Erzählzeit und erzählte Zeit in Thomas Manns Roman "Der Zauberberg"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

16 Seiten


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit
2.1 Begriffliches
2.2 Erzählzeit und erzählte Zeit im Roman „Der Zauberberg“
2.3 Analyse der Kapitel in Hinblick auf Erzählzeit und erzählte Zeit
2.4 Bedeutung des Erzählers

3. Fazit

Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur

1. Einleitung

„Ja, die Zeit ist ein rätselhaftes Ding, es hat eine schwer klarzustellende Bewandtnis mit ihr!“1

Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erzählt die Geschichte Hans Castorps, der seinen Vetter im Sanatorium „Berghof“ besuchen möchte. Aus den geplanten drei Wochen werden sieben Jahre, die Hans Castorp auf dem Zauberberg verbringt. Er befindet sich an einem Ort, an dem die Regeln und Zeitverhältnisse des „Flachlandes“ außer Kraft gesetzt sind verliert immer mehr seinen Zeitsinn. Hans Castorp ist von dieser Umgebung wie verzaubert, sodass es ihm am Ende nicht möglich ist das Sanatorium zu verlassen. Nur durch den „Donnerschlag“ des Ersten Weltkrieges wird er aus deiner Verzauberung gerissen und kehrt in das Leben im „Flachland“ zurück.

In diesem Roman stellt sich häufig die Frage nach der Zeit. Der Erzähler verweist bereits zu Beginn auf mehrere Ebenen, von denen aus sich die Zeit betrachten lässt. Zum einen beschreibt er das Imperfekt als die Zeitform in der die Geschichte erzählt wird, zum anderen wird auf die historische Zeit eingegangen, in der die Erzählung stattfindet.2 Im Anschluss wird die Abhängigkeit von Raum und Zeit in Bezug auf die Kurz- und Langweiligkeit in Frage gestellt, bevor auf die erzählte Zeit der Geschichte eingegangen wird:

„Im Handumdrehen also wird der Erzähler mit Hansens Geschichte nicht fertig werden. Die sieben Tage einer Woche werden dazu nicht reichen [...]. Es werden, [...], ja nicht geradezu sieben Jahre sein!“3

Schon im Vorsatz des Romans wird also die Zeit als zentrale Problematik thematisiert, da die wesentlichen Aspekte, unter denen Zeit im Zauberberg betrachtet wird, bereits aufgeführt werden. Diese Arbeit soll das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit im Roman „Der Zauberberg“ untersuchen. Hierzu ist es anfangs notwendig, diese beiden Begriffe zu definieren und zu erläutern. Im Anschluss wird die Erzählzeit und die erzählte Zeit im Hinblick auf den gesamten Roman dargestellt. Die einzelnen Kapitel werden im Gliederungspunkt 2.3 analysiert. Abschließend wird noch auf die Bedeutung des Erzählers hinsichtlich der Erzählzeit und erzählten Zeit eingegangen.

2. Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit

2.1 Begriffliches

Nach Martinez und Scheffel (2009) ist der Akt des Erzählens, wie jedes Geschehen, ein zeitli- ches Phänomen.4 Erzählen ist immer ein „[...] Erzählen von etwas, das nicht selbst Erzählung ist.“5 Ebenso kann aber auch die Mittelbarkeit als Gattungsmerkmal der Erzählung betrachtet werden.6 Dies hat zur Folge, dass man mit zwei verschiedenen Zeitvorgängen konfrontiert wird. Thomas Mann lässt seinen Erzähler im Zauberberg diesbezüglich folgendes sagen:

„Die Erzählung [...] hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ih- ren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß [sic!] die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr ent- fernen kann.“7

Im obigen Zitat werden also zwei Zeiten einer Erzählung unterschieden: die musikalisch-reale und die ihres Inhalts.

Günther Müller hat erstmals die besonderen Zeitverhältnisse der Erzählung reflektiert und das Begriffspaar erzählte Zeit vs. Erzählzeit definiert.8 Nach Müller (1968) kann „die Druckseite als Maß für die physikalische Zeit genommen [...] werden, die der Erzähler zum Erzählen seiner Geschichte braucht.“9 Die erzählte Zeit hingegen meint die Dauer der erzählten Ge- schichte.10

Die Erzählzeit beschreibt also die Zeit, die der Erzähler benötigt, um eine Geschichte zu er- zählen, beziehungsweise die erforderliche Zeit des Lesers, um die Geschichte zu lesen.11 Sie stellt somit ein Verhältnis zwischen discours (Art und Weise, wie erzählt wird) und histoire (Geschichte) dar.

Dieses Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit bezeichnet man als Erzählgeschwindigkeit oder Erzähltempo.

Die in einem Text erzählte Geschichte (histoire) evoziert „eine bestimmte Realität, Ereignisse, die stattgefunden haben, Personen, die, aus dieser Perspektive betrachtet, sich mit solchen aus dem wirklichen Leben vermischen. Dieselbe Geschichte hätte uns auch auf andere Weise vermittelt werden können, [...] ohne daß [sic!] sie in einem Buch fixiert sein müßte [sic!].12

Die Ebene des discours wird folgendermaßen definiert:

„Es gibt einen Erzähler, [...] der die Geschichte erzählt; und es gibt ihm gegenüber einen Leser, der sie aufnimmt. Auf dieser Ebene zählen nicht die erzählten Ereignisse, sondern die Weise, wie der Erzähler dafür gesorgt hat, daß [...] wir sie kennenlernen.“13

Erzählzeit und erzählte Zeit stimmen nur dann in der Zeit überein, wenn szenisch dargestellt wird, beispielsweise bei der wörtlichen Wiedergabe in einer Dialogszene ohne Auslassungen oder Erzähleinschübe. Der Begriff des zeitdeckenden Erzählens stellt nach Lämmert (1955) eine Vereinfachung dar, wenn man die „[...] unterschiedlichen Sprechgeschwindigkeiten einzelner Sprecher sowie Gesprächspausen und mögliche Überschneidungen zwischen den einzelnen Äußerungen [...]“14 berücksichtigt.

In Anlehnung an Lämmert sind fünf Grundformen der Erzählgeschwindigkeit möglich: das zeitdeckende Erzählen (Szene), zeitdehnendes Erz ä hlen (Dehnung), zeitraffendes bzw. sum marisches Erz ä hlen (Raffung), Zeitsprung (Ellipse) und Pause.15

Auf eine detaillierte Beschreibung der Begriffe wird an dieser Stelle verzichtet, da dies den Umfang dieser Seminararbeit übersteigen würde. Das Werk „Einführung in die Erzähltheo- rie“16 von Martinez und Scheffel kann zur Vertiefung der Thematik herangezogen werden.

2.2 Erzählzeit und erzählte Zeit im Roman „Der Zauberberg“

Im Hinblick auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ weist die Erzählzeit einen Umfang von sieben Kapiteln beziehungsweise, je nach Ausgabe, circa 1000 Druckseiten auf, während die in diesem Rahmen erzählte Geschichte Hans Castorps einen Zeitraum von sieben Jahren beschreibt.

Die Datierung der erzählten Zeit kann nur vorgenommen werden, da Hinweise auf die kalendarische Zeit eingefügt wurden. Dies findet sowohl zu Beginn des Romans im Vorsatz „Es werden, in Gottes Namen, ja nicht geradezu sieben Jahre sein!“17 aber auch gegen Ende „Sieben Jahre blieb Hans Castorp bei Denen hier oben“18 statt.

Die Einteilung des Zauberbergs in sieben Kapitel erstreckt sich somit über einen chronologischen Zeitraum von sieben Jahren.

Auf der Ebene der „musikalisch-realen“ Zeit gliedert sich der Roman in einen Vorsatz und sieben Kapitel, die sich stetig im Umfang der Druckseiten steigern. Das erste Kapitel umfasst beispielsweise sechzehn Seiten, wohingegen das letzte Kapitel über zweihundert Seiten lang ist. Die Länge der Kapitel nimmt also mit dem Fortscheiten der Geschichte zu. Mehr als die Hälfte der gesamten Seitenanzahl (ungefähr 550 Seiten) ist notwendig, um von den Ereignissen nur eines Jahres zu erzählen. Auf den restlichen fünfhundert Seiten werden ganze sechs Jahre rekapituliert.

Dies bedeutet, dass mit zunehmender Geschwindigkeit erzählt wird und Zeitspannen, die Ereignisse voneinander trennen, im Erzählen vernachlässigt werden. Gemessen an der Seitenzahl der jeweiligen Kapitel, ist das Verhältnis zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit also nicht proportional.19 Ricoeur beschreibt dies folgendermaßen:

„Einerseits wird die Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit unaufhörlich kürzer; an- dererseits schafft die Verlängerung der Kapitel im Zusammenhang mit der Verkürzung der Erzählung eine perspektivische Wirkung, die für die Mitteilung der zentralen Erfah- rung, der inneren Auseinandersetzung des Helden mit dem Verlust des Zeitsinns, wesent- lich ist.“20

Im Folgenden Abschnitt wird das Verhältnis der Erzählzeit und der erzählten Zeit bezüglich der einzelnen Kapitel des Romans exemplarisch dargestellt und genauer betrachtet.

2.3 Analyse der Kapitel in Hinblick auf Erzählzeit und erzählte Zeit

Die sieben Kapitel des Romans beschreiben unterschiedliche Zeiträume von Hans Castorps Aufenthalt im Lungensanatorium.

Das erste Kapitel beschreibt Castorps Ankunft sowie seinen ersten Tag auf dem „Berghof“. Die erzählte Zeit umfasst hier die Dauer, als „ein einfach junger Mensch [...] im Hochsommer von Hamburg [...] nach Davos-Platz“21 reiste. Und endet als „[...] der Morgen durch seine halboffene Balkontür graute und ihn weckte.“22 Die benötigte Erzählzeit hierfür beträgt wie oben bereits beschrieben sechzehn Seiten.

Kapitel zwei beinhaltet eine Rückblende in Hans Castorps Jugend. Da es sich um einen Rückblick handelt, kann dieses Kapitel für das direkte Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit außer Acht gelassen werden.

Das dritte Kapitel schließt chronologisch unmittelbar an das Ende des ersten Kapitels an. Auf 64 Seiten werden Hans Castorps erster Morgen im Sanatorium, das Frühstück, das Kennenlernen Settembrinis und die restlichen Stunden des Tages beschrieben. Der Tagesablauf wird zeitdeckend erzählt, vor allem die Unterhaltung zwischen Hans Castorp, seinem Vetter Joachim Ziemßen und Lodovico Settembrini.23

Es lässt sich somit zusammenfassen, dass die ersten drei Kapitel mehr oder minder zeitdeckend erzählt werden. Dies geschieht, da sich der Protagonist nach seiner Ankunft im „Berghof“ in einer für ihn neuen Umgebung einfindet. Der Erzähler beschreibt dem Leser also umfassend Hans Castorps Wahrnehmungen.

Kapitel vier berichtet über den Zeitraum bis zum Ende der dritten Woche. Hierbei ist eine Veränderung zwischen dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit deutlich zu erken- nen.

Erstmals werden Raffungen des Tagesablaufes vorgenommen, der in den Kapiteln zuvor noch detailreich dargestellt wurde. So wird mit den Auszügen „[e]s schneite den ganzen Nachmittag fort“24 und „[a]m nächsten Morgen schneite es nicht mehr“25 die Beschreibung des Zeitraumes eines Nachmittags sowie des Abends und der Nacht ausgelassen.

[...]


1 Mann (2002), S. 216.

2 Vgl. ebd., S. 9f.

3 Ebd., S. 10.

4 Vgl. Martinez; Scheffel (2009), S. 30.

5 Müller (1968), S. 250.

6 Vgl. Stanzel (1964), S. 15-38.

7 Mann (2002), S. 817.

8 Vgl. Müller (1968), S. 247-268.

9 Ebd. S. 270.

10 Vgl. Martinez; Scheffel (2009), S. 31.

11 Vgl. ebd.

12 Todorov (1966), S. 132 zit. n. Martinez; Scheffel (2009), S. 23.

13 Ebd.

14 Martinez; Scheffel (2009), S. 39.

15 Vgl. Lämmert (1955), S. 83f. zit. n. Martinez; Scheffel (2009), S. 39f.

16 Vgl. Martinez; Scheffel (2009), S. 39-44.

17 Mann (2002), S. 10.

18 Ebd., S. 1070.

19 Vgl. Ricoeur (2007), S. 193.

20 Ebd., S. 193f.

21 Mann (2002), S. 11.

22 Ebd., S. 33.

23 Vgl. ebd., S. 90-96.

24 Ebd., S. 144.

25 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Erzählzeit und erzählte Zeit in Thomas Manns Roman "Der Zauberberg"
Autor
Jahr
2016
Seiten
16
Katalognummer
V346627
ISBN (eBook)
9783668360563
ISBN (Buch)
9783668360570
Dateigröße
757 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erzählzeit, zeit, thomas, manns, roman, zauberberg
Arbeit zitieren
Anne Hamburger (Autor:in), 2016, Erzählzeit und erzählte Zeit in Thomas Manns Roman "Der Zauberberg", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/346627

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