Leseprobe
Inhalt
1. Abschrift des zugrundegelegten Textes
2. Analyse des Textes
2.1 Abgrenzung und Kontext
2.2 Gliederung des Textes
2.3 Abgrenzung von Tradition und Redaktion
2.4 Gattungsbestimmung der vormarkinischen Überlieferung
2.5 Begriffsbestimmung bzw. religionsgeschichtliche Analyse
3. Interpretation
3.1 Interpretation der vormarkinischen Überlieferung
3.2 Interpretation des markinischen Textes
3.2.1 Interpretation des Textes an sich
3.2.2 Interpretation des Textes im theologischen Gesamtrahmen des Mk
4. Synoptischer Vergleich
4.1 Interpretation der mt. Parallele (Mt 8,23-27)
4.2. Interpretation der lk. Parallele (Lk 8,22-25)
5. Zusammenfassung und Bündelung
6. Literaturverzeichnis
Primärquelle:
Sekundärquellen:
1. Abschrift des zugrundegelegten Textes
(35) Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns hinüberfahren.(36) Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boote war, und es waren noch andere Boote bei ihm.
(37) Und es erhob sich ein großer Windwirbel und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.
(38) Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkom- men?
(39) Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich und es entstand eine große Stille.
(40) Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
(41) Sie aber fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!
2. Analyse des Textes
2.1 Abgrenzung und Kontext
Die vorliegende Perikope des Markusevangeliums thematisiert die Stillung des Sturmes. Sie befindet sich zwischen einer Gleichnisrede (Mk 4,1-34) und einer Wundergeschichte (Mk 5,1-20) und ist in den Kontext des Evangeliums gut eingebunden, da der Verfasser eine gelungene Verbindung zu dem vorangehenden und dem nachfolgenden Geschehen geschaffen hat. Auffällig ist dies an der Wortwahl in 4,35f., da die Handlung direkt an die im Vorfeld bereits berichteten Ereignisse anknüpft. Die agierenden Personen werden bei dem Einstieg in das Geschehen lediglich mit 'er' und 'ihnen' benannt und erhalten im weiteren Verlauf des Textauszuges keine explizite Namenszuweisung. Bei einer näheren Betrachtung der vorangehenden Verse ist deutlich zu erkennen, dass mit 'ihnen' die Jünger und mit 'er' Jesus gemeint sind. Somit wird die Kenntnis ihrer Namen anhand des bereits ereigneten Geschehens vorausgesetzt.
Im Vorfeld der Sturmstillungserzählung hatte Jesus am Ufer des Sees Genezareth zu lehren begonnen und der sich versammelnden Menschenmenge und den Jüngern in Gleichnissen gepredigt. Da die Anzahl seiner Zuhörer stieg, musste er sich in ein Boot stellen (Mk 4,1). Anhand der Angabe 'am Abend desselben Tages' (V. 35) und der Tatsache, dass die Jünger das Volk entlassen und mit Jesus so lossegeln 'wie er im Boote war' (V. 36), deutet ebenfalls darauf hin, dass der Tag und der Schauplatz der Gleichnisrede mit dem beschriebenen Tag und Schauplatz des Textauszuges in Mk 4,1 übereinstimmt.
Die Geschichte endet mit einer Frage der Jünger, deren Beantwortung in Mk 8,29 bzw. Mk 15,39 erfolgt. Eine Verbindung zu der nachfolgenden Perikope von der Heilung eines besessenen Geraseners (Mk 5,1-20) vollzieht sich, indem an das zu Beginn erwähnte Vorhaben Jesu (V. 35), an das andere Ufer überzusiedeln, angeknüpft wird. Dies ist der Formulierung 'und sie kamen ans andere Ufer des Sees in die Gegend der Gerasener' (Mk 5,1) zu entnehmen.
Mit Hilfe der zu untersuchenden Perikope eröffnet Markus einen Zyklus von Wundergeschichten[1] und beginnt zugleich mit einem neuen Themenkomplex. Insbesondere markieren der Zeitwechsel – angedeutet mit dem Eintreten des Abends – und der angestrebte Wechsel des Ortes zum anderen Ufer den Beginn einer neuen Erzählhandlung. Zuvor hatte Jesus in Gleichnissen über das Reich Gottes gepredigt. In diesem Textabschnitt und in den anschließenden Wundergeschichten wird hingegen die Vollmacht Jesu dargestellt. Dabei ist anzumerken, dass das epiphane Auftreten Jesu eine Steigerung in den nachfolgenden Wundererzählungen erfährt. Zunächst ereignet sich ein Rettungswunder (Mk 4,35-41), bei dem Jesu Vollmacht über die Naturelemente zum Ausdruck gebracht wird. Daraufhin veranschaulicht ein Exorzismus Jesu Macht über Dämonen (Mk 5,1-20). Diese Tat wird durch ein Heilungswunder und schließlich durch die Totenerweckung eines Mädchens (Mk 5,21-43) übertroffen. Im Kontext dieser Wunderdemonstrationen wird die besondere Funktion dieser Geschichte im Gesamtrahmen des Markusevangeliums unterstrichen. Sie leitet die Darstellungen über die ganze Vollmacht Jesu ein.
Ein weiterer Aspekt, der die besondere Rolle der vorliegenden Perikope verdeutlicht, ist die Tatsache, dass das Geschehen zwischen zwei Ufern stattfindet. Mit der Überfahrt nach Gerasa wendet sich Jesus erstmals Heiden zu. Zuvor war er ausschließlich mit Juden in Kontakt getreten. Im weiteren Verlauf des Evangeliums begibt sich Jesus mehrmals auf heidnischen Boden und vollbringt Wunder (Mk 7,24 – 8,9).
2.2 Gliederung des Textes
Die Erzählung beginnt mit einer Exposition (V. 35, 36), die die handelnden Personen vorstellt und das Vorhaben der Beteiligten darlegt. Innerhalb der beiden Verse beschreibt Markus, dass Jesus den Befehl erteilt den See zu überqueren, um zum anderen Ufer zu gelangen. Die Jünger befolgen seine Anweisung, indem sie die Menschenmenge verabschieden und lossegeln. Der Leser wird anhand dieser Einleitung über das Geschehen informiert und erhält einen Überblick über die Ausgangssituation.
Im Hauptteil schildert der Verfasser die Notsituation. Ein Sturm kommt auf und der See wird unruhig, weshalb das Wasser anfängt in das Boot zu laufen (V. 37). Die Jünger geraten deshalb in Not und verspüren Angst. Da sie sich um ihr Leben fürchten, wecken sie den bis dahin schlafenden Jesus und fragen ihn, ob er sich nicht um ihr Leben sorgt (V. 38).
Daraufhin vollzieht sich das Wunder (V. 39a). Jesus antwortet den Jüngern vorerst nicht, sondern stillt den Sturm mit einem Machtwort. Die entstehende Stille demonstriert Jesu Vollmacht über die Naturgewalten (V. 39b).
Nach Jesu Eingreifen ereignet sich die Belehrung der Jünger (V. 40). Jesus wendet sich tadelnd an die Jünger und wirft ihnen Furcht und Unglaube vor.
Zum Abschluss folgt der Chorschluss (V. 41), der die Reaktion der Jünger zeigt. Sie sind erstaunt und äußern zugleich ihre Bewunderung und ihre Furcht angesichts Jesu Machtdemonstration.
2.3 Abgrenzung von Tradition und Redaktion
Bei der Betrachtung der vorliegenden Perikope ist auffällig, dass der Text redaktionell bearbeitet wurde. Ich gehe davon aus, dass V. 35 durch Markus ergänzt wurde. Der Vers fungiert als Verbindungsstück zur vorangehenden Gleichnisrede und bietet eine Einleitung in das Geschehen. Ebenso ermöglicht V. 35 einen Anknüpfungspunkt für die nachfolgende Wundergeschichte, die die Absicht, den See Genezareth zu überqueren, aufgreift. Dies erzeugt eine Kohärenz zwischen den Textabschnitten.
Gleichermaßen vermute ich bei V. 36a eine markinische Verfasserschaft. Die Jünger entlassen das Volk und segeln mit Jesus so los, 'wie er im Boote war'. Diese Anmerkung bezieht sich auf den Kontext in Mk 4,1 und erschafft somit einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden Textstellen.
Bei V. 36b tendiere ich zu der Annahme, dass es sich um einen Traditionssplitter handelt, da die Boote während des weiteren Geschehens nicht mehr thematisiert werden. Zudem löst der Vers einen inhaltlichen Widerspruch aus. Falls Markus beabsichtigte Jesu Hörerschaft in den Booten unterzubringen, hätte er die Menge zuvor nicht am Ufer zurückgelassen. Weiterhin spricht gegen die Vermutung von Gnilka, dass sich in den Booten Jünger befinden[2], das vom Verfasser erzeugte Bild eines großen Schiffes, in dem Jesus sogar Platz zum Schlafen findet. Möglicherweise fungierten die Boote in der vormarkinischen Überlieferung als Zeugen des wunderbaren Ereignisses[3].
Die nachfolgenden Verse 37, 38a und 38b sind der vormarkinischen Wundergeschichte zuzuordnen, was aus der lebhaften und prägnanten Schilderung der Handlung zu erschließen ist. Durch den aufkommenden Sturm empfinden die Jünger Angst um ihr Leben, weshalb sie den schlafenden Jesus wecken und sich ihm in V. 38c vorwurfsvoll zuwenden. Dieser Teilvers beruht auf einer markinischen Überarbeitung, da anzunehmen ist, dass die vormarkinische Überlieferung eine Bitte um Hilfe enthielt[4]. Demnach hat Markus die ihm vorliegende Wundererzählung in eine Jüngergeschichte umfunktioniert[5], damit sie seiner theologischen Aussageabsicht entsprach, was insbesondere im Zusammenhang mit V. 40 und V. 41b deutlich wird.
Die anschaulich dargestellte Schilderung der nachfolgenden Wunderdemonstration Jesu und der daraus resultierenden Stille lässt vermuten, dass V. 39 zur vormarkinischen Tradition gehört. Im Unterschied dazu ist V. 40 markinischer Natur. Ein As-pekt, der die Annahme einer markinischen Verfasserschaft unterstützt, ist die Tatsache, dass das Entfernen des Verses keinen Einfluss auf den Erzählfluss der Perikope ausübt. Im Gegenteil, V. 40 unterbricht den Fortgang der Geschichte zwischen V. 39 und V. 41. Dies erscheint vor allem anhand der Reaktion der Jünger in V. 41 transparent. Sie reagieren nicht auf den Tadel Jesu und unterhalten sich stattdessen ausschließlich miteinander. Somit erfüllt V. 40 in der vormarkinischen Überlieferung keine Funktion. Hingegen erscheint er im markinischen Gesamtwerk als sinnvoll, da der Vers das für Markus typische Motiv des 'Jüngerunverständnisses' aufgreift[6], das in 3.2.2 näher erläutert wird.
Der in V. 41a dargestellte Chorschluss, der die Ehrfurcht der Jünger beschreibt, entstammt der vormarkinischen Überlieferung, da er ein typisches Kennzeichen für den Abschluss einer Wundergeschichte repräsentiert.
In V. 41b zeigen die Jünger ihr Unverständnis und ihr Unwissen hinsichtlich Jesu Person. Da dieses Verhalten ein charakteristisches Merkmal der markinischen Theologie darstellt, vermute ich, dass dieser Vers von Markus hinzugefügt wurde.
[...]
[1] Vgl. Gnilka, Joachim 1978: Das Evangelium nach Markus (Mk 1-8,26). (EKK II,1). Zürich, S. 197. (Künftig als Gnilka, J.: Mk I angegeben).
[2] Gnilka, J.: Mk I, S. 193: „Für Markus aber können sie für die Unterbringung der Zwölf […] von Bedeutung gewesen sein“.
[3] Vgl. Pesch, Rudolf 1976: Das Markusevangelium. Einleitung und Kommentar zu Kap. 1,1-8,26. (HthK II,1). Freiburg im Breisgau., S. 270. (Künftig als Pesch, R.: Mk I angegeben).
[4] Vgl. Gnilka, J.: Mk I, S. 195: „Stand in der Geschichte ehemals eine schlichte Bitte um Hilfe, entsprach das der Form einer Wundererzählung“.
[5] Vgl. Gnilka, J.: Mk I, S. 194.
[6] Vgl. Pesch, R.: Mk I, S. 268: „Da der Einschub in der vormarkinischen Sammlung funktionslos bleibt, im Rahmen der mk Redaktion jedoch als sinnvoll, beabsichtigt begriffen werden kann […], wird man ihn dem Evangelisten zuschreiben müssen [...]“.
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- Anonym, 2014, Exegese von Markus 4,35-41 "Die Sturmstillung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/343256
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