Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Strindberg und die Frauenfrage
2. Merkmale des Naturalismus in „Fräulein Julie“
3.1. Welche Gründe führen zu Julies Fall?
3.1.1. Der Einfluss der Mutter
3.1.2. Der Einfluss des Vaters
3.1.3. Gleichheit der Menschen
3.1.4. Schlussfolgerung
3.2. Wie wirken sich die Grundlagen von Julies Psyche auf den Verlauf der Handlung aus?
3.2.1. Teil 1: „Vor dem Fall“
3.2.2. Teil 2: „Nach dem Fall“
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Im vorliegenden Drama habe ich nicht versucht, etwas Neues zu schaffen, denn das kann man nicht. Ich habe nur die Form entsprechend den Anforderungen modernisiert, die meiner Meinung nach der neue Mensch an die Kunst stellen wird. Und zu diesem Zweck habe ich ein Motiv gewählt – oder mich von ihm fesseln lassen -, von dem es heißt, dass es außerhalb der aktuellen Parteikämpfe liegt, weil das Problem des sozialen Aufstiegs oder Falls, die Frage nach höher oder niedriger, nach besser oder schlechter, nach Mann oder Frau von Interesse war, ist und immer sein wird.“[1]
Dieser Kommentar Strindbergs aus seinem Vorwort zu „Fräulein Julie – Ein naturalistisches Trauerspiel“ beschreibt die gesamte Problematik, die er in seinem Stück behandelt. Das 1888 verfasste Stück erregte aufgrund seiner Thematik zunächst großes Aufsehen und Kritik. So wurde eine Aufführung in seinem Heimatland von der dänischen Zensur verhindert, welche das Stück als unsittlich bewertete und es kam erst sechzehn Jahre später zu einer Premiere in Schweden. In der Tat war das Stück seiner Zeit voraus, denn die Gesellschaft war noch nicht bereit dazu, sich mit der Thematik des Stückes in derartiger Art und Weise auseinander zu setzen. Betrachtet man den Inhalt des Stückes, scheint die anfängliche Ablehnung geradezu bezeichnend für Strindbergs gesellschaftskritisches Drama. Handelt es doch von einer Grafentochter, welche an den gerade erst aufkeimenden neuen Ideologien ihrer Zeit zugrunde geht. Sie zerbricht an Theorien, die noch in einem Widerspruch zur damaligen gesellschaftlichen Situation standen und somit als unausgereift bzw. als verfrüht zum Einsatz gekommen bezeichnet werden könnten. Fräulein Julie, die Tochter eines Grafen, verbringt die Mittsommernacht in der Küche des gräflichen Anwesens mit den Bediensteten. Im Laufe der Nacht entwickelt sich zwischen Julie und Jean, dem Diener des Grafen, eine Beziehung, die schließlich im Geschlechtsakt gipfelt. Die Fragen nach „höher oder niedriger, nach besser oder schlechter, nach Mann oder Frau“ bestimmen den anschließenden Machtkampf der Geschlechter, welcher für Julie tragisch endet.
Strindberg bearbeitet in diesem Drama die in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufgekommenen Theorien über die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft, sowie die Ständeproblematik, welche vor allem auf der Grundlage von Darwins Entwicklungstheorien erörtert wurden. In dieser Arbeit möchte ich untersuchen, welche Gründe zu Julies Fall geführt haben. Dabei werde ich vor allem auf die Aspekte eingehen, die zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung beigetragen haben und die Hintergründe und Motivationen dieser Aspekte untersuchen. Dabei setze ich den Schwerpunkt auf die oben erwähnten neuen Ideologien über die Frauenfrage und die Gleichheit der Menschen.
Zunächst werde ich kurz auf Strindbergs Verhältnis zur Frauenfrage eingehen und eine kurze Einordnung des Stückes zur Strömung des Naturalismus vornehmen. Daran schließt sich der Hauptteil der Arbeit. Den Schwerpunkt bildet die Frage nach den psychischen Motivationen die zu Julies Entwicklung geführt haben, die ich anschließend am Handlungsverlauf des Stückes ausführen und erläutern werde. Den übergreifenden Leitfaden bildet die Frage, ob die von Strindberg angegebenen Gründe die zu Julies Charakterbildung geführt haben und ihr Handeln erklären sollen, plausibel sind.
1. Strindberg und die Frauenfrage
August Strindberg „war wenigstens bis zum Jahr 1884, in dem sein Band Ehegeschichten1 herauskam, ein Verfechter der Rechte der Frau und machte darin Vorschläge, die zur Gleichberechtigung der Frauen führen sollten.“[2] In seinem Vorwort zu „Fräulein Julie“ bezeichnet er die Frau allerdings als die„verkrüppelte Form des Menschen“, die dem Mann nicht ebenbürtig ist und auch nicht sein kann. Weiter schreibt er, dass alle, die diesem „Irrglauben“ verfallen sind, zwangsläufig scheitern müssten, da „eine verkrüppelte Form laut der Fortpflanzungsgesetze immer verkrüppelt geboren wird und nie den einholen kann, der einen Vorsprung hat […]“[3]. Hier wird klar, dass Strindberg – sich auf die darwinistische Theorie stützend – der Ansicht ist, dass die Bestrebungen zu Gleichstellung von Frau und Mann ein „Kampf gegen die Natur“ sei. Auf dieser Grundlage erklärt er auch das Scheitern seiner Protagonistin Julie. Das Stück wird allerdings weniger unter dem Aspekt der Ansichten Strindbergs beleuchtet, sondern ich gehe vom Standpunkt unserer heutigen Gesellschaft aus, welcher den Vorteil hat, den Fortgang der damals beginnenden Entwicklungen zu kennen. Ich möchte hier Strindbergs eigene Argumentation darauf zurückführen, dass er, als Kind seiner Zeit, ebenfalls gewissen Ansichten und Ideologien unterworfen war. Trotzdem halte ich die Argumentation des Stückes für sehr gut ausgearbeitet und die psychischen Faktoren, welche die Charaktere zu ihren Handlungen treiben, für schlüssig, auch – und vor allem – unter Gesichtspunkten, die das Wissen und die Erfahrungen unserer heutigen Zeit des 21. Jahrhunderts mit einbeziehen. In dieser Hinsicht wage ich zu behaupten, dass Strindberg selbst die wirkliche Aktualität seines Stückes gar nicht ermessen konnte und sein Drama somit nicht nur der damaligen Zeit, sondern auch Strindberg selbst weit voraus war.
Strindberg hat mit „Fräulein Julie“ ein Werk geschaffen, dessen Thematik, wie er richtig erkannte, „von Interesse war, ist und immer [jedenfalls in absehbarer Zeit] sein wird.“
2. Merkmale des Naturalismus in „Fräulein Julie“
Ganz im Sinne des Naturalismus beschränkt Strindberg die Personenzahl des Stückes auf drei Charaktere, wobei Julie und Jean die beiden wichtigsten Handlungsträger sind und die Köchin Kristin lediglich eine Nebenrolle inne hat. Zudem lässt Strindberg „den unglücklichen Geist des Vaters“[4] über der gesamten Szenerie schweben, womit dessen allgegenwärtige Präsenz gemeint ist, welche die Charaktere psychisch motiviert und somit von elementarer Bedeutung für den Handlungsablauf ist. Der Handlungsraum ist auf lediglich einen Standort beschränkt, nämlich die Küche des Anwesens, in der die Personen aufeinander treffen und die Tragödie ihren Lauf nimmt. Was die allgemeine Charakterzeichnung betrifft, hat Strindberg seinen Figuren eine Menge von Hintergründen mitgegeben, welche deren Verhalten und vor allem die Motivationen zu den jeweiligen Handlungen erklären. „Jedes Ereignis im Leben […] wird normalerweise von einer ganzen Serie mehr oder weniger tief liegender Motive hervorgerufen“[5] erklärt Strindberg und weist auch darauf hin, dass dies für die damalige Zeit eine ziemlich neue Entdeckung war, weshalb man auch Strindbergs Bezeichnung seiner Figuren als „charakterlos“ mit Hinblick auf die damalige Definition von „Charakter“ betrachten muss. Die Charaktere sind Konstrukte, die sich aus verschiedenen Einflüssen zusammensetzen wie der Erziehung durch die Eltern und dem Stand, in dem sie aufgewachsen sind. Sie sind geprägt durch die Zeit, in der sie Leben, und beeinflusst von unterschiedlichen Ideologien. Es sind „moderne Charaktere“, die in einer Zeit im Wandel aufwachsen. Die Frage nach Stand und gesellschaftlicher Stellung, die Theorie von der Gleichheit der Menschen, sowie die aufkeimende Forderung nach der Gleichstellung von Frau und Mann bilden die spannungsgeladene Hintergrundsituation, vor welcher sich die Geschichte von Jean und Julie abspielt. Strindberg war es enorm wichtig, die Situation, in welche sich Julie und Jean begeben, psychologisch nachvollziehbar zu gestalten, was ihm durch die Erwähnung zahlreicher Hintergründe auch gelungen ist. Auch die Dialogstruktur ist hier von enormer Wichtigkeit. So schafft Strindberg kein durchkomponiertes Frage-Antwort-Spiel, das vor allem dazu diente, die Handlung voranzutreiben; er ist vielmehr darauf bedacht, den Dialog so natürlich wie möglich zu gestalten und ihm eine Struktur zu geben, welche der Struktur eines wirklichen Dialoges folgt. Denn in der Wirklichkeit „springt […] der Dialog, versieht sich in den ersten Szenen mit Material, das später bearbeitet […], aufgegriffen, wiederholt, ausgeweitet [und] präsentiert [wird]“[6]. Zudem hat Strindberg die Akteinteilung gestrichen, um dem Zuschauer keine Möglichkeit zu geben, das bisher Gesehene zu reflektieren und sich der dargestellten Illusion zu entziehen.
Neben diesen bereits genannten gibt es noch weitere Elemente, die „Fräulein Julie“ als naturalistisches Drama kennzeichnen; so gibt Strindberg Hinweise und Empfehlungen zu Masken- und Bühnenbild, Lichtsetzung und schauspielerischer Darstellungsweise, worauf ich hier allerdings nicht näher eingehen möchte.
3.1. Welche Gründe führen zu Julies Fall?
Bevor Julie im Stück überhaupt auftritt, wird sie bereits durch den Diener Jean und die Köchin Kristin eingeführt, die sie mit gewissen charakteristischen Merkmalen versehen. So wird dem Leser bzw. Zuschauer bereits mit dem ersten Satz des Stückes vermittelt, dass das Fräulein „ verrückt, total verrückt !“ (S. 27) sei. Strindberg wird diese Wesensbeschreibung vermutlich nicht umsonst an den Anfang gestellt haben. Es ist also davon auszugehen, dass diese Verrücktheit das wesentliche Merkmal Julies ist. Mit Verrücktheit ist hier wohl weniger eine wirkliche Geistesgestörtheit im pathologischen Sinne gemeint, sondern vielmehr Julies Verhalten und Auftreten, welches nicht dem entspricht, was man von ihr als junger Frau eines höheren Standes erwarten würde. Sie ist in genauem Sinne ver-rückt, befindet sich also innerhalb der Gesellschaft nicht an dem ihr zugewiesenen Platz. Diese Situation ist auf das Bild zurückzuführen, welches Julie selbst von der Gesellschaft hat. Dieses Bild weicht von den bürgerlichen Idealen ihrer Zeit in großem Maße ab, entspricht also nicht der allgemein vorherrschenden Norm und wird somit als verrückt angesehen. Im Laufe des Stückes finden sich immer mehr Informationen, welche erklären, wie Julie zu ihrem verqueren Weltbild gekommen ist. Strindberg fasst diese in seinem Vorwort folgendermaßen zusammen: „Fräulein Julies trauriges Schicksal habe ich mit einer ganzen Reihe von Gründen motiviert: die >schlechten< Grundinstinkte der Mutter; die falsche Erziehung des Mädchens durch den Vater; das eigene Naturell und die Suggestionen des Verlobten, die auf das schwache, degenerierte Gehirn einwirkten;“[7].
Hinzu kommen noch einige situationsbedingte Umstände, die Julies Verhalten in dieser Nacht beeinflussen: die Abwesenheit des Vaters, die allgemeine Festtagsstimmung der Mittsommernacht, die nächtliche Stimmung, der „erhitzende Einfluss des Tanzes“, die aphrodisierende Wirkung der Blumen, der „Umgang mit den Tieren“ (ich nehme an, Strindberg spielt damit auf Julies trächtige Hündin Diana an), ihre Menstruation und „schließlich der Zufall, der die beiden in einem abgelegenen Raum zusammenführt, plus die Aufdringlichkeit des erregten Mannes“[8].
[...]
[1] Strindberg, August. Vorwort zur Erstausgabe. In: Fräulein Julie – Ein naturalistisches Trauerspiel. Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 2003. S. 6.
[2] Ayers, Herlinde Nitsch. Selbstverwirklichung – Selbstverneinung. – Rollenkonflikte im Werk von Hebbel, Ibsen und Strindberg. Peter Lang Publishing, Inc., New York, 1995. S. 4.
[3] Strindberg, August. Vorwort. 2003. S. 11.
[4] Strindberg, August. Vorwort. 2003. S. 16.
[5] Strindberg, August. Vorwort. 2003. S. 8.
[6] Strindberg, August. Vorwort. 2003. S. 16.
[7] Strindberg, August. Vorwort. 2003. S. 8.
[8] Strindberg, August. Vorwort. 2003. S. 8.