Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Islam im pluralistischen, säkularen Kontext Europas
2.1. Referenzrahmen
2.2. Islam in der Moderne
2.3. Eine Frage der Identität
2.4. Angst um säkulare Moderne
3. Muslimische Identitätsfindung in Europa
3.1. Exkurs: Das Rechtsystem im Islam
3.2. Innermuslimische Grundpositionen des Islam in Europa
3.3. Die „Aufgaben der neuen Intellektuellen“
4. Tariq Ramadans Reformkonzept
4.1. Islam und Staatsbürgerliche Pflichten und Rechte
4.1.1. Die Achtung weltlich-säkularer Gesetze
4.1.2. Weg vom „Minderheiten Fiqu“ hin zur Partizipation
4.2. Neuerung der Konzepte
4.2.1. Dâr ash-shahâda: Die Auflösung der klassischen Dichotomie
4.2.2. Die Gefahr einer Islamisierung Europas?
5. Islamisches Rechtwesen im Bezug zum Westen
5.1. Ramadans Idschtihad Konzeption
5.2. Selbständiger Islam in Europa
5.3. Sein Zugang zu den normativen Quellen
6. Ramadan „Radikale Reform“: die Neubestimmung der klassischen Rechtsmethoden
6.1. Die Unterscheidung zwischen dem Unveränderlichen (ath-thâbit) und dem Veränderlichen (al-mutaghayyir)
6.2. Verschiebung des Schwerpunkts religiöser und rechtlicher Autorität
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Islam ist nach dem Christentum die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Frauen mit Kopftüchern und Halal-Geschäfte sind keine Randerscheinung mehr, sondern werden mehr und mehr zu einem Bestandteil Deutschlands. Das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft, welches bisher den Islam als Fremd definierte, sieht sich gezwungen das Wertespektrum zu hinterfragen, neu zu definieren und ggf. zu ergänzen. Den durchaus komplizierten Status des Islams in Deutschland zeigte sich nicht zuletzt in der Polemik, die 2010 durch die vom damaligen Bundespräsident getätigte Äußerung in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit „der Islam gehört zu Deutschland“ ausgelöst wurde. Sein Nachfolger, der derzeitigen Bundespräsident Gauck, relativierte gleich nach Amtsantritt diesen Satz, und stellt fest, dass zwar die vielen Muslime, die in Deutschland leben, dazu gehören, dass es jedoch durchaus zweifelhaft sei, ob man das von der islamischen Religion sagen kann, da diese, anders als das Christentum, den Prozess der Aufklärung noch nicht vollzogen habe. Dadurch betonte er, dass es eine Diskrepanz zwischen der christlichen (und evtl. jüdischen) Wertetradition Deutschlands und dem mitunter als problematisch gesehen kulturell-religiösen Erbe des Islam gibt. Zugleich stellte er damit die Vereinbarkeit von europäischem und muslimischem Selbstverständnis in Frage.
„Migranten“ der 2., 3. oder auch schon 4. Generation, die sowohl Deutsche als auch Muslime sind, fordern Anerkennung und suchen nach Wegen ihre Identitäten zu vereinbaren, indem sie sich gegen den ihnen aufgedrückten „Zwang sich zu entscheiden“ wehren.
In a society that is at best indifferent and at worst hostile to Islam, being a Muslim for this second generation is no longer a given.
(Cesari, 2009, S. 153)
Sie sind in der Tat mit dem bis vor kurzem als unlösbar dargestellten Problem konfrontiert, als Muslim ihrem Glaubensbekenntnis treu zu bleiben und als Staatsbürger das Grundgesetz und die Fundamente säkularer Demokratie anzuerkennen. Im Kern handelt es sich hier um Fragen der Zugehörigkeit und Identität: Wie sieht es mit der Vereinbarkeit der Werteordnung des Islam und des Pluralismus aus?
Wir müssen mit Muslimen über die konkreten Ausdrucksformen muslimischer „Identität“ diskutieren und klären, inwieweit sie in einer pluralistischen Demokratie ohne in Widerspruch zu den fundamentalen Verfassungsprinzipien zu geraten, freie Entfaltung finden können. (Kandel, 2004, S. 4)
Auch der Islam steht im europäischen Kontext vor einer schwierigen Situation: Anschauung und Tradition aus verschiedensten Ländern und damit äußerst heterogene Islamverständnisse treffen aufeinander und versuchen als muslimische Minderheit in einer historisch christlich-abendländischen, heute säkular pluralistischen Gesellschaft, ihren Platz zu finden. Um Orientierung zwischen Identitätsanomie1 (Vgl. Tibi, 1991) und radikalen Fundamentalismus und um die Suche nach neuen Wegen beide Identitäten zu vereinbaren, bemühen sich die „neuen muslimische Intellektuellen“ indem sie versuchen innerislamische Reformprozesse auszuarbeiten.
Um diesen nachzugehen, werde ich meine Arbeit an zwei Hauptsträngen orientieren. Nachdem schnell an das modern-säkulare Verständnis von Pluralismus erinnert wird, sollen zugleich dessen Grenzen anhand der Darstellung bestimmter Diskursperspektiven in Bezug auf den Islam aufgezeigt werden. Zuerst soll dafür auf die gesellschaftliche Ebene eingegangen werden, welche v.a. die europäische Wahrnehmung (und Abgrenzungsperspektive) zum Islam schildert aber auch die Identitätskrise muslimischer Bürger in Europa anspricht. Des Weiteren wird deshalb versucht zu ermitteln, inwieweit innerislamische Reformen des Rechts und der Jurisprudenz zu neuen europaspezifischen Problemlösungsstrategien führen könnten. Besonders werden dabei die Arbeiten Tariq Ramadans zur Neubestimmung der klassischen Rechtsmethoden beachtet, wobei oberflächlich die verwendeten Begriffe erklärt werden.
2. Islam im pluralistischen, säkularen Kontext Europas
2.1. Referenzrahmen
Pluralismus entstand im 20. Jh. aus neuen politisch-sozialen Begebenheiten: neue Vielfalt der Weltanschauungen, Mitspracherecht der in Interessengruppen organisierten Bürger und Anfang des Sozialstaates, d.h. Entscheidungsbedarf über gesellschaftliche Konflikte. Der an Tocqueville anknüpfende Neopluralismus wird von Fraenkel als Grundelement der Demokratie angesehen, da er wichtig ist für die Möglichkeit zur freien, politischen Willensbildung. Letztendlich wird der Pluralismus, basierend auf Menschenrechten, zum wesentlichen Strukturmerkmal demokratischer Gesellschaften.
Es geht darum, den Pluralismus der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in der modernen Gesellschaft politisch-rechtlich so zu gestalten, dass Freiheit und Gleichberechtigung aller ermöglicht werden (Bielefeldt, 2001) Voraussetzungen für den Pluralismus sind gegeben, wenn es einen Konsens und einen Dissens gibt, ein Konflikt in einer heterogenen Interessenlandschaft. Wichtig ist hier die Unterscheidung von einem gesellschaftlichen und einem rechtlichen Konsens. Ersteres kann immer wieder aufs Neue durch Gesellschafts- oder Strukturwandel in Frage gestellt werden, z.B. durch neue religiöse Gruppen, in diesem Fall muslimischer, die ihren Platz und Anspruch auf Mitspracherecht in der Gesellschaft fordert. Die Praktik des gesellschaftlichen Konsens könnte daher als stetiger Prozess verstanden werden.
Muslimische Gemeinschaften in Europa müssen einerseits ihre Gleichberechtigung mit der anderen Konfession einfordern und andererseits um die Anerkennung des Islam als (neues) europäisches Kulturgut kämpfen. (Bielefeldt, 2001)
Dieser ist nur möglich durch die Bestimmung und Etablierung eines rechtlichen Konsenses, welcher das Grundgesetz und die Menschenrechte immer als unbedingt nötig erachten sollte, da es sonst keine Kompromiss-Möglichkeit gibt. Je stabiler dieser rechtliche Konsens, desto offener ist die Konfliktaustragung aus der sich dann das Gemeinwohl ergeben kann. Wichtig in einer sich als pluralistisch begreifenden Demokratie sind die einvernehmliche Erkennung des Ordnungskonzepts und die Möglichkeit der Organisation in Interessengruppen, die Einfluss auf die Staatsgewalt haben. Außerdem sollte ein möglichst ausgeglichenes Machtverhältnis zwischen den verschiedenen Organisationen bestehen, wobei ein rechtlicher Schutz und die Gleichbehandlung der Oppositionen garantiert sein müssen. Zentral ist, dass keine Partei das einzige allgemeingültige Weltbild für sich beansprucht. Cesari hierzu:
Islam’s position within the relationship of church and state in various countries and Islam’s place with regard to secular institutions—represents another challenge for immigrants. The work of lawyers on legal pluralism and the adaptation or inclusion of Shari‘a has been increasingly instrumental in mediating this relationship.
(Cesari, 2009, S. 151)
Im Folgenden soll sich deshalb zum einem mit der gesellschaftlichen Ebene und zum
anderen mit der rechtlichen Ebene aus innerislamischer Perspektive auseinandergesetzt werden, um die wechselseitigen Hindernisse innerhalb des Pluralisierungsprozesses im Kontext „Islam in Europa“ aufzuzeigen.
2.2. Islam in der Moderne
Die Individualisierungsthese nach Beck (Beck, 1986), zeichnet den Übergang eines Menschen aus, der von der Fremd- bis zu Selbstbestimmung einen Prozess durchläuft. Er beschreibt in seinem Konzept den Übergang zur Moderne in den Industriegesellschaften Europas. Ähnlich, könnte der moderne, europäische Islam gedeutet werden, insofern es zu einer kollektiven Individualisierung kommt: Die Muslime in Europa lösen sich von den traditionellen Bindungen ihres Herkunftslandes und stellen dabei eine neue Wahlverbindung zwischen Herkunftsbindung (der Familie) und europäischen Zugehörigkeitsgefühl her. Diesen Moment der Freiwilligkeit, in dem die religiöse Zugehörigkeit nicht mehr ein „Erbe“ sondern eine selbstbestimmte Lebenseinstellung wird, ist die moderne individualisierte Identitätsbildung. Jene individualisierte, da selbstgewählte Religiosität, kann sich daraufhin in einem Kollektiv Element verwandeln, indem sich eine neue Gemeinschaftsbildung „Individualisierter Gläubiger“ bildet. Dieses Kollektiv fordert nun seine Rechte ein. Wie Bielefeldt betont, ist Religion nicht nur privat, sondern hat auch ihren Ort in der Öffentlichkeit und somit in der Politik (Bielefeldt, 2001). In der Tat muss in einer sich als pluralistisch begreifenden Gesellschaft garantiert sein, dass der politisch rechtliche Status der einzelnen Bürger unbedingt unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit ist. Dies bedeutet nicht nur, dass eine Benachteiligung untersagt sein muss, sondern auch dass die Möglichkeit zur Mitgestaltung ermöglicht, wenn nicht sogar erwünscht sein sollte. Rechtsstaatliche Säkularität im Kontext des Pluralismus bedeutet also die institutionelle Trennung von Religion und Politik ohne das Teilhaben am politischen Leben und das Mitspracherecht für alle Glaubensentwürfe zu beeinträchtigen, damit eine gleichberechtigte Partizipation aller Mitglieder der pluralistischen, d.h. multireligiösen Gesellschaft garantiert ist. Die rechtsstaatliche Säkularität basiert dabei auf den Menschenrechten, in diesem Falle dem der Religionsfreiheit, welches, wie jedes Menschenrecht, Gleichberechtigung verlangt. Pluralismus ist somit nicht das Dulden anderer Lebensweisen parallel zur Mehrheitsgesellschaft, sondern ihre Anwesenheit in der Mehrheitsgesellschaft.
Dennoch scheint dieses Prinzip in Europa nicht gewährleistet, da:
Etatistische Ordnungspolitiker, die sich auf die Komplexität der multireligiösen Gesellschaft inhaltlich nicht einlassen wollen, mögen versucht sein, die vielfältigen Forderungen der Religionsgemeinschaften - vom schulischen Religionsunterricht über den Bau von Gebetsstätten bis zum rituellen Schlachten -mit modernistischer Attitüde als Dunkelmännertum abzutun. Kopftuchtragende muslimische Frauen und Mädchen sehen sich nicht nur im laizistischen Frankreich, sondern auch in Deutschland dem Vorwurf ausgesetzt, rückständig zu sein und sich der Moderne zu verweigern.
(Bielefeld, 2001)
2.3. Eine Frage der Identität
Eine Studie von Detlef Pollack besagt: Fast die Hälfte der Deutschen fühlt sich durch Religionsvielfalt in der eigenen Identität bedroht und die meisten (72% der Westdeutschen) sehen darin ein Grund für gesellschaftliche Spannungen.
Von Angst geleitet ist der Pluralismus, wenn er sich der Herausforderung Islam gegenüber sieht: Es ist die schlichte Angst, dass der Islam Ansprüche erheben könnte, die der Pluralismus nicht in sich integrieren könnte. Es ist also die Angst, dass der Islam selbst Maßstäbe ansetzen könnte, die den Pluralismus in Frage stellten. Dies aber wäre die Angst um die eigenen Absolutheitsansprüche und der Pluralismus wäre gefangen in seiner essentiellen Widersprüchlichkeit.
(Pollack, 2009)
Die Angst vor dem Islam, also die Islamophobie, wird zudem in den Medien und öffentlichen Debatten durch Negativbilder und Verallgemeinerungen geschürt2. Berichterstattungen von Terroranschlägen und Ehrenmorde bis zum Kopftuchstreit verfestigen ein monolithisches, essentialistisches Bild des Islam, welches durch populistische Diskurse der Politik (Vgl. Sarazzin oder Buschkowsky) negative Ressentiments und Ablehnungshaltungen verstärken. So denken laut Pollacks Studie über 80% der Deutschen beim Stichwort „Islam“ an Benachteiligung der Frau, über 70% an Fanatismus, über 60% an Gewaltbereitschaft hingegen aber nur knapp über 5% an Friedfertigkeit oder Achtung der Menschenrechte. Auch berichten vermehrt Organisation wie der Rat der Ex-Muslime oder Klischee-bestätigende Stimmen von Muslimen und Migranten über ihre negativ Erfahrungen mit dem Islam in Polittalk Shows auf, wie etwa Kopftuchgegnerin Kelek Necla, berühmt geworden durch ihren Roman über Zwangsheirat „Die fremde Braut“. Solche extremen Erlebnisse und Erfahrungsberichte (welche zumeist eher auf kulturell bedingte starke Patriarchialestrukturen denn auf Religion zurückzuführen sind) werden von der Gesellschaft dabei oft unreflektiert und Klischee-bildend aufgenommen, da ein Pendant „friedlicher“ religiöser Praxis in den Berichterstattungen oftmals fehlt. Redundant erscheinen nicht nur in diesem Berichte Wörter wie „Schattengesellschaft“,
„Gefahr“, „bedrohlich“, „Angst“ und „fürchten“. Auch Bassam Tibi, Politikwissenschaftler der (zumindest im deutschsprachigen Raum) den Begriff „EuroIslam“ prägte, sieht die islamische Rechtsprechung als ein Hauptproblem und findet, dass es eine dichotome Entgegensetzung zwischen islamischer und westlicher Kultur, v.a. in Hinblick auf die Menschenrechte, gibt:
Angesichts der Dominanz vormoderner Werte und Normen in der politischen Kultur des Islam ergibt sich der Gegensatz zwischen dem Islam und dem modernen Konzept der Menschenrechte und damit ein Konflikt zwischen islamischer und westlicher Zivilisation.
(Tibi, 1994, S. 48)
Thomas Assheuer kommentiert diese Art von politischer ausgrenzung Rhetorik ironisch in die Zeit vom 16.02.2006 im Rahmen der kontroversen Debatte um den „Fall Rushdie“, welche europaweit durch eine hoch emotionale Argumentation geprägt war:
Mit einem Wort: Der Islam ist der große Andere, und der Gegensatz, den er zum freiheitlichen Westen bildet, ist so absolut und existentiell wie die Antithese Freund und Feind.
Dabei haben die gesellschaftlichen Auswirkungen der internationalen Krisen und soziopolitischen Zusammenhänge den Umgang mit dem Islam maßgeblich beeinflusst (Vgl. Cesari, 2009, S. 152). Geopolitische Interpretationen des Islam führen dabei oft zu stereotypischen, orientalistischen Annahmen, wodurch die islamische Botschaft zwangsläufig als gewalttätig interpretiert wird. Dies vereinfacht in der Tat den Prozess des othering, der Alterisierung: Das bedrohende Bild des diagonal entgegengesetzten Anderen bestätigt die eigene Identität des Westens.
In der Tat scheint der Islam dadurch die ideale Leinwand für das gefühlte Unbehagen zu sein, welches hinsichtlich der „Einwanderer und ihrer Kinder“ aufkommt. Es kommt zu einer
Überlagerung verschiedener Dimensionen der Andersheit […] die alle einzelnen fragen […] verschärft. Der Einwanderer, der religiöse Andere, der rassisch Andere, der sozioökonomisch unterprivilegierte „Andere“: das scheint alles zusammen fallen. Zudem werden jetzt alle diese Dimensionen von „Andersheit“ vom Islam überlagert, so dass der Islam zum „Anderen“ im stärksten Sinne wird.
(Casanova, 1996, S. 348)
Es darf demnach nicht länger eine Verallgemeinerung des Islams stattfinden. Die signifikanten Unterschiede der islamischen Identitäten muss aufgrund der Dialektik zwischen einer muslimischen Gruppe und ihren sozialen Begebenheiten herausgearbeitet werden. Große Auswirkung haben hierbei, wie schon erwähnt, die „western public sphere that are creating a metanarrative of Islam“ (Cesari, 2009, S. 166). Laut einer 2011 durchgeführten Studie zur „Lebenswelt junger Muslime in Deutschland“ vom Bundesministerium des Innern:
empfanden die muslimischen Teilnehmer die Aufrechterhaltung einer positiven muslimischen Identität als bedroht. Einerseits äußern sie fast ausnahmslos, sich als Muslime von der westlichen Gesellschaft diskriminiert zu fühlen […]: Dadurch stellte sich bei den Probanden das Gefühl ein, dass Mitglieder der westlichen Gesellschaft (unter anderem der deutschen Gesellschaft) Muslime prinzipiell negativ beurteilen. Besonders konkret wurde dies in der Bewertung der medialen Berichterstattung über muslimische Akteure, die als einseitig und eher konfliktschürend wahrgenommen wurde.
(Frindte u.a., 2011)
Muslime in Europa sind mit der negativ Spiegelung ihrer Religion in der Öffentlichkeit, der Politik und den Medien konfrontiert. Hinzu kommt, dass oftmals das komplexe Zusammenspiel von Herkunft, Ethnie, Kultur und Religion, sowie die eigenständige Dynamik des entterritorialisierten Islams ausblendet wird.
Die Debatte um Multikulturalismus und die Rolle der Religion in einer Zivilgesellschaft steht bei uns noch am Anfang. Wir müssen uns mit einer Religion auseinandersetzen, die uns, weil wir uns inzwischen an unsere etablierten christlichen Konfessionen gewöhnt und sie komfortabel „integriert“ haben, sehr fremd und bedrohlich erscheint.
(Kandel, 2004; S. 4)
Bryan S. Turner spricht im Zusammenhang der immer wieder aufkommenden Beurteilung des Islam von einem „cluster of abscences“ (Turner, 1994): jener wird in dieser orientalistischen Perspektive als defizitär beschrieben, wobei stehst der Westen als Maßstab dient. In ihrem Aufsatz „Über den Nutzen und Missbrauch der Islamwissenschaften“ prangert Gudrun Krämer eben diese Tendenz zum Neo- Orientalismus als „ein Projekt, das den Islam als eine abgegrenzte, homogene und zeitlose Einheit darstellt […] ‚konstruiert‘ oder ‚repräsentiert‘“ (Krämer, 2000) an.
2.4. Angst um säkulare Moderne
Problematisch wird es, wenn die Betrachtungen der zeitgenössischen Islams von Webers abgeleiteten Axiomen beeinflusst sind. Kritisch hierbei ist, dass der Islam dabei als eine Einheit gesehen wird. Dies führt dazu, dass es zu einer Verallgemeinerung und Vereinfachung des Islams kommt und die Rolle der islamischen Doktrin im individuellen Handeln übertrieben wird. Außerdem wird dadurch die Analyse der Beziehung zwischen Islam und Moderne unterbunden. Nicht zuletzt beruht der weberianische Trugschluss auf Eurozentrismus und dem Glaube an die westliche Überlegenheit. Es wird also erwartet, dass die Entwicklung der Muslime zwangsläufig in Richtung assimmilativer Übernahme und Anpassung an westlichen kulturellen und säkularen Normen führt. Die als universell angenommene Entwicklung, welche Moderne mit Säkularisierung gleichsetzt, muss nicht zuletzt in Hinblick auf die Türkei revidiert und hinterfragt werden. In der Tat schien die Säkularisierungtheorie mit der weberianischen „Entzauberung der Welt“ zu vergessen, dass es sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um eine Kausalität, sondern vielmehr um eine geschichtlich bedingte Entwicklung handele. Timothy Garton Ash ist besorgt über eine mögliche Entfremdung der in Europa geborenen Muslime. Auch er verbindet die „Schwierigkeiten Europas mit seinen Muslimen“ v.a. mit der „hysterischen Vereinfachung“ des Feindbild Islam, welches stätig mit Bombenanschlägen und Terrorismus in Verbindung gebracht wird.
Solche Selbstmordattentäter sind natürlich nicht repräsentativ für die große Mehrheit der Muslime, die friedlich in Europa leben; sie sind aber fraglos, auch als ausnahmen, extreme Symptome einer viel umfassenderen Fremdheitserfahrung der Kinder muslimischer Immigranten in Europa. (Ash, 2007 zitiert aus Chervel/ Seeliger, 2007) Vertreter der Unvereinbarkeit von pluralistischem Rechtsstaat und Islam sind jedoch auch auf muslimischer Seite zu finden: Islamistische Gelehrte propagieren in der Tat ein „islamisches System“ (Vgl. Haddad, 1983), welches die Scharia als einzige verpflichtende und bindende Rechtsprechung sieht. Reformer währen sich gegen das Stigma der Unvereinbarkeit des Islams mit den Menschenrechten.3
Doch auch das andere Extrem, dass alle Muslime, gleich einer Ayaan Hirsi Ali4, zu Verfechter des Säkularismus, des Laizismus oder sogar „Fundamentalisten der Aufklärung“ werden , wie es sich einige intellektuelle wünschen, kann und darf nicht erwartet werden.
[...]
1 Der aus Durkheims Konzept der Anomie abgeleitete Begriff stellt einen Zusammenhang zwischen den Rückgang von religiösen Normen und Werten und den Störungen und Verringerung der Identifizierungsmöglichkeiten, was wiederum zu einer Störung der sozialen Ordnung führt und eine fehlende gesellschaftliche Integration hervorruft, her.
2 Vgl. Bemerkungen von Karakasoglu, Yasemin / Terkessidis, Mark: Gerechtigkeit für Muslime. In: Die Zeit, 01.02.2006 Nr.6.
URL [02.02.2013]: http://www.zeit.de/2006/06/Petition
3 Vgl. "The aim of this book is to contribute to the process of changing Muslim perceptions, attitudes, and policies on Islamic and not secular grounds." (An-Na'im, 1990, S. 10.)
4 Siehe Debatte im Perlentaucher (http://www.perlentaucher.de) zu „Islam in Europa“.