Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung
II. Freud und Schnitzler
II.I Parallelen der Vitae
II.II Hypnoseexperimente
III. Der Innere Monolog
III.I. Literarische Vorbilder
III.II. Die Erzähltechnik
IV. Freuds Modell der menschlichen Psyche und Schnitzlers Antwort
IV.I Der Einfluss der Traumdeutung
V. Psychoanalytische Deutung
V.I. Gustl - Ein männlicher Hysteriker?
VI. Fazit
VII. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Möchte man sich in einer klassisch literaturwissenschaftlichen Methodik einem Texte nähern, so ergeben sich verschiedene Ansätze dies zu tun. Im Allgemeinen unterscheidet man drei große Theoriefelder: die textimmanenten Ansätze (u.a. Strukturalismus, Hermeneutik), die kulturwissenschaftlichen Theorien (z.B. Gender Studies) und schließlich die interdisziplinären Richtungen, hier vorzugsweise der psychoanalytische Interpretationsansatz.
Ziel dieser Hausarbeit wird sein diesen letztgenannten auf Arthur Schnitzlers Novelle Lieutenant Gustl anzuwenden. Die psychoanalytische Literaturwissenschaft beschäftigt sich ihrerseits mit einem Gros an Möglichkeiten den kreativen Werkprozess, die Motivgestaltung, die Rezeptionsmodelle und die Psyche und Intentionen der handelnden Personen zu deuten.
Im Verlauf dieser Arbeit werde ich zunächst die Parallelen in den Vitae von Arthur Schnitzler und Sigmund Freud gegenüberstellen, da hier signifikante Wechselwirkungen in der Entstehung des Inneren Monologs in der Novelle Lieutenant Gustl liegen. Ich werde den Inneren Monolog genauer bezüglich seiner Einflüsse aus der Literatur untersuchen und aufzeigen, wie die Erzähltechnik den Bewusstseinsstrom transportiert, um schließlich darauf zurückzukommen, inwieweit die Psychoanalyse Sigmund Freuds Schnitzler inspiriert hat. Kernstück dieser Hausarbeit wird der Versuch einer psychoanalytisch inspirierten Interpretation des Charakters Gustls und der Suche nach einer durch die Theorien Freuds beeinflusster Motivgestaltung in der Novelle sein. Es wird ferner die Frage aufgeworfen, ob es sich bei Gustl um einen im Grunde harmlosen, nur durch Standesvorurteile verwirrten, einfältigen, jungen Mann handelt, oder ob sein Seelenleben durch Ausbrüche von unkontrollierten Affekten bereits pathologische Dimensionen aufweist.
II. Schnitzler und Freud
II.I Parallelen der Vitae
Welche Modelle hatten einen größeren Einfluss auf die denkende Elite zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die psychoanalytischen Sigmund Freuds? Schnitzlers Gustl gehört zu den allerersten Figuren der Weltliteratur, die „freudianisch“ konzipiert wurde.1 Ähnlich wie Freud lenkte Schnitzler den Blick auf den Menschen von außen nach innen, auf die Seelenzustände, seine unbewussten Triebregungen, Wünsche und Phantasien. Um das Verhältnis zwischen Freud und Schnitzler besser zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass ihre Vitae eine Vielzahl an Parallelen aufweisen. „In some respects I am the double of Professor Freud“, bekannte Arthur Schnitzler in dem 1930 erschienenen Interview mit dem deutsch-amerikanischen Journalisten George S. Viereck. Nicht nur in der heutigen Schnitzler Forschung, auch bei zeitgenössischen Beobachtern wie dem Freud-Schüler Theodor Reik und dem Prager Germanisten Josef Körner galten die Beiden als Art Doppelgänger. Obwohl beide ihre Arbeiten gegenseitigen kontinuierlich verfolgten und wechselseitig kommentierten, lieferte die vielfach zitierte „Doppelgängerscheu“, die Freud dem Dichter in einem Brief bekundete, den Grund dafür, dass es bis circa 1922 praktisch keinen persönlichen Austausch und danach auch nur sporadische Begegnungen gab.
Die Beiden absolvierten im Abstand von sechs Jahren eine identische medizinische Ausbildung bei denselben Professoren, wie den Wiener Medizin-Kapazitäten Ernst Brücke und Theodor Meynert. Beide hatten den gleichen sozialen und kulturellen Hintergrund, es gab gemeinsame Bekannte und familiäre Schnittstellen. Auch die Skepsis gegenüber der Schulmedizin und der Gebrauch der Hypnose verbanden sie. So veröffentlichte Schnitzler 1889, also sechs Jahre vor dem Erscheinen der HysterieStudien Freuds und Breuers, seine Dissertation Ü ber funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Suggestion. Das rege Interesse Schnitzlers an der Modeerkrankung der Hysterie sollte einen zentralen Einfluss auf die Charakterkonzeptionen in seinen Werken um 1900 haben.2
II.II Hypnoseexperimente
Bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bekundete Schnitzler ein explizites Interesse an der wissenschaftlichen Tätigkeit Freuds. Schon als junger Arzt rezipierte Schnitzler aufmerksam die psychiatrischen Diskurse und Übersetzungsarbeiten des vor- analytischen Freud.
„Ich verzichtete also auf den Somnabolismus und machte die ganze Analyse mit ihr in einem Zustand durch, der sich vom normalen vielleicht überhaupt wenig unterschied“3, schrieb Freud über eine Fallgeschichte in den Studienüber Hysterie, die er 1895 gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichte und gestand sich damit erstmalige Gefühle des Versagens hinsichtlich seiner Fähigkeiten als Hypnotiseur ein. In einem Akt der Kompensation interpretierte er sein Scheitern als Hypnotiseur als kreativen Ausgangspunkt seiner Gesprächstherapie. Die Aufforderung an den Patienten, er solle jetzt schlafen, blieb vielfach erfolglos und so führte dies zu zunehmend peinlichen Situationen, wie er später zugeben musste. Er musste zugeben, dass Gesetz den Fall, es ließen sich nur diejenigen behandeln lassen, die er zuvor in Hypnose versetzen konnte, sein Patientenkreis zunehmend schrumpfe.4 Daher gelangte er bei der ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, dem Fall Frl. Elisabeth v. R. „zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewusst einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials, welches wir gerne mit der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegten.“5
Auch Arthur Schnitzler beschäftigte sich ab etwa 1886, während seiner Zeit als Assistenzarzt an der Wiener Poliklinik, intensiv mit dem Phänomen der Hypnose und führte seinerseits viele Experimente durch. Er veranstaltete Schauhypnosen und gestand: „Anregender […] war es, wenn ich mein Medium im hypnotischen Zustand allerlei Situationen und Empfindungen durchleben ließ, wie es mir eben beliebte, sie zu erfinden […]“6 Obwohl Schnitzler wohl ein deutlich besserer Hypnotiseur als Freud war, wirklich zufrieden war er mit seinen Ergebnissen nicht.7 Nach den zum Leidwesen der beiden Medizinern nicht zur völligen Perfektion gereiften Hypnoseexperimenten, wandte sich Schnitzler zunehmend der Dichtkunst zu, während Freud die Entwicklung der Gesprächsanalyse vorantrieb. Da Freud nur Zugang zu einer begrenzten Anzahl an Patienten durch Hypnose fand, begab er sich auf die Suche, die unbewussten Triebregungen seiner Patienten auf eine andere Weise zum Vorschein zu bringen. Er sah sich mit der Situation konfrontiert, dass seine Patienten, nach der näheren Ursache ihrer psychischen Probleme befragt, keine oder nur unzureichende Antwort gaben. Den Grund dafür erkannte Freud in einem unbewussten Widerstand, dem sogenannten Assoziationswiderstand, der gemindert wurde, je ungezwungener und freier sich der Patient fühlte. Dies gelang ihm, indem er in seinen Gesprächen unmotivierte Gedankenketten formulieren ließ; der Patient sollte locker darauf los reden, was ihm gerade durch den Kopf ging. Auf diese Weise konnten okkulte Triebregungen und Affekte zum Vorschein kommen - eine Tür zum Unbewussten war geöffnet.8
Dass seine hypnotischen Experimente und der Beginn seiner literarischen Karriere eng miteinander verbunden waren, ja sich gegenseitig bedingten, war Schnitzler durchaus bewusst. Jedoch war die literarische Verarbeitung seiner Hypnoseexperimente nicht sein finales Ziel. Während Freud den Assoziationswiderstand seiner nicht- hypnotisierbaren Patienten durch die Gesprächsanalyse zu brechen versuchte, suchte Schnitzler eine literarische Lösung, die eine assoziierende Gedankenrede seines Protagonisten möglich machte. Wie im Idealfall einer geglückten Hypnose, denkt das Medium unzensiert, von der Kontrolle des eigenen Ich und gesellschaftlichen Konventionen befreit, entlang strategisch gesetzter Assoziationsbrücken vor sich hin, als ob es auf die Fragen des Therapeuten antwortet und dargebotene Assoziationshilfen weiterspinnt.9 Schnitzler, der Autor, kann anders als Schnitzler, der Arzt, seine Figur gewissermaßen jederzeit in Hypnose versetzen, so dass sie ihre Gedanken offenbart. Er zeigt Gustls Wahrnehmung und Gedanken unvermittelt aus dessen inneren Perspektive und versetzt den Leser in die Rolle des Therapeuten, der liest, wo Gustls Gedanken „von dem Assoziationsverkehre mit dem übrigen Bewußtseinsinhalt abgesperrt sind.“10
III. Der Innere Monolog
III.I Literarische Vorbilder
Obwohl erst die von Freud konzipierten Techniken der neuen Gesprächsanalyse den Anstoß, den Monolog ebenso zu verfassen, wie der freie Assoziationsverkehr in Freuds Gesprächssitzungen verlief, gaben, gelten gemeinhin literarische Werke als Vorbild.
Arthur Schnitzler war der erste Autor, der den inneren Monolog konsequent als literarische Technik im Deutschen zum Einsatz bringt. Der Begriff des Inneren Monologs taucht jedoch schon 1845 in Vingt ans apr è s bei Alexandre Dumas dem Älteren (1802-1870) auf (Monologue Intérieure). Der Fachbegriff Monologue Intérieure etabliert sich jedoch erst 1930/31 in einer literaturwissenschaftlichen Studie des damals 70-jährigen französischen Schriftstellers Edouard Dujardin (1861-1949). Er deklariert seine eigene Erzählung Les lauriers sont coup é s (Die Lorbeerbäume sind geschnitten) aus dem Jahr 1888 als Gründungstext für diese neuartige Erzählweise. Schnitzler las diesen Roman nachweislich im Oktober 1898. Dies belegt ein Brief an den dänischen Literaturkritiker Georg Brandes:11
„Ich freue mich, dass Sie die Novelle vom Leutnant Gustl amüsiert hat. Eine Novelle von Dostojewski, Krotaja, die ich nicht kenne, soll die gleiche Technik des Gedankenmonologs aufweisen. Mir aber wurde der erste Anlaß zu der Form durch eine Geschichte von Dujardin gegeben, betitelt les lauriers sont coupés. Nur dass dieser Autor für seine Form nicht den rechten Stoff zu finden wusste.“12
Eben diese Technik, wie der Einfluss des Schriftstellers und Literaturkritikers Hermann Bahr (1863-1934), der oft das Sprachrohr des Jungen Wien genannt wurde, nahm Schnitzler als Vorbild, die bereits bestehende Idee zum Plot des Lieutenant Gustl, stilistisch adäquat umzusetzen. Bahr kommentierte und beobachtete scharfsinnig in seinen Essays die kontemporäre Literatur um 1900. In seinem vielbeachteten, 1891 erschienen Essayband Die Ü berwindung des Naturalismus nimmt Bahr Schnitzler theoretisch die Neuerung des durchgehenden Inneren Monologs vorweg. Er forderte das, was auch Schnitzler sich eine knappe Dekade später zum Leitspruch machte und entwickelte das Modell der Neuen Psychologie (Essay von 1890), die im Gegensatz zur alten Psychologie keine Kopplung des Seelenlebens an das Bewusstsein vorsieht. So sollten seelische Phänomene in einem rohen und unverarbeiteten Zustand offenbart werden, noch bevor eine Filterung der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion erfolgen kann.
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1 Vgl. Fliedl, Konztanze [Hrsg.]: Schnitzler, Arthur: Lieutenant Gustl. Stuttgart 2009, S. 82. Im Folgenden LG.
2 Vgl. Pfohlmann, Oliver: Arthur Schnitzler, in Anz, Thomas u. Pfohlmann, Oliver [Hrsg.]: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Eine Dokumentation. Marburg 2006, S. 129.
3 Breuer, Josef u. Freud, Sigmund: Studienüber Hysterie. Frankfurt/ Main 1991, S. 126.
4 Vgl. Polt-Heinzl, Evelyn: Leutnant Gustl - Vom freien Assoziationsverkehr, in: Polt-Heinzl, Evelyn u. Steinlechner, Gisela: Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte. Wien 2006, S.85.
5 Freud/Breuer: Studienüber Hysterie, S.157.
6 Nickl, Therese u. Schnitzler, Heinrich [Hrsg.]: Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Frankfurt/ Main 1981, S. 313.
7 Vgl. Polt-Heinzl: Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte, S.88.
8 Vgl. Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt/ Main 1972, S. 9.
9 Vgl. Polt-Heinzl: Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte, S. 89.
10 Ebenda, S. 90.
11 Vgl. Renner, Ursula [Hrsg.]: Arthur Schnitzler. Lieutenant Gustl. Frankfurt/ Main 2007, S. 103.
12 Polt-Heinzl, Evelyn [Hrsg.]: Arthur Schnitzler. Lieutenant Gustl. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2009, S. 36.