Das Problem des Bösen ist vielschichtiger Natur, und dementsprechend unterschiedlich fallen die Vorgehensweisen bei seiner Bestimmung aus. Die erste und gemeinsame Frage aller Versuche, das Böse zu ergründen, ist die nach seiner Realität. Ist das Böse nur das Nichtvorhandensein des Guten oder existiert eine metaphysische Dualität, bei der sich das Gute und das Böse als wirkende Mächte gegenüberstehen? Diese Frage ist es, an die sich in mannigfachsten Ausführungen Hypothesen und Modelle anknüpfen, wobei die Annahme der einen oder der anderen Seite Grundpfeiler jeder Argumentation ist. Bei der Vorgehensweise bietet sich an, entweder von einer angenommenen Tatsache auf der Second Order ausgehend auf eine Wirkung in der First Order zu schließen oder von einer in der First Order angestellten Beobachtung auf deren kausalen Grund in der Second Order. Beide Arten der Betrachtung haben zum Ziel, eine Metaphysik des Bösen zu beschreiben oder zu widerlegen, sofern die Ansprüche philosophischer, also wissenschaftlicher Natur sind. Letztlich wird jedoch die eigentliche Frage nach dem Bösen durch Verallgemeinerung und das Entwickeln von Lehrsätzen nicht beantwortet, der letzte Konflikt mit ihm vermieden . So laufen in letzter Konsequenz viele klassische Ansätze, wie die Platons oder Aristoteles′ auf die Bezeichnung des Bösen mit der Privation des Guten hinaus . Aus einer anderen Richtung, nämlich der der Mystiker, vor allem der Mystiker der jüdischen- christlichen Einflußsphäre, kommt der Gedanke, zunächst das Leid in der Welt als Gegebenheit zu betrachten, die unmöglich auf einen Mangel zurückzuführen ist, sondern auf die Einwirkung einer antischöpferischen Macht. Der Ausgangspunkt der so an das Problem des Bösen Herangehenden ist der, daß die Welt an sich vollkommen ist, daß also der Mangel keines ihrer Attribute sein kann, und das Böse, verkörpert durch das Leid, in irgend einer Form die Vollkommenheit der Welt in Frage stellt.
Aus der Sicht des Mystikers ist die von der Wissenschaft geforderte Objektivität unerreichbar, denn nur im Gebet und der Versenkung, sowie in der intensiven Auseinandersetzung mit den Fragen der Welt ist Erkenntnis im Sinne einer Erleuchtung zu erlangen, und aus diesem Zustand der Erleuchtung heraus ist es erst möglich, eine objektiv erklärbare Welt zu verkünden.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Die Prinzipien der Welt
1.1. Am Anfang war das Wort
1.2 Der Baum Sefirot
1.3 Quellen des Bösen
2. Die Urbilder des Bösen
2.1 Der Sündenfall
2.2 Kains Mord
2.3 Der gefallene Engel
2.4 Der strenge Prüfer
3. Das Böse und Die Schöpfung
3.1 En-Sof und Zimzum
3.2 Der Bruch der Gefäße
3.3 Die Sehnsucht der Schöpfung
Die Schöpfung des Nichts
Die Kabbala und das Böse
0. Einleitung
Das Problem des Bösen ist vielschichtiger Natur, und dementsprechend unterschiedlich fallen die Vorgehensweisen bei seiner Bestimmung aus. Die erste und gemeinsame Frage aller Versuche, das Böse zu ergründen, ist die nach seiner Realität. Ist das Böse nur das Nichtvorhandensein des Guten oder existiert eine metaphysische Dualität, bei der sich das Gute und das Böse als wirkende Mächte gegenüberstehen? Diese Frage ist es, an die sich in mannigfachsten Ausführungen Hypothesen und Modelle anknüpfen, wobei die Annahme der einen oder der anderen Seite Grundpfeiler jeder Argumentation ist. Bei der Vorgehensweise bietet sich an, entweder von einer angenommenen Tatsache auf der Second Order ausgehend auf eine Wirkung in der First Order zu schließen oder von einer in der First Order angestellten Beobachtung auf deren kausalen Grund in der Second Order. Beide Arten der Betrachtung haben zum Ziel, eine Metaphysik des Bösen zu beschreiben oder zu widerlegen, sofern die Ansprüche philosophischer, also wissenschaftlicher Natur sind. Letztlich wird jedoch die eigentliche Frage nach dem Bösen durch Verallgemeinerung und das Entwickeln von Lehrsätzen nicht beantwortet, der letzte Konflikt mit ihm vermieden[1]. So laufen in letzter Konsequenz viele klassische Ansätze, wie die Platons oder Aristoteles’ auf die Bezeichnung des Bösen mit der Privation des Guten hinaus[2]. Aus einer anderen Richtung, nämlich der der Mystiker, vor allem der Mystiker der jüdischen- christlichen Einflußsphäre, kommt der Gedanke, zunächst das Leid in der Welt als Gegebenheit zu betrachten, die unmöglich auf einen Mangel zurückzuführen ist, sondern auf die Einwirkung einer anti-schöpferischen Macht. Der Ausgangspunkt der so an das Problem des Bösen Herangehenden ist der, daß die Welt an sich vollkommen ist, daß also der Mangel keines ihrer Attribute sein kann, und das Böse, verkörpert durch das Leid, in irgend einer Form die Vollkommenheit der Welt in Frage stellt. Gerade Mystiker der jüdischen Tradition gehen in allen ihren Annahmen der Welt davon aus, daß der Ursprung der Welt eine “vollkommen gelungenen Schöpfung[3] “ ist, diese aber durch das Inerscheinungtreten des Bösen aus dem Gleichgewicht gestoßen wurde. Dieser Ansatz verfolgt weniger philosophisch- wissenschaftliches Interesse als das einer Theodizee oder, auf die Ebene des Einzelnen gebracht, einer subjektiven, erleuchtungshaften Erkenntnis. Trotzdem oder gerade deshalb ist die Schlüssigkeit dieser Argumentation sehr dicht. Sie versucht nicht die Abgehobenheit einer Intersubjektivität zur Plattform der Betrachtung des Bösen zu machen, sondern geht von der absolut elementarsten Stufe der First Order aus, dem subjektiven Erleben, das als einzige Perspektive das Böse in seiner ganzen Dimension zu beleuchten vermag. Hier lauern die mythischen Figuren des Schreckens in den Ängsten des Einzelnen, und ihre Existenz ist es, die die Realität des Bösen weit über die Grenzen einer menschlichen Konstruktion im Sinne eines moralischen Gefüges zwingend macht. Aus der Sicht des Mystikers ist die von der Wissenschaft geforderte Objektivität unerreichbar, denn nur im Gebet und der Versenkung, sowie in der intensiven Auseinandersetzung mit den Fragen der Welt ist Erkenntnis im Sinne einer Erleuchtung zu erlangen, und aus diesem Zustand der Erleuchtung heraus ist es erst möglich, eine objektiv erklärbare Welt zu verkünden.
1. Die Prinzipien der Welt
1.1. Am Anfang war das Wort
Nachdem von den Mystikern die Feststellung getroffen wurde, daß das Böse existiert, und objektivistische Weltsichten diese Tatsachen weder erklären noch hinterfragen können, ergibt sich zwangsläufig die nächste Frage, nämlich nach dem Woher. Wie oben beschrieben ist die am wenigsten zu leugnende Erscheinungsform des Bösen das Leid. Das Leid existiert. Und mit ihm existiert für den Mystiker die Gewißheit einer destruktiven Macht, die es erzeugt oder aus der es entsteht. Nur bleibt die Frage, ob die Menschen ihr Leid selbst verschuldet haben, ob sie die volle Verantwortung für ihre Taten tragen, oder ob es der Willkür oder Gesetzmäßigkeit jener destruktiven Macht obliegt, oder gar Gott selbst, in für menschliches Ermessen nicht nachvollziehbarer Weise Leiden zuzuteilen[4]. Es gilt also drei Arten des Bösen zu bestimmen. Das physisch Böse, in Form des Leidens auf der Welt, das metaphysisch Böse, das das Leiden auf der Welt ermöglicht und das moralisch Böse in den menschliche Handlungen[5]. Auch hier zeigt sich die Unmöglichkeit einer rein philosophische Bestimmung der Gesamtheit des Bösen, da sich das Problem des Bösen für die Wissenschaft auf einen moralischen oder gar sozio-ethnologischen Begriff beschränken muß, alles andere würde auf Anthropomorphismen hinauslaufen, da die Natur in ihrem Wirken nicht wissenschaftlich wertbar ist. Dies ist jedoch im Sinne der Mystik, besonders der jüdischen Mystik unwahr, denn die Welt als Schöpfung Gottes ist metaphorischer Natur. Was in der Welt jedoch Metapher, ist bei Gott absolute Realität[6]. Was die Welt des Menschen von der Welt Gottes unterscheidet, ist die Materie, die als Ort, an den die Welt durch die Sünde gelangt ist, die äußere Hülle alles Widergöttlichen ist.
Die Kabbala ist eine der jüdischen Mystik entstammende Geheimlehre, deren hauptsächliches Bestreben das Verständnis des Wesens Gottes (Merkaba) und der Schöpfung (Bescherit) darstellt. Daneben gibt es Zweige der „praktischen Kabbala“, die sich einerseits mit den Permutations- und Kombinationsmöglichkeiten von Buchstaben und Zahlen beschäftigen, oder andererseits mit der tatsächlichen Anwendung der in der „theoretischen Kabbala“ geschöpften Erkenntnisse[7]. Letztgenannte Art der Kabbala werde ich nicht weiter behandeln, auf Erstgenannte komme ich weiter unten zu sprechen.
Das Wort Kabbala bedeutet soviel wie Tradition, was sich aber zum größeren Teil auf die einheitliche Vorgehensweise und innere Verbundenheit der Kabbalisten als auf ihre gemeinsamen Erkenntnisse bezieht. Das Wesen der Kabbala ist komplex, einerseits durch den Charakter ihrer in kontemplativer Versenkung erreichten Erkenntnis, und andererseits durch die Vielzahl ihrer Strömungen. Die frühesten kabbalistischen Texte gehen bis ins 2.Jahrhundert zurück, ihre Blütezeit erlebte die kabbalistische Tradition im 16. Jahrhundert mit den hochspekulativen Texten Isaak Lurias[8]. Die Kabbalisten verquicken in ihrer Lehre philosophische Ansichten mit mystischer Versenkung, beziehen sich in ihrem philosophischen Teil etwa auf aristotelische und neuplatonische Quellen. Einer der bedeutendsten Kabbalisten der frühesten Zeit ist wohl Maimonides, der in seinem "Führer der Verirrten“ die Vorgehensweise der Kabbalisten anzeigt, nämlich das Verbinden philosophischer Erkenntnis mit mystischer Erleuchtung und zwar zum Großteil auf dem Wege der Deutung von Mythen, und der Bibel, wenngleich das Bestreben der Mystiker war, den die Mythen prägenden Pantheismus zu widerlegen[9]. In meiner Arbeit beziehe ich mich vor allem auf Texte Isaak Lurias (1534-1572) sowie den Sefer Jezirah (Buch der Schöpfung) aus dem 7.Jahrhundert und den Sefer Sohar (Buch des Glanzes), einem kanonischen Text, dessen Hauptteil aus dem 14. Jahrhundert stammt, aber Texte bis aus dem 2.Jahrhundert enthält. Diese Bücher enthalten meiner Ansicht nach die wichtigsten Strömungen der kabbalistischen Betrachtungen des Bösen, die sich zwar im Einzelnen oft zu widersprechen scheinen, in letzter Konsequenz aber ein vielschichtiges, umfassendes Bild ergeben.
Nach Ansicht der frühen Kabbalisten - und diese Annahmen gelten als Ausgangspunkt der Kabbala - ist die Welt nicht durch einen klassischen Schöpfungsakt Gottes entstanden, sondern durch sein gesprochenes Wort. Die Schöpfung ist also zunächst ein sprachliches Produkt, also die wohl erste Manifestation der Idee. Die Sprache Gottes ist das Hebräische, jedenfalls sind die auf natürliche Weise aussprechbaren Urlaute exakt die Laute der hebräischen Sprache, und auch ihre Buchstaben entsprechen der Schöpfersprache Gottes, von der alle anderen menschlichen Sprachen abgeleitet sind. Gottes Sprache besteht aus den 22 Buchstaben des Hebräischen und seine Schöpfungsakte sind in der Tora, den biblischen fünf Büchern Moses niedergeschrieben. In diesen fünf Büchern, dem Pentateuch, ist Gottes Plan von der Welt bis ins kleinste Detail niedergeschrieben. Kein einziger Buchstabe ist überflüssig und in jedem einzelnen von ihnen liegt die Gottes Schöpferkraft. Lediglich in der bestehenden Zusammensetzung der Worte ergibt sich ein endlicher Sinn, der von kaum mehr als der historischen Bedeutung seines Inhalts ist. Durch Permutationen, die durch die vokallose Schreibweise des Hebräischen extrem begünstigt wird, besteht die Möglichkeit mit Gottes Wille hinter das Geheimnis der Tora zu gelangen, damit den Weltenplan zu entschlüsseln und letztlich den Namen der verborgenen Gottheit, der den ersten und grundlegenden Schöpfungsakt darstellt, zu finden[10]. Diese „ewige Tora“ wird der Überlieferung nach mit Ankunft des Messias, also dem Erlöser des Menschen aus der Knechtschaft der Materie, von Gott entschlüsselt werden[11].
In der Kabbala findet sich eine enge Verbindung zwischen Wort und Zahl. Zahlen werden im Hebräischen durch Buchstaben ausgedrückt, was den Schritt nahelegt, jedem Buchstaben einen bestimmten Zahlenwert zuzuordnen, was einerseits den Buchstaben eine Rangfolge einräumt, andererseits die Zahlen mit bestimmten Qualitäten ausstattet. Die Kabbalisten bedienen sich verschiedener Techniken, Buchstaben- und Zahlenverbindungen aufeinander zu beziehen[12]. Auf diese Weise lassen sich Worte ganz unabhängig von ihrer Semantik in einen zahlenmäßigen Kontext stellen, wobei zum Teil erstaunliche, nach kabbalistischer Ansicht aber niemals zufällige Querverbindungen, herbeigeführt etwa durch die Bildung der Quersummen, ergeben. Das hebräische Wort für Messias hat denselben Wert wie das Wort Schlange, was von vielen Kabbalisten als untrennbaren Zusammenhang zwischen Fall und Wiederaufstieg des Menschen angesehen wird[13]. Hier kommen wir auf ein entscheidendes, sich durch die gesamte Kabbala fortsetzendes, Gebilde, das die Prinzipien der Welt in Worten, Zahlen und Geometrie ausdrückt.
1.2 Der Baum Sefirot
Unser[14] dezimales Zahlensystem, so die Kabbalisten, ist nicht zufällig entstanden, sondern hat seinen tiefen Ursprung in den zehn „Emanationen“ oder Attributen Gottes. Gott hat sich in seinem Schöpfungsakt in zehn Wirkungsweisen, die in jeder geschöpften Entität vorhanden sind, offenbart. Diese sind, nach streng kabbalistischer Auffassung zehn Namen Gottes[15], können aber auch im Hinblick auf die Antiken Bezüge der gesamten Kabbala als zehn Logoi aufgefaßt werden. Die Kabbala geht, in immer wieder veränderter Form, seit der Festlegung im Sohar von einer bestimmten Anordnung der zehn Zahlen (Sefirot) und der sie verbinden 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets aus, die im allgemeinen Baum Sefirot genannt wird. Der Baum Sefirot stellt eine universelle Weltkonstruktion dar, die aus einer Vielzahl von Aspekten betrachtet werden kann. Grundsätzlich finden sich in verschiedensten Kulturen und mystischen Systemen Analogien zum Baum des Lebens. So sind etwa die 22 Verbindungswege zwischen den einzelnen Sefirot analog in den 22 Hofkarten des Tarot zu finden, oder die zehn Sefirot in den zehn Planeten unseres Sonnensystems.
[...]
[1] vgl. jMH 38
[2] vgl. mGG 51
[3] Maier 256
[4] vgl. mGG 52
[5] vgl. jMH 257
[6] vgl. jMH 225
[7] siehe auch Papus
[8] vgl. jMH 24
[9] vgl. jMH 41; interessant ist hierzu auch das Kapitel 2 in Weinrebs „Traumleben“, wo der Monotheismus den Pantheismus gewissermaßen in sich birgt.
[10] vgl. jMH 229
[11] vgl. Eco 38ff.
[12] vgl. Papus 20
[13] vgl. Weinreb 44
[14] in meinen Ausführungen beziehe ich mich auf Papus, sowie auf das Kapitel 6 in jMH
[15] Maier 49
- Arbeit zitieren
- Vajk Zelles (Autor:in), 1997, Die Schöpfung des Nichts - die Kabbalah und das Böse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3418