der Definition der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. ersichtlich, orientiert sich die Diagnose ADHS stark an den Symptomen und deren Ausprägungen im Lebensumfeld der betroffenen Kinder.
Zu den Hauptsymptomen zählen:
- Unaufmerksamkeit
Das Kind kann sich nur schwer konzentrieren und ist leicht ablenkbar; es kann sich nicht lange beschäftigen und führt Aufgaben oft nicht zu Ende; es zeigt fahriges, zerstreutes oder auch verträumtes Verhalten und wirkt abwesend.
- Impulsivität
Das Kind handelt oft unüberlegt und ist sprunghaft; es handelt, ohne sich die Konsequenzen seines Handelns bewusst zu machen; es denkt eher oberflächlich und flüchtig über etwas nach.
- Hyperaktivität
Das Kind wirkt in seinem Verhalten sehr unruhig und zeigt einen fortwährenden, starken Bewegungsdrang; es ist zappelig und lässt sich nur schwer beruhigen; es fehlt dem Kind an innerer Ausgeglichenheit (vgl. Kovacs/ Kaltenthaler 2006: 12).
Unaufmerksamkeit, Impulsivität und zeitweilige Hyperaktivität sind bei nahezu allen Kindern zu beobachten, auch ist bekannt, dass manche Kinder einfach lebhafter und eigensinniger sind als andere, worin kein Krankheitswert besteht. Eine ADHS dagegen kann dann vorliegen, wenn diese Symptome über einen längeren Zeitraum und in einem überdurchschnittlich ausgeprägten Maße gezeigt werden, sie in mehreren Lebensbereichen vorkommen und zu deutlichen Beeinträchtigungen in der sozialen und schulischen Funktionsfähigkeit des Kindes führen (vgl. Kahl 2007: 4).
Durch die genannten Hauptsymptome sind die Betroffenen meist in ihrem familiären und institutionellen Umfeld (Kindergarten, Schule) so stark beeinträchtigt, dass sich weitere, sogenannte Sekundärsymptome, daraus ergeben.
Zu den sekundären Symptomen zählen u.a.:
- Wahrnehmungs- und Lernschwierigkeiten
So ist bei Kindern, welche in ihrer Aufmerksamkeit gestört sind, oftmals die Wahrnehmungsqualität im visuellen, wie auch im auditiven Bereich gestört. Da ihnen das Selektieren und Filtern verschiedenster Reize oft nicht gelingt, funktioniert der Prozess der Wahrnehmung, welcher normalerweise die Fähigkeit dazu beinhaltet, ähnliche Sinneseindrücke getrennt voneinander zu registrieren, sowie diese differenziert aufzunehmen und in einen sinnvollen Zusammenhang miteinander zu bringen, meist nur verlangsamt oder fehlerhaft. Ein Beispiel für ein Wahrnehmungsproblem, an dem ADHS Kinder oft leiden, ist die sogenannte „Figur-Grund-Störung“ bei der es den Kindern schwerfällt, Figur und Hintergrund zu unterscheiden und zum Beispiel eine Teilgestalt aus einer Gesamtheit zu erkennen (vgl. Stump 2002: 15).
- Schwierigkeiten im sozialen Verhalten
Den Kindern fällt es aufgrund ihrer Impulsivität und Reizbarkeit oft schwer, ihre Reaktionen auf die Eltern, Schulkameraden und Lehrer richtig zu dosieren. Oft verletzen sie daher, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Menschen in ihrem sozialen Umfeld emotional oder körperlich. Auch fällt es ihnen aufgrund ihrer notorischen Unaufmerksamkeit oft schwer, sich an geltende Regeln, beispielsweise beim gemeinsamen Spielen mit Gleichaltrigen oder im Unterricht, zu halten. Dort fallen sie nicht selten durch aggressives und oppositionelles Verhalten auf. Als Folge dessen geraten ADHS Kinder meist in eine soziale Außenseiterposition (vgl. Stump 2002: 19).
- Probleme mit dem Selbstwertgefühl
ADHS Kinder zeichnen sich in der Regel durch ein geringeres Selbstvertrauen aus, sie nehmen ihre „Andersartigkeit“ selbst wahr und erkennen, dass sie im Vergleich zu ihren Schulkameraden meist langsamer, erfolgloser, ungeschickter und unbeliebter sind. Ihr geringes Selbstwertgefühl versuchen sie oft durch großspuriges Verhalten zu kompensieren (vgl. Stump 2002: 20f.).
Wie in Abbildung 1 „Typische Symptome im Tagesverlauf“ verdeutlicht, leiden betroffene Kinder meist über den ganzen Tagesablauf hinweg an Problemen, Spannungen und Konflikten, welche auf ihr Verhalten und die spezifischen ADHS Symptome zurückzuführen sind.
3. Ursachen der ADHS
Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass lediglich eine hirnorganische Verursachung aufgrund einer frühkindlich entstandenen Hirnfunktionsstörung für die ADHS verantwortlich wäre. Die damalige Bezeichnung für ADHS war aufgrund dessen MCD („minimale cerebrale Dysfunktion“). Diese Vermutung und der Begriff MCD gilt allerdings heute als überholt und nicht mehr zeitgemäß (vgl. Eitle 2006: 18).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Typische Symptome im Tagesverlauf (Eitle 2006: 10)
Bis heute ist es der Wissenschaft allerdings noch nicht gelungen, eine oder mehrere Ursachen für ADHS zweifelsfrei nachzuweisen. Aufgrund dessen existieren bis heute noch zahlreiche Hypothesen, welche teilweise kontrovers diskutiert werden. Momentan besteht bei vielen Wissenschaftlern der Konsens darin, dass ein multifaktorielles Entstehungsmodell angenommen wird (vgl. Vernooij 1992: 31; Schlack u.a. 2007: 828; Ulbricht 2002: 10). Hierbei wird davon ausgegangen, dass bei ADHS, wie auch bei anderen psychischen Störungen, nicht nur eine Ursache vorliegt, sondern mehrere Ursachen am Störungsbild beteiligt sind.
Erfahrungen mit Kindern führen zu der Erkenntnis, dass die Sozialisation und das psychosoziale Umfeld einen sehr großen Einfluss auf das Verhalten von Kindern haben, weswegen dieses Entstehungsmodell anderen, welche z.B. davon ausgehen, dass die Symptomatik allein organisch verursacht ist, vorzuziehen ist.
Im Rahmen des multifaktoriellen Entstehungsmodelles werden derzeit vor allem die genetischen, organischen, psychosozialen und ökologischen Faktoren diskutiert (vgl. Vernoij 1992: 32). Da es im weiteren Verlauf dieser Arbeit Ziel ist, Handlungsempfehlungen an Eltern und Pädagogen im Umgang mit betroffenen Kindern zu geben, liegt der Schwerpunkt in diesem Kapitel bei den psychosozialen Verursachungsfaktoren, wobei anfangs auch kurz auf die genetischen und organischen Faktoren eingegangen wird, welche von vielen Wissenschaftlern im Rahmen des multifaktoriellen Entstehungsansatzes als Hauptursachen vermutet werden (vgl. Schlack u.a. 2007: 828).
3.1. Neurobiologische Ursachen
Es wird heute mehrheitlich davon ausgegangen, dass es sich bei ADHS um eine neurobiologische Erkrankung handelt, wobei die genetische Komponente, neben anderen Einflussfaktoren, den größten Ausschlag gibt. Die Störung ist aus dieser Sicht heraus geprägt von einer Beeinträchtigung neuronaler Netzwerke bei den Betroffenen (vgl. Eitle 2006: 18). Dies führt dazu, dass Betroffene neben strukturellen Unterschieden Auffälligkeiten in bestimmten Botenstoffsystemen im Gehirn, welche für die Informations- übertragung von Zelle zu Zelle verantwortlich sind, aufzeigen (vgl. Bargelé u.a. 2006: 9). Besonders der Botenstoff Dopamin soll hierbei von der Störung betroffen sein. Dieser hemmt und moduliert die Aktivitäten anderer Neuronen und ist zuständig für die Kontrolle der Aktivität, sowie der Aufmerksamkeitsleistungen (vgl. Eitle 2006: 18). Dies hat u.a. zur Folge, dass es Betroffenen oft schwerfällt, komplexe Aufgaben zu bewältigen und wichtige von unwichtigen Wahrnehmungen zu unterscheiden.
Des Weiteren entwickelt ihr Kurzzeitspeicher nicht die normale Kapazität, was zur Folge hat, dass beim Spontanabruf von Gedächtnisinhalten sowie bei der Integration neuer Informationen Probleme auftreten können (vgl. Bargelé u.a. 2006: 9). Auch Barkley (2005) geht nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft davon aus, dass biologische Faktoren (Anomalien in der Entwicklung des Gehirns) den engsten Zusammenhang zur Entstehung der ADHS aufweisen (vgl. Barkley 2005: 143).
3.2. Psychosoziale Faktoren
Entgegen der in Laienkreisen teilweise verbreiteten Meinung, ADHS sei lediglich auf ein Erziehungsproblem der Eltern zurückzuführen, besteht mittlerweile bei den meisten Vertretern der „psychosozialen Faktoren“ im multifaktoriellen Gefüge der Konsens darin, dass die Anlage für ADHS, wie in Punkt 3.1. beschrieben, vor allem auf einer genetischen und organischen Komponente basiert (vgl. Kahl 2007: 7; Barkley 2005: 143f.).
Erweitert wird davon ausgegangen, dass psychosoziale Faktoren das Ausmaß und die Ausprägung der Symptomatik im gezeigten Verhalten erheblich mitbestimmen, verstärken oder abschwächen können.
So wird erwähnt, dass ungünstige Interaktion des betroffenen Kindes mit seinen Bezugspersonen die Schwere und Dauer von ADHS beeinflussen (vgl. Hanne-Behnke 2008: 24). Außerdem könne ein genetisch belastetes Kind unter günstigen pädagogischen und psychosozialen Bedingungen, zum Beispiel, wenn es durch Eltern und Pädagogen gefördert wird, die Anlage zum ADHS bis zu einem gewissen Grad kompensieren (vgl. Schlack u.a. 2007: 828). Nach Vernooij (1992) lassen sich die psychosozialen Faktoren in drei wesentliche Faktorengruppen untergliedern, welche zusammen einen sich wechselseitig beeinflussenden Verursachungskomplex darstellen (vgl. Vernooij 1992: 47).
Zu den Faktorengruppen nach Vernooij, auf welche nachfolgend genauer eingegangen wird, zählen:
- ökonomisch-kulturelle Bedingungen
- Bedingungen des sozialen Umfeldes
- psycho-emotionale Bedingungen
3.2.1. Die ökonomisch-kulturellen Bedingungen
Die ökonomisch-kulturellen Bedingungen haben nach Vernooij den geringsten Einfluss der drei Faktoren. Zu den Bedingungen dieser Faktorengruppe, die sich negativ auf das kindliche Verhalten auswirken können, zählen u.a. ein niedriger Sozialstatus der Familie, beengte Wohnverhältnisse sowie ein anregungsarmes Milieu (vgl. Vernooij 1992: 40). Bislang konnte empirisch noch kein eindeutiger Einfluss und Zusammenhang der ökonomisch- kulturellen Bedingungen auf die Entstehung von ADHS nachgewiesen werden. Dennoch wurde nach Informationen der KiGGS Studie von 2014 festgestellt, dass die Diagnose häufiger bei Kindern, deren Eltern einem niedrigeren sozialen Status angehören, gestellt wird (vgl. Schlack u.a. 2014: 822). Auch der Barmer GEK Ärztereport von 2013 wies darauf hin, dass aufgrund der vorhandenen Daten ein deutlicher Rückgang des ADHS Erkrankungsrisikos mit steigender (Aus-)Bildung der Eltern nachzuweisen war (vgl. Grobe/ Bitzer/ Schwartz 2013: 222).
3.2.2. Die Bedingungen des sozialen Umfeldes
Kinder mit ADHS sind Teil von verschiedenen sozialen Netzwerken oder Systemen, wobei das wichtigste System, noch vor der Schule, die eigene Familie darstellt. Nach Barkley entscheidet erst das soziale Umfeld, welche Kinder zu Ärzten geschickt, untersucht und behandelt werden. Außerdem hat das soziale Umfeld einen wesentlichen Einfluss darauf, wie sich eine bestehende ADHS entwickeln kann, ob sich weitere Probleme entwickeln und sich die Situation verschlechtert oder ob die Kinder trotz einer ADHS Diagnose relativ gut zurechtkommen und sich eine Besserung der Symptome einstellen kann (vgl. Barkley 2005: 171).
Vernooij sowie auch Barkley sind sich einig in der Annahme, dass sich das Verhalten des Kindes sowie das Verhalten des sozialen Umfeldes gegenseitig bedingen (vgl. Vernooij 1992: 40; Barkley 2005: 171). Dies ist insofern besonders problematisch anzusehen, da laut Barkley gezeigt wurde, dass sich die Eltern-Kind-, Geschwister-Kind- sowie Lehrer-Kind-Interaktionen bei Kindern mit ADHS prinzipiell als besonders schwierig und belastend beschreiben lassen (vgl. Barkley 2005: 172).
Hierbei besteht die Gefahr, dass sich die ADHS Symptome durch negative Reaktionen der Umwelt auf das abweichende Verhalten der betroffenen Kinder verstärken, beispielsweise durch Stigmatisierung der Betroffenen oder inkonsequente Erziehung. (vgl. Schultebraucks/ Fidler 2004: 5) Barkley entwickelte ein Interaktionsmodell, worin er an einem Beispiel aufzeigt, wie eine typische Eltern-Kind-Interaktion zur Überforderung der Eltern und gleichzeitig zur Verschlechterung der ADHS Symptome führen kann (vgl. Abb.2: Interaktionsmodell nach Barkley).
Das Interaktionsmodell beschreibt, dass Eltern, die ein von ADHS betroffenes Kind zu etwas auffordern oder ihm eine Grenze aufzeigen wollen, zunächst in der Regel keine Reaktion erhalten. Um doch zu dem Kind durchzudringen, wird besagte Aufforderung oder Regel immer wieder widerholt. Reagiert das Kind dann doch einmal positiv auf die Eltern, so wird es von den Eltern nicht ausreichend beachtet, da es als selbstverständlich und längst überfällig angesehen wird. Agiert das Kind hingegen in auffälliger, negativer Art und Weise, bekommt es, zwar negative, Aufmerksamkeit, doch mehr Beachtung als bei positivem Handeln des Kindes.
Es entwickelt sich eine Spirale, welche aggressives Verhalten der Eltern zur Folge haben kann oder eine Resignation der Eltern, was aus Sicht des Kindes eine Belohnung seines oppositionellen Verhaltens darstellt oder aber zu aggressivem Verhalten von Seiten des Kindes führt (vgl. Döpfner/ Schürmann/ Fröhlich 1998: 11; vgl. Ulbricht 2002: 12).
Dass das aggressive Verhalten von Eltern häufig aggressives Verhalten der Kinder nach sich zieht, lässt sich durch die Theorie des „Modelllernens“ nach Bandura begründen, welche auch durch die Bezeichnung „Nachahmungs-“ und Imitationslernen bekannt ist.
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Abbildung 2: Interaktionsmodell nach Barkley (Ulbricht 2002: 12)
Dabei wird ein Lernprozess beschrieben, welcher vorliegt, wenn beispielsweise ein Kind sich als Folge der Beobachtung des Verhaltens seiner Mutter oder seines Vaters neue Verhaltensweisen aneignet oder bestehende Verhaltensweisen verändert.
Wenn Eltern somit, um ihre Aufforderungen gegenüber dem Kind durchzusetzen, Aggressivität zeigen, lernt das Kind, dass aggressives Verhalten in Auseinandersetzungen zum Erfolg führen kann. Als Folge dessen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Kind zukünftig in ähnlichen Situationen und Auseinandersetzungen aggressives Verhalten zeigt. Um zu belegen, dass aggressives Verhalten durch Modelllernen entstehen kann, unternahm Bandura einen Versuch mit dem Ergebnis, dass Kinder, welche beobachteten, dass erwachsene Modelle eine große Plastikpuppe schlugen, boxten und traten, im weiteren Verlauf des Experimentes derartige Verhaltensweisen häufiger zeigten als Kinder aus Kontrollgruppen, die keine aggressiven Verhaltensweisen beobachteten. Bandura gelangte während seiner Forschung zu der Überzeugung, dass Eltern für Kinder häufig ein Vorbild für aggressive Verhaltensweisen sind (vgl. Myers 2014: 318f.; 19f.).
Anhand des Interaktionsmodells nach Barkley wird der Prozess der gegenseitigen Beeinflussung des Verhaltes sowie die Hilflosigkeit, der sich manche Eltern ausgesetzt fühlen, gut sichtbar. Das Kind wird von den Eltern als ständiger Verursacher von Unruhe und Streit angesehen. Die Eltern fühlen sich daraufhin nach einiger Zeit überfordert, unzufrieden und unausgeglichen und sind aufgrund dessen weniger in der Lage dem Kind positive Resonanz zu vermitteln, sowie eine gewisse Struktur und Ordnung in den Erziehungsalltag zu bringen, welche aber gerade für ADHS betroffene Kinder immens wichtig ist. Aufgrund dieser Interaktionsmuster und der daraus folgenden inkonsequenten Erziehung kommt es zu einem sogenannten „Teufelskreis“ welcher zu einer Verstärkung der Symptomatik führen kann, wie in Abbildung 3 verdeutlicht wird (vgl. Stump 2002: 40).
Nach Barkley gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Eltern von betroffenen Kindern auch selbst überdurchschnittlich häufig unter psychischen Problemen und Störungen leiden, so liegt die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens ein Elternteil eines Kindes mit ADHS die gleiche Störung aufweist, nach Barkley bei 40% (vgl. Barkley 2005: 173).
Er schreibt dazu:
„Die Probleme und Störungen, mit denen andere Familienmitglieder zu kämpfen haben, wirken sich […] darauf aus, wie das Kind mit ADHS wahrgenommen, behandelt, erzogen, geliebt und dann in die Selbstständigkeit entlassen wird - mit langfristigen Konsequenzen dafür, wie das Kind mit ADHS schließlich als Jugendlicher und Erwachsener mit seinem Leben zurechtkommt.“ (Barkley 2005: 173)
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Abbildung 3: Teufelskreis (vgl. Stump 2002: 41)
Ob das abweichende Verhalten des Kindes auch mitverantwortlich für weitere psychische Probleme und Störungen der Eltern sein kann, ist dabei zu hinterfragen. Anzunehmen ist, dass sich durch den oben beschriebenen Teufelskreis nicht nur die Symptomatik der Störung der betroffenen Kinder, sondern auch die Symptomatik der an psychischen Problemen leidenden Eltern verstärken kann, was wiederum in seiner Wechselwirkung eine anzunehmende Verschlechterung der Symptome des Kindes zur Folge hätte.
Zu den Bedingungen des sozialen Umfeldes gehört neben der Familie vor allem die Schule. In dieser sieht sich das Kind häufig mit einschränkenden und nicht-kindgemäßen Regeln konfrontiert wie z.B. dem Stillsitzen über längere Zeit sowie der vom Lehrer geforderten langfristigen Konzentration und Aufmerksamkeit, oftmals bezogen auf Unterrichtsinhalte, welche für das Kind uninteressant bzw. nicht ansprechend aufbereitet sind (vgl. Vernooij 1992: 41). Beim Lernen gerät das Kind u.a. wegen des in Punkt 2.1. beschriebenen Sekundärsymptoms der Wahrnehmungs- und Lernschwierigkeiten schnell unter Leistungs- und Konkurrenzdruck.
Auch die weiteren, unter Punkt 2.1. beschriebenen, Sekundärsymptome wie die Schwierigkeiten im sozialen Verhalten und ein geringes Selbstwertgefühl, können im Schulalltag zu negativen verstärkenden Reaktionen seitens der Lehrer und Mitschüler führen. Beispielsweise kann ständiges Ermahnen des Kindes von Seiten eines Lehrers über einen langen Zeitraum zu einer Stigmatisierung des Kindes führen. Dabei führt ein von der Gesellschaft abweichendes Personenmerkmal, welches von der Umwelt negativ bewertet wird, unter ungünstigen Bedingungen (z.B. einer typischen Lehrer- wahrnehmung) dazu, dass die ganze Person negativ wahrgenommen und bewertet wird. Der Stigmatisierungsprozess wirkt dabei sozial ansteckend, so dass das betroffene Kind vermehrt auch von anderen Lehrern und Mitschülern negative Rückmeldungen erhält. Aufgrund der Vielzahl an negativen Rückmeldungen aus dem Umfeld fängt das Kind an, sich mit dem negativen, ihm zugeschriebenen Verhalten zu identifizieren, dies führt wiederum zu einer verstärkten Übernahme des negativen Verhaltens (vgl. Schultebraucks/ Fidler 2004: 5) und damit wiederum in einen Teufelskreis in dem die ADHS Symptome des Kindes unter dem Einfluss des sozialen Umfeldes verstärkt werden.
3.2.3. Die psycho-emotionalen Bedingungen
Die psycho-emotionalen Bedingungen zählen für Vernooij zu den bedeutendsten Faktoren in Bezug auf die Entwicklung einer ADHS Symptomatik. Sie geht davon aus, dass diese den „emotionalen Grund“, auf dem die Kinder stehen, darstellen (vgl. Vernooij 1992: 42).
So schreibt sie dazu:
„Ist dieser Grund zuverlässig, sicher und fest, so kann die kindliche Entwicklung relativ störungsfrei verlaufen. Ist dieser Grund schwankend, unsicher und weich, gestaltet sich die kindliche Entwicklung schwierig und störanfällig“ (Vernooij 1992: 42)
Vernooij verweist in diesem Zusammenhang auch auf die von Erikson in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung geprägten Begriffe Urvertrauen und Urmisstrauen, welche ein Lebensgefühl der Kinder, welches sich bereits in den ersten Lebensmonaten ausbreitet, beschreiben. Werden dem Kind hiernach Forderungen nach Sicherheit, körperlicher Nähe, Geborgenheit etc. seitens der Mutter verweigert, entwickelt sich ein Urmisstrauen, welches sich durch ein Bedrohungsgefühl, sowie Ängste und ein Gefühl seiner Umwelt hilflos ausgeliefert zu sein, beschreiben lässt (vgl. Lohaus/ Vierhaus 2015: 12; Yad Vashem 2016: 1).
Der positive Sozialkontakt des Kindes zu einer Bezugsperson ist nach Vernooij die Basis jeder psychischen Entwicklung. Denn nur im liebevollen Angenommen sein innerhalb der eigenen Familie kann sich ein gesundes Selbstwertgefühl des Kindes entwickeln, welches es u.a. dazu befähigt, mit beeinträchtigten Rahmenbedingungen z.B. ökonomisch-kultureller Art, besser umgehen zu können, als Kinder die sich ungeliebt fühlen und deren Selbstwertgefühl niedrig ist. Bei letzteren Kindern summiert sich das Mangelerleben in der emotionalen Sicherheit mit ökonomischen und anderen Mängeln zu einem Gefühl des Mangeldaseins. Vernooij beschreibt hierbei vier Erziehungsformen, welche Störungen in der Entwicklung begünstigen (vgl. Vernooij 1992: 42). Zu diesen zählen Verwöhnung, Härte und Lieblosigkeit, Vernachlässigung und Gleichgültigkeit sowie Wechselklima.
Die Ansicht von Vernooij, wonach die psycho-emotionalen Einflussfaktoren nach den genetischen und biologischen mit zu den bedeutendsten Einflussfaktoren der ADHS Symptomatik gehören, erweist sich für die Arbeit eines Sozialpädagogen als günstig.
Ein Kind, welches sich geliebt fühlt, ein starkes Selbstwertgefühl besitzt, Vertrauen in seine Umwelt besitzt und sich über den Rückhalt in seiner Familie bewusst ist, kann mit diesen positiven psycho-emotionalen Bedingungen besser mit anderen negativen Bedingungen z.B. ökonomisch-kultureller Art oder im sozialen Umfeld der Schule, umgehen.
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