Vergleich von fünf Gedichten aus der 'Menschheitsdämmerung' zum Thema 'Stadt'


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

21 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhalt

1. Alfred Wolfenstein: Städter
1.1 Erwartungen an das Gedicht
1.2 1.Quartett: Nichterfüllung der Erwartungen
1.3 2.Quartett: Darstellung der Menschen
1.4 1.Terzett: Beginn der Auflösung des Ichs - Wahrnehmungsprobleme
1.5 Ichdissoziation
1.6 2.Terzett: Stärkung des Ich – Aufgabe der Ichdissoziation
1.7 Bedeutung des Titels „Städter“

2. Van Hoddis: Weltende
2.1 Reihungsstil und Verfremdung
2.2 Struktur der Bilder/ Wahrnehmung des lyrischen Ich
2.3 Konflikt zwischen Form und Inhalt

3. Walter Hasenclever: Der Gefangene
3.1 Lyrisches Ich oder Wir? – Subjektivität der Ausdrucksform
3.2 Rückschlüsse auf die Wahrnehmung des lyrischen Subjekts
3.3 Das lyrische Ich im Widerspruch mit sich selbst
3.4 Unerfüllte Suche
3.5 Form

4. Ernst Stadler: Abendschluß
4. 1 Bürgerliche Ordnung
4.2 Befreiung aus dem Gefängnis „Bürgerliche Welt“
4.3 Zweifel an der Befreiung
4.4 Perspektive des lyrischen Ich
4.5 Form

5. Paul Zech: Die Häuser haben Augen aufgetan
5.1 Das Bild der Stadt im Vergleich zu den obigen Gedichten
5.2 Verwandlung/Verzauberung der Stadt und Befreiung der Menschen
5.3 Das lyrische Ich im Vergleich zu den obigen Gedichten und im Konflikt mit der Form

6.Literatur

Im folgenden werden die fünf Gedichte „Städter“ (Alfred Wolfenstein), „Weltende“ (Jakob van Hoddis), „Der Gefangene“ (Walther Hasenclever), „Abendschluß“ (Ernst Stadler) und „Die Häuser haben Augen aufgetan“(Paul Zech) analysiert und miteinander verglichen.

Alle Gedichte haben in der Verarbeitung der neuen Großstadterfahrung vor dem Hintergrund der rasant wachsenden Städte um die Jahrhundertwende eine Gemeinsamkeit.[1]

Schwerpunkte der Analysen werden daher das in den Gedichten gezeichnete Bild der Großstadt und das Bewußtsein der lyrischen Subjekte bilden. Dabei wird die Anordnung der Gedichte von der Entwicklung dieser Motive, nicht von einer chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung bestimmt.

1. Alfred Wolfenstein: Städter

1.1 Erwartungen an das Gedicht

Der Titel „Städter“ weckt Erwartungen an das Gedicht: Der Leser vermutet eine Beschreibung der Menschen, die in der Stadt leben. Da dem Begriff „Städter“ kein Artikel zugeordnet ist, sondern für sich allein steht, liegt es nahe, hier eine allgemeingültige und sachlich distanzierte Betrachtung zu vermuten. Der allgemeingültige Eindruck wird sowohl durch die zunächst naheliegende Pluralform von „Städter“ als auch durch die anonyme Konnotation von „Städter“ hervorgerufen: Die Anonymität entsteht im besonderen durch das Fehlen des Zusatzes „Mensch“, wie es bei einem potentiellen Titel wie z.B. „Stadtmenschen“ der Fall gewesen wäre. Ferner ist die Bedeutung Stadt assoziativ mit einer großen Anzahl von Menschen verknüpft, was diesen Eindruck zusätzlich verstärkt. Auf die Bedeutung des Titels werde ich später im Rahmen einer weitergehenden Interpretation zurückkommen.

1.2 1.Quartett: Nichterfüllung der Erwartungen

Doch nach der Lektüre der 1. Strophe läßt sich feststellen, daß den oben angeführten Erwartungen - einer Beschreibung der Menschen in der Stadt - nicht entsprochen wird: Subjekte sind hier nicht die Menschen, sondern Elemente der Stadt: Da stehen Fenster beieinander (Z.2), Häuser fassen sich an, Straßen sind geschwollen und sogar gewürgt.

Auffallend wirkt vor allem der kompakte und gedrängte Charakter der 1.Strophe: Dieser wird

auf der formalen Ebene zunächst durch die drei Enjambements und einem umarmenden Reim erzeugt. Doch vor allem auf der Bedeutungsebene wird dieser Eindruck vielfach bestätigt: So findet sich besonders kennzeichnend das Partizip „drängend“(Z.2), das das Verb „anfassen“ näher bestimmt. Bemerkenswert erscheint hier, daß das adverbial verwendete Partizip „drängend“ sich verdichtend direkt an das Verb haftet und somit die Bedeutung von „drängen“ unterstreicht. Außerdem findet sich in der 1.Strophe eine beeindruckende Zahl von Begriffen („Nah“, „beieinander“ ,“so dicht“, „gewürgt“, „fassen“), die diesem Bedeutungsfeld zugeordnet werden können. Das „Nah“ wird sogar noch durch einen Vergleich („wie Löcher eines Siebes stehn“) in seiner Bedeutung erweitert und plastisch dargestellt.

„Fassen“ weckt, anders als etwa „berühren“, Assoziationen wie „umfassen“ oder „greifen“ in einer eher aggressiven Form, die durch den Aspekt des Gedrängten verstärkt wird. Die Verdichtung der Satzstruktur findet einen Höhepunkt im letzten Satzglied „daß die Straßen Grau geschwollen wie Gewürgte sehn“. Hier sind gleich zwei Partizipien anzutreffen („geschwollen“, „Gewürgte“). Ferner erscheint das Verb „sehn“ als minimalisiert, da der Bedeutung nach eher „aussehen“ zu erwarten gewesen wäre. Es wird dabei offengelassen, ob die Häuser tatsächlich selber sehen, was im Einklang der eingangs festgestellten Tatsache, daß diese als Subjekte fungieren, stünde.

Erweitert wird die Verdichtung auch durch eine Komprimierung auch auf lautlicher Ebene durch die Alliteration „grau“, „geschwollen“, „gewürgt“.

Verschiebt man die Betrachtung der 1.Strophe weiter auf die inhaltliche Ebene, so läßt sich entdecken, wie auch in einer Erweiterung der Beobachtungsperspektive der gedrängte Charakter stets bestehen bleibt und infolgedessen am Ende nur noch totaler wirkt: So werden zunächst im größten Maßstab die Fenster betrachtet. Sie stehen nah beieinander. Im mittleren Maßstab sind es die Häuser, die, die Fenster beinhaltend, dicht gedrängt stehen. Selbst im kleinsten und allgemeinsten Maßstab, in der Betrachtung ganzer Straßen, ändert sich das Bild nicht und wirkt dadurch im Gegenteil nur noch auswegloser, denn es liegt hier ein Bild vor, das ineinander verschachtelt ist und selbst bei einer Umkehrung der Perspektive zurück zur größten Auflösung stets denselben gedrängten Eindruck bietet.

Der wertende und gefühlsbetonte Begriff „ausweglos“ ist gerechtfertigt, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Stimmung hier geschaffen wird:

Zunächst verdient der metaphorische Vergleich „Löcher eines Siebes“ für „Fenster“ eine genauere Betrachtung. Er verdeutlicht zwar plastisch die Enge, in der die Fenster angeordnet sind, ist aber in seiner Substanz ein Oxymoron, da sich der Vergleich nicht auf die Fensteröffnung, sondern auf die Fenster selbst, die hier sogar die Funktion von Subjekten einnehmen, bezieht. Da die Fenster also Löcher sind, werden sie blind, entseelt und ihrer Bedeutung beraubt, die sich dem Leser durch ihren gewohnten Verwendungsweise z.B. in der Romantik als Schnittstelle zur Außenwelt anbietet.[2]

Die Metapher verdeutlicht nicht nur die Enge, sondern auch eine riesige Anzahl der Fenster, da ein Sieb schließlich unzählige Löcher aufweist. Es entfaltet sich also das Bild einer großen Masse, die auf verschiedenste Weise als gedrängt dargestellt wird. In Zeile 4 wird die Folge dieses Zustandes angedeutet: Es tauchen hier Begriffe wie „geschwollen“ und vor allem „gewürgt“ auf, die diesen Zustand als bedrohlich markieren und durch die Farben „grau“ und - assoziativ zu „Löcher“- „schwarz“ unterstützt werden.

Daß die Häuser „wie Gewürgte“ aussehen, ist eine Folge dessen, daß die Häuser sich so dicht „fassen“ - es wurde bereits auf den eher aggressiven Charakter dieses Verbums hingewiesen –, sie würgen sich also gegenseitig aufgrund ihrer Masse.

Es bleibt festzuhalten, daß in der 1.Strophe das Bild einer großen unbelebten Masse gezeichnet wird, die jedoch nur aus entseelten Einzelelementen („Löcher“) besteht und sich gegenseitig allein durch ihre dicht gedrängte Existenz bedrohen. Subjekte sind zwar die unbelebten und seelenlosen Elemente einer Stadt, dennoch sind sie die Akteure einer aggressiven und bedrohlichen Dynamik.

1.3 2.Quartett: Darstellung der Menschen

Betrachtet man die zweite Strophe, so scheint sich zunächst die Stimmung, die in der 1.Strophe erzeugt wird, fortzusetzen, tauchen doch auch hier immerhin wieder Begriffe wie „eng“, „dicht“, „ineinander“, „eingehakt“ und „Fassaden“ auf. Tatsächlich greift die Verwendung von „Fassaden“ und auch „Trams“ als typischerweise zur Großstadt gehörig auf den in der 1. Strophe geschaffenen Eindruck zurück, aber als Subjekt tauchen hier erstmals „Leute“ auf. (Es wird im folgenden zu klären sein, ob die „Leute“ ihrer Funktion als Subjekt in einer mit den Subjekten in der 1.Strophe vergleichbaren Weise nachkommen:) Auffallend ist zunächst, daß wie schon bei dem Titel „Städter“ die Bezeichnung „Menschen“ vermieden wird, wodurch wiederum ein anonymer Eindruck entsteht. Ferner ist es bezeichnend, wie sich die „Leute“ die Funktion als Subjekt mit der Beiordnung „Fassaden“ teilen muß. Durch den Zusatz der näheren Bestimmung „die zwei“ vor „Fassaden“ werden diese in ihrer Bedeutung so verstärkt, daß die „Leute“ beinahe eher zu einer Beiordnung von „Fassaden“ geraten. Untersucht man die Verben in der 2.Strophe, so läßt sich allein „sitzen“ direkt dem Subjekt zuordnen. Hier drängt sich ein weiterer Unterschied zur 1.Strophe auf, denn in „sitzen“ findet sich nichts mehr, was auf die drängende und bedrohliche Dynamik, die in der 1.Strophe zum Ausdruck kommt, hinweisen würde. Im Gegenteil: Die „Leute“ wirken passiv. Der Aspekt der Passivität verdient es, näher untersucht zu werden:

So heißt es in Zeile 5 „ineinander dicht hineingehakt“, was theoretisch ein ähnliches dynamisches Potential aufweist, wie es in der 1.Strophe durch das dichte Drängen freigesetzt wird. Doch anstatt daß die Leute sich aktiv dicht einhaken, wird hier nur das „Sitzen“ näher bestimmt, die Handlung ist bereits abgeschlossen. Die eng ausladenden Blicke (Z.7) sind sprachlich nicht den Leuten zugeordnet, sie stehen - durch das Pronomen „wo“ von den Leuten abgetrennt - für sich allein. Auch die „Begierde“ steht, inhaltlich eigentlich mit den Leuten verknüpft, getrennt von den „Leuten“. Dabei „ragt“ die Begierde, die eher mit Dynamik und Leidenschaft verknüpft sein sollte, statisch und eingefroren ineinander. So entsteht ein eher unangenehmer Eindruck, da diese starre und bewegungslose Begierde in Kombination mit der großen Enge in einer Situation, die für alle unfreiwillig wirkt, ein Stück zu weit ineinanderragt.

So weckt auch die Formulierung „dich hinein gehakt“(Z.5) vielmehr die Assoziation „ineinander verhakt“, als das ein „Einhaken“ einen positiven Effekt haben könnte. Möglich ist auch die Assoziation zu dem Motiv „Kette“ und „angekettet“, das oft auch im Zusammenhang mit Gefängnis gebraucht wird.[3]

Das Aggressive und Bedrohliche besteht in der 2.Strophe nicht wie in der 1.Strophe in der aggressiven Dynamik des Geschehens, sondern in der Unausweichlichkeit eines als starr und unfreiwillig empfundenen Zustandes.

[...]


[1] Läufer, Bernd: Jakob van Hoddis: Der <Variete>-Zyklus.S.17 und Vietta/ Kemper: Expressionismus. S.35

[2] Die Verwendung des Bildes „ Sieb“ wird auch von Russel E. Brown in einem Beitrag über Alfred Wolfenstein in „Expressionismus als Literatur“ aufgegriffen, doch als unpassend, fragwürdig und widersprüchlich beurteilt. Ferner ist für ihn das Motiv der gewürgten Straße nicht stimmig, da die Häuser nur seitwärts Druck ausüben bzw. gar keine Straße vorhanden wäre, sollte der Druck auf die gegenüberliegende Seite gerichtet sein. Meiner Ansicht nach erfaßt jedoch Brown in dieser oberflächlichen Betrachtung nicht die Tragweite der Metapher und beurteilt die Bilder einer Gefühlswelt zu rational.

[3] Zu den Motiven Kette und Gefängnis siehe Wolfgang Rothe: Der Expressionismus

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Vergleich von fünf Gedichten aus der 'Menschheitsdämmerung' zum Thema 'Stadt'
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Menschheitsdämmerung
Note
1,2
Autor
Jahr
1999
Seiten
21
Katalognummer
V34353
ISBN (eBook)
9783638346016
ISBN (Buch)
9783640177363
Dateigröße
572 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vergleich, Gedichten, Menschheitsdämmerung, Thema, Stadt, Expressionismus, expressionistische, Lyrik
Arbeit zitieren
Andreas Steiner (Autor:in), 1999, Vergleich von fünf Gedichten aus der 'Menschheitsdämmerung' zum Thema 'Stadt', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34353

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