Das Konzept des Nichtidentischen bei Theodor W. Adorno. Eine Kritik nationalistischer Denkstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland


Bachelorarbeit, 2008

35 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Nationalistische Einstellung in der Bundesrepublik Deutschland
1.1 Nationalistische Einstellung
1.3 Nationalistische Einstellung und Dekonstruktion der Idee der Nation

2. Die Kritik nationalistischer Einstellung mit Adornos Denkmitteln
2.1 Die Kritik an Denkstrukturen des Idealismus und nationalistischer Einstellung
2.2 Das Konzept des Nichtidentischen und nationalistische Einstellung
2.3 Anerkennung des Nichtidentischen und Kritik an kollektiven Moralvorstellungen
2.4 Anerkennung des Nichtidentischen als Anerkennung des Fremden im Eigenen
2.5 Anerkennung des Nichtidentischen und die Einwanderungspolitik in Deutschland

3. Russlanddeutsche in der Bundesrepublik Deutschland
3.1 Nationalisierungsprozesse und die Russlanddeutschen
3.2 Nationalistisch motivierte Anerkennung der Russlanddeutschen
3.3 Die Kritik an den Denkstrukturen der Thematisierung von Russlanddeutschen in Deutschland
3.4 Anerkennung des Nichtidentischen und die Russlanddeutschen

5. Schlussbemerkung

6. Literaturverzeichnis

Abstract

Diese Arbeit nimmt Theodor W. Adornos Idealismuskritik und sein Konzept des Nichtidentischen als Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit den Denkstrukturen nationalistischer Einstellung. Dabei werden besonders verschiedene Möglichkeiten im Umgang mit Anderem und Nichtidentischem thematisiert. Anschließend werden die theoretischen Überlegungen am Beispiel der Situation der Russlanddeutschen in Deutschland veranschaulicht

0. Einleitung

Die Ausgrenzung und Nicht-Anerkennung von Anderem, Fremdem und Besonderem, bei Adorno als das Nichtidentische der Identität bezeichnet, geschieht häufig im Rahmen nationalistischer Einstellung. Zumindest stellt die Idee der Nation eine Argumentation bereit, die eine Ausgrenzung von Fremden als gerechtfertigt betrachtet. Demnach erscheint zuerst eine Analyse der sozialen Konstruktion der Nation naheliegend, die solche Argumentationen und Rechtfertigungen als Erfindungen entlarvt. In einer aktuellen Studie zur Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zeigt sich jedoch, dass bei einem großen Teil der deutschen Bevölkerung die Ausgrenzung und Gewalt gegen Menschen aufgrund ihrer Andersartigkeit kaum Empörung hervorruft. Es handelt sich, so die Studie, um keine Randerscheinung, sondern besonders auch in der Mitte der Gesellschaft findet sich eine nationalistische Einstellung wieder.[1] Daraus ergibt sich, dass nicht nur die politisch rechte Positionen oder die Einstellungen von WählerInnen nationalistischer Parteien Gegenstand dieser Untersuchung sein können. Sondern es lässt sich vermuten, dass eine nationalistische Einstellung auch dort verbreitet ist, wo sie verneint wird und der Nationalismus abgelehnt wird. Aus diesem Grunde könnte es interessant sein, sich mehr mit den Denkstrukturen auseinander zusetzen, die aus einer philosophischen Perspektive das Denken einer nationalistischen Einstellung charakterisieren. Deswegen wird der historische Entstehungsprozess der Idee der Nation in dieser Arbeit nur am Rande Erwähnung finden.

Theodor W. Adorno hat in der ‚Negativen Dialektik‘ theoretische Grundlagen auf philosophischer Basis ausformuliert, in denen er die traditionellen Theorien des Idealismus kritisiert und weiterdenkt. Diese werden von seinem Anliegen begleiten, das Besondere aus der Vorherrschaft des Allgemeinen im Denken befreien zu können, wie auch hervorzuheben, dass Widersprüche im Denken nicht zum Nachteil des Besonderen aufgelöst werden sollen. Die Idee der einheitlichen Identität erweist sich, so Adorno, als vereinnahmendes Konzept, das der Anerkennung des Nichtidentischen bedarf, damit Erfahrung und Beobachtung nicht im Vorhinein von Begriffen eingeschränkt wird. Das Nichtidentische steht bei Adorno für ein Konzept, das auf die Existenz von Fremdem, Anderem und Besonderem hinweisen möchte, um ihnen so eine Chance zur Anerkennung geben zu können. Diese speziellen Aspekte der Theorie Adornos könnten einen Ausgangspunkt für eine Kritik an den Denkstrukturen der nationalistischen Einstellung darstellen.

Es scheint ein Widerspruch zu sein, von einer nationalistischen Einstellung zu reden, wo der Nationalismus verneint wird. Andererseits wirkt es auch irritierend nur von einer ausgrenzenden Praxis zu sprechen, ohne auf den Nationalismus einzugehen. Adornos Kritik bezieht sich aber auf beides. Ihm geht es nicht nur um die bewusste ideologische Selbstinszenierung, sondern um die Denkstrukturen nationalistischer Orientierung, wenn sie auch für Einzelne nicht offensichtlich ist.

Die Analyse der nationalistischen Einstellung im Anschluss an Adornos Theorie soll in dieser Arbeit durch eine Betrachtung der Russlanddeutschen veranschaulicht werden. Diese Entscheidung basiert unter anderem auf der speziellen Geschichte des Nationalisierungsprozesses des Vielvölkerstaates Russland und auf der gesetzlichen Begriffsbildung Deutschlands über die Aufnahmeregelung. Die Auseinandersetzung mit den Russlanddeutschen bietet außerdem eine aufschlussreiche Perspektive auf die Widersprüchlichkeiten der Idee einer einheitlichen nationalen Identität und besonders auch, was jene zu überdecken bemüht ist, auf die Widersprüchlichkeiten der Menschen an sich. So werden Russlanddeutsche wegen ihrer „Deutschstämmigkeit“ von politisch Rechtsorientierten idealisiert, andererseits werden sie auch Opfer rechter Gewalt und sind dem Vorwurf ausgesetzt, keine „richtigen Deutschen“ zu sein.[2] Die ausführliche Beziehung der hinterfragten Denkstrukturen auf ein inhaltliches Thema bietet sich an, um das Potential der Kritik mit ihrem eigentlichen Gegenstand, dem Fremden, Anderen und Nichtidentischen, zu konfrontieren. Weitere Bevölkerungsgruppen sollen dabei nicht als weniger relevant betrachtet werden, doch des begrenzten Rahmens dieser Arbeit wegen, kann jenen keine ausführliche Darstellung gewidmet werden.

1. Nationalistische Einstellung in der Bundesrepublik Deutschland

1.1 Nationalistische Einstellung

Der Begriff der nationalistischen Einstellung soll in dieser Untersuchung als eine bestimmte “Disposition oder Bereitschaft, ein Objekt in bestimmter (positiver oder negativer) Weise zu bewerten”[3] verstanden werden, die von einem Glauben an eine Idee der Nation geleitet ist. Das bedeutet, dass sie im Folgenden nicht auf eine politische Orientierung beschränkt werden kann. Die nationalistische Einstellung als Arbeitsbegriff beabsichtigt im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit vielmehr jegliche Denkstrukturen zu umfassen, welche sich in den Kategorien von Nationen bewegen und als solche die Grundlage für die Bildung einer nationalen Identität ermöglichen oder unterstützen. In seiner Beziehung auf Deutschland dient der Begriff der nationalistischen Einstellung dazu, besonders jene Bereitschaft wiederzugeben, das “Deutschsein” als nationale Identität zu betonen und über andere Persönlichkeitsbeschreibungen zu stellen. Insbesondere sind hier Situationen von Interesse, in denen Menschen auf Grund einer Zuschreibung eines “Nicht- oder Nicht-richtig-Deutschseins” als Außenstehende wahrgenommen werden und den Einheimischen im alltäglichen Leben, etwa im Beruf oder in der Schule, nachgeordnet werden.

Der Bezug auf die nationalistische Einstellung wird in dieser Untersuchung dem Begriff der fremdenfeindlichen Einstellung vorgezogen, da die nationalistische Einstellung sich als postive Position mit dem gesetzten Bezugspunkt der Nation verstehen lässt, wogegen die Fremdenfeindlichkeit ein pauschalen Ablehnen ohne Verortung des Eigenen ausdrückt. Nationalistische Einstellung lässt sich eher als eine thematische Eingrenzung des umfassenden Problems von Fremdenfeindlichkeit bezeichnen, dadurch dass sie vom Begriff her in einen Argumentationszusammenhang eingebunden ist.

Adorno selbst verwendet für nationalistische Orientierungen häufiger den Begriff des Faschismus, welcher jedoch mehr auf politisch autoritäre Regime, wie beispielweise den deutschen Nationalsozialismus, abzielt und eher mit rechtsextremen Bewegungen in Verbindung gebracht wird.[4] Die Befassung mit der nationalistischen Einstellung bietet jedoch im Gegensatz zur faschistischen Einstellung die Möglichkeit sich auf ein weit verbreitet Selbstverständnis von politischen Systemen zu beziehen, ohne dass sich jene als autoritär verstehen müssen. Die Kategorie des ‘Nationalen’ versteht sich als alltägliche und neutrale Bezeichnung, die sich auf ein bestimmtes Volk oder Territorium bezieht. Es stellt sich aber die Frage, ob das ‘Nationale’ sich ohne unterstellte Gemeinsamkeiten denken kann und ob es darauf basiert oder dazu verleitet, welche zu konstruieren. Es bleibt also zu überlegen, ob der Nationalismus eine Folgeerscheinung eines übersteigerten nationalen Gemeinschaftsgefühls ist, oder ob diese nationale Identität eines Ideenkonstruktes bedarf, wie einerseits dem Nationalismus und andererseits dem Streben nach einer Einheit.

1.2 Nationalismus und nationale Identität

Die Entwicklung der Idee, welche die Entstehung des Nationalismus ermöglichte, lässt sich bis ins antike Griechenland und Israel zurückverfolgen. Die Griechen teilten die Menschen in Griechen und Barbaren ein und die Juden unterschieden sich von Andersgläubigen, wie später auch die Christen. Die Gruppen definierten sich über eine Stammeszugehörigkeit, die von einem offensichtlichen Überlegenheitsgefühl gegenüber Andersartigen begleitet wurde. Vor der Entstehung der Idee der gemeinsamen nationalen Identität grenzten sich Gruppen vorwiegend über ihre Schicht- oder Statuszugehörigkeit von anderen Menschen ab.[5]

Nachdem die Legimitationsmöglichkeit herrschaftlicher Systeme über Dynastien und Religion abgenommen hatte, wurde diese Funktion mit der Idee der Nation ersetzt. Der Umgang mit Außenstehenden variierte jedoch zwischen sehr verschiedenen Ausmaßen von Vereinnahmung und Abgrenzung. Auch in religiös legitimierten Herrschaftssystemen ist beispielweise zwischen der Vereinnahmung im Sinne von Missionierung im Christentum und der vorwiegenden Abgrenzung des Judentums zu differenzieren. Eine detaillierte historische Auseinandersetzung soll hier aber nicht unternommen werden.[6]

Nach Benedict Anderson (1988) wurde die Gründung der Nation durch das Zusammentreffen des Kapitalismus als neues Produktionssystem, der Erfindung des Buchdrucks und die Zusammenfassung verschiedener Sprachen zu einer gemeinsamen Schriftsprache ermöglicht. So ließ sich über ökonomische Bedürfnisse, gemeinsame Sprache, Zeitung und Literatur ein nationales Gefühl der Zusammengehörigkeit herstellen.[7]

Dieser Prozess produzierte und verfestigte nach Ernest Gellner (1991) eine hierarchische Einteilung der Kulturen, in der die nationale Kultur die Spitze bildete. Wobei die nationale Kultur sich selbst als ein Extrakt oder eine Auswahl aus der Vielzahl kultureller Besonderheiten darstelle. Über die schulische Sozialisation und auch über die Akademien wird nach Gellner eine elitäre Kultur als solche in der Bevölkerung verankert. An diesem Punkt trete das nationalistische Prinzip zu Tage, welches auf die Vereinheitlichung der kulturellen Vielfalt ziele. Und es besteht auf der Überhöhung der nationalen Identität und ermöglicht, wie Gellner argumentiert, dadurch erst die Nation als politisches Gebilde. Somit benötige die Nation als stabilisierende Kraft für ihren Entstehungsprozess den Nationalismus und eine nationalistisch eingestellte Bevölkerung, welche die nationale Identität als das Höchste ihrer Kultur verinnerlicht haben müsse.[8]

Die Bundesrepublik als Nation bezieht sich auf das Abstammungsgesetzes „Ius Sanguinis“, welches von einer Blutgemeinschaft auf soziale wie kulturelle Gemeinsamkeiten schließt. So wird die deutsche Nation nach Corinna Kleinert (2004) „in der Form des Nationalstaates [...] zu [einem] faktischen politischen [Gebilde], de[ss]en Grenzen durch das Kriterium des Territoriums bestimmt sind und die sich durch die Selbstbeschreibung der Nation legitimieren“[9] Die verschiedenen juristischen Einzelheiten und Änderungen dieses Gesetzes im Allgemeinen selbst sind für die weitere Untersuchung jedoch nicht wesentlich. Aber die spezifischen Ableitungen der Idee der Abstammung im Rahmen des Bundesvertriebengesetzes werden in Kapitel 3.2 noch detaillierter ausgeführt.

Denn jenes Abstammungsgesetz bietet Menschen, deren Vorfahren Deutsche sind, auch die Berechtigung wieder nach Deutschland einwandern zu können. Zu jener Gruppe von Menschen, die davon Gebrauch machten, gehören unter anderem die sogenannten Russlanddeutschen in Deutschland, die auf der Grundlage des Abstammungsgesetzes die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben und auf deren spezielle Situation Kapitel 3 eingegangen wird.

Andererseits hat Corinna Kleinert (2004) in ihrer Untersuchung zur „Konstruktion von Fremdheit und Zugehörigkeit in Deutschland“ gezeigt, dass „der zentrale Punkt für die kollektive Wahrnehmung als fremd [...] nicht der rechtliche Status, sondern die gesellschaftliche Selbstbeschreibung der Ethnizität und Nation“[10] ist. An dieser Stelle zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Abstammungsgesetzes, das eine Abstammung mit einer Identität verknüpft. Es entlarvt sich selbst als ein Gesetz, welches von einer bereits vorhandenen Zugehörigkeit auf eine nationale Identität schließt, die nur durch Abstammung erworben werden könne. Diese gesetzliche Bestimmung bezweckt vermutlich nur die bloße Zugehörigkeit seiner BürgerInnen zu der Nation zu legitimieren, um die Beliebigkeit des nationalen Territoriums zu verschleiern. Kleinerts Ausführungen zeigen aber auch die Problematik allein rechtlicher Veränderungen des Gesetzes zur Staatbürgerschaft, inwiefern sie nur begrenzt Einfluss auf subjektive Zuschreibungen nationaler Identität haben. So können Menschen durch Einbürgerungsmaßnahmen nicht umgehend auch von Zuschreibungen als AusländerInnen befreit sein.

Diese Beobachtung scheint darauf zu verweisen, dass die nationale Identität auf erkennbaren und somit scheinbar natürlichen Eigenschaften basiere. Aber genau diese Praxis könnte das Problem sein, welches die nationalistische Einstellung weiterexistieren lässt. Deshalb ist die Rekonstruktion der Idee der Nation ein wesentlicher Schritt, dem entgegenzuwirken, doch es ist fraglich, ob dies eine Chance gegen eine nationalistische Praxis hat, ob sie der Ausgrenzung und Diskriminierung von Fremdem und Nichtidentischem Einhalt gebieten kann. Denn es lässt sich vermuten, dass die nationalistische Einstellung sich von der Idee der Nation vielleicht schon getrennt hat und allein die ihr zugrundeliegende Denkweise selbst weiterexistiert. Vielleicht haben sich die Denkstrukturen der nationalistischen Einstellung so verselbstständigt und naturalisiert, dass eine nationalistische Einstellung praktiziert werden kann, obwohl die Idee der Nation und besonders der Nationalismus eigentlich kritisiert wird. Diese Fragestellung bedarf einer kurzen Diskussion theoretischer Ansätze, die die Soziale Konstruktion der Nation thematisieren.

1.3 Nationalistische Einstellung und Dekonstruktion der Idee der Nation

Benedict Anderson (1988) schildert in seiner historisch detailreichen Studie wie die Idee der Nation und des Nationalstaates gegründet wurde. Dabei macht er es sich zur wesentlichen Aufgabe, die naturalisierten Aspekte als Erfindungen der Moderne zu entlarven.[11] Auch Ernest Gellner (1991) schildert ausführlich, wie die Ideologie des Nationalismus die „historisch ererbte Bandbreite von Kulturen oder kulturellem Reichtum [...] selektiv einsetzt und sie meistens radikal umwandelt.“[12] Er beschreibt, dass während des Prozesses der Nationalisierung in Deutschland ebenfalls ein Prozess der Vereinheitlichung stattgefunden hat, welcher aus einer Vielzahl unterschiedlicher Traditionen des Zusammenlebens eine als Höherstehende idealisierte und damit die anderen Varianten unterdrückte, vereinnahmte oder ausgrenzte. Andreas Geier (1997) betrachtet seine Analyse der „Hegemonie der Nation“ als ein Beitrag, den historischen Charakter und die Konstruiertheit der Einheit der Nation und deren innewohnenden Unterdrückung von Andersartigem offensichtlich zu machen[13].

Der Schwerpunkt jener Theoretiker liegt zum größten Teil auf der Dekonstruktion der Idee der Nation, welche den Menschen zeigen soll, dass ihr Glaube an die nationale Identität ein künstliches irreales Herrschaftsinstrument ist. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, ob die Konstruiertheit von Identitäten nicht im Wesen des Begriffes der Identität selbst liegt. An manchen Stellen dieser Dekonstruktionsversuche werden Parallelen zwischen der nationalen Identität und religiösen Identitäten gezogen. Daraus ließe sich ableiten, dass das Bewusstwerden der Konstruiertheit kollektiver Identitäten nicht umfassende Veränderungen für die Anerkennung von Andersartigem bietet. Es stellt sich die Frage, ob vielleicht eher die Denkweise analysiert werden sollte, welche die Idealisierung der Nation ebenso wie die des christlichen Glauben in dem Maße ermöglichte, dass sie zum Nachteil und zur gewaltsamen Unterdrückung von Anderem gereichte.

Dagegen zeigt sich in den Analysen auch, dass sich die nationale Identität und auch die nationalistische Einstellung gerade durch die Naturalisierung des nationalen Mythos teilweise verwirklichen lässt. Das bedeutet, dass eine nationale Identität über die Erziehung im Rahmen einer national organisierten Gesellschaft sozialisiert werden kann. Denn die Gesellschaft in Deutschland strukturiert sich beispielsweise über die nationale Schulbildung, die vereinheitlichte Sprache und das vereinheitliche Rechtssystem. Aber diese Vereinheitlichung gilt nur als Norm, als Ideal und als Rechtsgrundlage, und diese Begriffe wären vermutlich leer, wenn sie die Realität beschreiben würden. Sie besitzen ihre Bedeutung vielmehr darin, Einstellungen und Handlungen von Individuen auf einer Skala von „richtig“ und „falsch“ einzuordnen.

Die Betonung liegt in der Forschung zur Dekonstruktion des Nationalismus besonders auf der Hinterfragung jener idealisierten Identität. Es wird dabei weniger die Forderung gestellt, diesen Bestandteil der Identität einerseits zu akzeptieren, zwar künstlich aber verinnerlicht, und andere Aspekte der Identität gleichberechtigt nebeneinander zu stellen und damit auch die Perspektive für subjektiv als fremd empfundene Bestandteile der Identität anzuerkennen.

Eine ideengeschichtliche Dekonstruktion des hegemonialen Nationskonzepts offenbart einige Parallelen zwischen der Problematik eurozentristischer Philosophie und dem Hegemonialanspruch der Nation. Ernest Gellner (1991) hat sich in seiner Arbeit über die Entstehung des Nationalismus mit dem Vorwurf gegenüber der Philosophie Emmanuel Kants, nationalistische Tendenzen aufzuweisen, auseinandergesetzt. Dabei sieht er Kants Orientierung am universal Identischen am Menschen und die damit einhergehende Vernachlässigung des Besonderen und Spezifischen nicht als eine Parallele zum nationalistischen Denken. Ihm zufolge wird bei Kant gerade durch diese Orientierung die nationale Identität nicht als wesentliche Eigenschaft des Menschen bezeichnet. Aber andererseits strebt Kant in seiner Identitätskonzeption nach einer Vereinheitlichung und leugnet die Differenz und damit das Spezifische und Besondere. Auch in der Idee des Nationalismus wird die nationale Identität selbst als universell gültig innerhalb seines Territorium betrachtet und Differenzen zwischen den Angehörigen der Nation werden geleugnet.

Adorno hat die verschiedenen Aspekte der Identitätskonzeptionen der traditionellen Philosophie ausführlicher betrachtet. Seine Kritik gilt vor allem einer Erkenntnistheorie, die das Besondere dem Allgemeinen unterwirft. Denn in diesem Gedankengang sieht Adorno den Anfang zu einem Denken, das die Unterwerfung des Besonderen toleriert wie Gewalt gegen das Andere akzeptiert. Er plädiert für eine Anerkennung des Besonderen, welches er mit dem Konzept des Nichtidentischen erfassen möchte, da er darin einen Weg sieht, wie sich die Philosophie und Kultur weiterentwickeln kann, ohne dass etwas wie die Judenpogrome im Nationalsozialismus nochmals passiert und ohne jenen kulturellen Rahmen selbst total verneinen zu müssen. Adorno versteht die traumatischen Erfahrungen des Dritten Reiches als einen neuen Imperativ, der jedes Denken und Handeln begleiten soll. Man müsse nun alles daran setzen, „dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe.“ Und alle Versuche der Begründung seien verwerflich.[14]

Zu dieser kritischen Perspektive gehört nach Adorno eine Bewusstmachung und Reflexion des Denkens selbst. Folglich könnte eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Nationalismus bedeuten, das Denken selbst nach seiner nationalistischen Einstellung befragen oder nach Denkstrukturen, die nationalistische Ideen begünstigen.

[...]


[1] Vgl. Decker, O./ Rothe, K./ Weißmann, M./ Geißler, N./ Brähler, E., 2008: Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellungen in Deutschland. S.11.

[2] Vgl. Golova, Tatiana, 2006: Akteure der (extremen) Rechten als Sprecher der Russlanddeutschen? Eine explorative Analyse. In: Ipsen-Peitzmeier, S./ Kaiser, M. (Hg.), 2006: Zuhause fremd. Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland. S. 241-273.

[3] Fuchs-Heinritz, W./ Lautmann, R./ Rammstedt, O./ Wienhold, H. (Hrsg.), 2007: Lexikon zur Soziologie. S. 156.

[4] Fuchs-Heinritz, W./ Lautmann, R./ Rammstedt, O./ Wienhold, H. (Hrsg.), 2007: Lexikon zur Soziologie. S. 195.

[5] Geier, Andreas, 1997: Hegemonie der Nation. S. 45. (Vgl. Kohn, Hans, 1962: Die Idee des Nationalismus. Ursprünge und Geschichte bis zur Französischen Revolution. S. 31.; Kohn, Hans, 1964: Von Machiavelli zu Nehru. Zur Problemgeschichte des Nationalismus. S. 17.)

[6] Vgl. Gellner, Ernest, 1991: Nationalismus und Moderne.

[7] Vgl. Anderson, Benedict, 1988: Die Erfindung der Nation.

[8] Gellner, Ernest, 1991: Nationalismus und Moderne. S. 87ff.

[9] Kleinert, Corinna, 2004: Fremdenfeindlichkeit. Einstellung junger Deutscher zu Migranten. S. 44.

[10] Kleinert, Corinna, 2004: Fremdenfeindlichkeit. Einstellung junger Deutscher zu Migranten. S. 63.

[11] Vgl. Anderson, Benedict, 2005: Die Erfindung der Nation.

[12] Gellner, Ernest, 1991: Nationalismus und Moderne. S. 87.

[13] Vgl. Geier, Andreas, 1997: Hegemonie der Nation. S.5.

[14] Adorno, Theodor W., 1970: Negative Dialektik. S. 358.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Das Konzept des Nichtidentischen bei Theodor W. Adorno. Eine Kritik nationalistischer Denkstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland
Hochschule
Universität Konstanz  (Fachbereich Geschichte und Soziologie)
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
35
Katalognummer
V343815
ISBN (eBook)
9783668339439
ISBN (Buch)
9783668339446
Dateigröße
606 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Adorno, Nation, Nationalismus, Russlanddeutsche, Identität, Nichtidentische
Arbeit zitieren
Carmen Weber (Autor:in), 2008, Das Konzept des Nichtidentischen bei Theodor W. Adorno. Eine Kritik nationalistischer Denkstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/343815

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