Artauds Schilderung der Pestzustände beruft sich auf keine direkten, geschichtlichen Quellen. Dass die Pest einen generellen Anarchiezustand, einen totalen Zusammenbruch der gesellschaftlichen und individuellen Ordnungen verursacht, ist zunächst Fiktion. Daniel Defoe beschreibt in „A Journal of the Plague Year“ anhand geschichtlicher Quellen die große Londoner Pest von 1665, die er als fünfjähriger miterlebt hat. Bei dieser Schilderung ist festzustellen, daß es (in diesem Fall) nie zu einem totalen Zusammenbruch der Ordnung gekommen ist. Bei früheren Pestepidemien mag es Zustände, wie von Artaud geschildert, gegeben haben, doch das sind Vorstellungen, zu denen es für uns wie für Artaud keine genauen Quellen gibt.
Aber auch Foucaults politische Vorstellung einer lückenlos disziplinierten und überwachten Pestgesellschaft scheint real nicht existiert zu haben, und Foucault bietet uns keine Quelle ihrer Realisierung. Die Marseille Pest konnte 1720 (nach dem erscheinen des von Foucault zitierten Reglements) die südfranzösische Bevölkerung um ein Drittel dezimieren, was eine auch nur annähernde Realisierung der gewünschten Ordnungsstrategien unmöglich erscheinen läßt. Als 1994 in Indien die Pest ausbrach, berichtete die ( trotz der heutzutage geringen Gefahr weltweit stark reagierende) Presse, daß Ärzte ihre Praxis verließen, Krankenschwestern die Krankenhäuser, die Stadtverwaltung war „praktisch nicht mehr existierend“.
Eine paramilitärische Polizeitruppe durchsuchte die westindische Stadt Surat, das Zentrum der Seuche, nach Kranken, um sie zwangsbehandeln zu lassen. Vor den größten Kliniken waren Wachen postiert, um die Flucht von Kranken zu verhindern. Trotzdem verschwanden von 300 eingelieferten Patienten 60. Insgesamt sollen aus Surat 400 000 Menschen geflohen sein.
Natürlich finden sich beide Vorstellungen - Zusammenbruch der alltäglichen Ordnung - Parzellierung und Überwachung der Individuen - ansatzweise in Pestschilderungen (z.B. Defoe) wieder, doch nicht in ihren Vollendungen. Folglich handelt es sich um zwei Fiktionen, deren Inhalte sich konträr widersprechen. Im Folgenden will ich die Beziehungen dieser Fiktionen und die Beweggründe ihrer Formulierung untersuchen, um dann Artaud und seinen Text „Le Theatre et la Peste“ unter Einbeziehung von Foucaults Vorstellungen zu betrachten.
Inhaltsverzeichnis
- Zwei Träume
- Warum die Pest?
- Zwei Mächte
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die beiden Visionen der Pest in Antonin Artauds "Das Theater und die Pest" und Michel Foucaults "Überwachen und Strafen". Der Text analysiert die Beziehungen dieser beiden konträren Fiktionen und erforscht die Beweggründe ihrer Formulierung. Die Arbeit beschäftigt sich mit den Ursachen und Auswirkungen der Pest als gesellschaftlichem Ausnahmezustand und analysiert, wie Artauds Theaterbegriff und Foucaults Konzept der Disziplinargesellschaft in diesem Kontext zum Ausdruck kommen.
- Die Pest als gesellschaftlicher Ausnahmezustand
- Artauds Theaterbegriff und die Pest
- Foucaults Konzept der Disziplinargesellschaft und die Pest
- Die Rolle der Macht in der Pest
- Die Bedeutung der Metaphysik in Artauds Werk
Zusammenfassung der Kapitel
Zwei Träume
Der Text beginnt mit der Vorstellung von zwei gegensätzlichen Visionen der Pest: Artauds chaotische Vorstellung des Zusammenbruchs der Ordnung und Foucaults Vision einer disziplinierten und überwachten Pestgesellschaft. Die Arbeit stellt fest, dass beide Visionen zwar nicht auf realen Ereignissen basieren, aber dennoch wichtige Einblicke in die menschliche Reaktion auf die Pest bieten.
Warum die Pest?
Dieses Kapitel befasst sich mit der Frage, warum die Pest immer wieder als Thema in Literatur, Philosophie und Theorie dient. Die Pest wird als Symbol für einen kollektiven Ausnahmezustand betrachtet, der nicht rational zu erklären ist. Die Arbeit analysiert die einzigartigen Aspekte der Pest, wie die Nichterklärbarkeit, die Machtlosigkeit und die Vermischung von Individuen, die sie von anderen Krisen unterscheiden.
Zwei Mächte
Das letzte Kapitel untersucht die Vorstellung, dass sich während der Pest verborgene Mächte offenbaren, die die menschliche Machtlosigkeit für ihre Zwecke nutzen. Artauds Sichtweise wird beleuchtet, die die Pest als Werkzeug einer höheren Macht betrachtet. Die Arbeit analysiert die metaphysischen Aspekte in Artauds Werk und untersucht, wie sie mit Foucaults Konzept der Macht zusammenhängen.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter dieser Arbeit sind: Pest, Theater, Disziplinargesellschaft, Macht, Metaphysik, Antonin Artaud, Michel Foucault, Ausnahmezustand, Chaos, Ordnung, Überwachung, Kontrolle, Individuum, Gesellschaft.
- Arbeit zitieren
- Magister Heiko Michels (Autor:in), 2000, Pestvisionen. Über Machtprinzipien, ihre Beziehungen und möglichen Konsequenzen in Antonin Artauds "Das Theater und die Pest" und Michel Foucaults "Überwachen und Strafen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/340751