Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Autobiografische Intention
2.1 Charakterisierung Thamars
2.2 Agnes E. Meyer
3. Thomas Manns philosophische Grundlagen und sein Künstlerbegriff
3.1 Arthur Schopenhauer
3.2 Arthur Schopenhauer in der Thamar-Novelle
4. Thamars Ausgleichfunktion für Juda
5. Hervorhebung Thamars
5.1 Das Frauenbild in der Thamar-Novelle
5.2 Thamars gegensätzliche Darstellung
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Novelle „Thamar“ ist Teil des vierten Bandes der Josef-Romane „Josef der Ernährer“ von Thomas Mann. Gegenüber der biblischen Vorlage gestaltete der Autor die Novelle und insbesondere die Figur Thamar stark aus. Zusätzlich ist die Novelle literarisch eigenständig. Es ist daher nahe liegend, die Novelle auf Intentionen und Ideen Thomas Manns zu untersuchen. Zunächst werde ich nach autobiografischen Gründen aus dem Umfeld Thomas Manns suchen, da sein Werk unbestritten ein autobiografisches ist (vgl. Kurzke 1995, S.183). Danach werde ich die Thamar-Novelle auf Spuren von Thomas Manns philosophischen Grundlagen untersuchen. Anschließend werde ich der These Käte Hamburgers nachgehen, das die Thamar-Novelle und der Charakter Thamars der genaueren Beschreibung der Figur Judas dienen. Weiterhin werde ich zeigen, warum die etwas seltsame biblische Vorlage Raum für eine solche Ausgestaltung der Thamar-Figur gab. Abschließend werde ich die These verfolgen, dass Thomas Mann in Thamar die Möglichkeit sah und nutzte, eine biblische Frauengestalt seiner Zeit gemäß zu gestalten, da sich die Stellung der Frau in der Gesellschaft gewandelt hatte.
2. Autobiografische Intention
In diesem Abschnitt soll untersucht werden, inwiefern sich das Umfeld Thomas Manns auf die Josef-Romane und speziell die Thamar-Novelle ausgewirkt hat. Um eine mit Thamar vergleichbare Figur zu finden, muss zunächst eine Charakterisierung Thamars erfolgen.
2.1 Charakterisierung Thamars
Thamar wird vom Erzähler als einfache Bauerntochter ohne Verbindung zur Sippe Jaakobs in die Novelle eingeführt, welche durch ihre „astartische Anziehungskraft“ (Mann 1956, S.6), also ihre erotische Ausstrahlung, auffällt. Sie wird als wissbegierig und als „Sucherin“ (Mann 1956, S.24) beschrieben, die alles, was man sie lehrt, in sich aufsaugt. Thamar ist auf der Suche nach geistiger Führung, da sie mit den Göttern ihres Volkes nicht zufrieden ist (vgl. Mann 1956, S. 23ff). Sie ist die Person, die von Jaakob, dem „Geschichtenschweren“ (Mann 1956, S.25), das heißt dem weisen Oberhaupt der Sippe, gelehrt wird.
Daran erkennt man ihre Intelligenz und ihre privilegierte Stellung gegenüber den anderen Sippenmitgliedern, weil sie diejenige ist, die „ganz allein gewürdigt war, es zu hören“ (Mann 1956, S.35). Jaakob lehrt sie die gesamte biblische Geschichte der Menschheit von der Schöpfung bis zum in der Zukunft liegenden Erscheinen des Messias (vgl. Mann 1956, S.33ff). Durch die Art, wie Thamar sich Zugang zur Familie Jaakobs verschafft und wie sie ihren Eintritt in den Stammbaum Jesu betreibt, wird sie vom Erzähler als ehrgeizig und entschlossen dargestellt. Diesen Eigenschaften wird vom Erzähler großes Gewicht beigemessen, da er sie vielfach und eindringlich beschreibt (vgl. Mann 1956, S.36, 47, 52). Thamars Intelligenz ermöglicht ihr, verbunden mit ihrer Entschlossenheit, aus den Lehren Jaakobs ihre ganz eigene Lebensaufgabe zu entwickeln, die Einschaltung in den Stammbaum des Shiloh.
Ein weiterer wichtiger Charakterzug Thamars ist die durch den Erzähler besonders herausgestellte Ehrgeiz-Liebe. Thamar liebt Juda nicht aufgrund seines Wesens, sondern wegen seiner Position im Stammbaum des Shiloh. Sie widmet ihr Leben einer Idee, ihrem Glauben (vgl. Mann 1956, S.37). Sie ergreift die Initiative, um den Stammbaum des Shiloh durch ihre Kraft und Entschlossenheit zu stützen, der durch Judas verdorbene und kränkliche Söhne gefährdet war (vgl. Mann 1956, S.38). Sie ist also eine Frau, die ihr Leben dem Ziel widmet, in der Weltgeschichte mitzuspielen. Dabei geht sie berechnend und beharrlich vor. Das zeigt sich, als sie sogar Shelahs neunzehnten Geburtstag abwartet, nachdem Juda sie nach Onans Tod vertröstet hat (vgl. Mann 1956, S.52).
2.2 Agnes E. Meyer
Thomas Mann bediente sich auf der Stoffsuche für seine Werke oft aus seinem Umfeld, da das Erfinden nicht zu seinen Stärken gehörte (vgl. Reents 2001, S.165). Daher ist anzunehmen, dass auch Thamar einen Ursprung in Thomas Manns Umgebung hatte. Die Thamar-Novelle entstand in der Exilszeit Thomas Manns in Amerika. Für die meisten deutschen Emigranten bedeutete das Exil den finanziellen Ruin und die Zerstörung ihrer Existenz. Thomas Mann blieb dieses Schicksal erspart. Zum einen sorgte sein Weltruhm dafür, dass er auch in Amerika bekannt war. Zum anderen gab es eine einflussreiche Person, die ihn maßgeblich unterstützte: Agnes E. Meyer, eine deutschstämmige Ehefrau des sehr einflussreichen Herausgebers der Washington Post. Die beiden hatten jahrelang Kontakte durch Treffen und Briefwechsel. Edo Reents vermutet, dass Agnes E. Meyer in die Thamar Figur eingeflossen ist. Er schreibt Agnes E. Meyer ähnliche Charaktereigenschaften zu wie Thamar. Sie sei eine intelligente Frau gewesen, die „in ihn [Thomas Mann] oder zumindest seinen Geist verliebt“ (Reents 2001, S.136) war. Obwohl Thomas Mann sie nicht leiden konnte und das auch nur ungeschickt verbarg, versuchte sie über Jahre hartnäckig, sich ihm zu nähern. Sie ermöglichte Thomas Mann und seiner Familie eine schnelle Einreise und sicherte dessen finanzielle Existenz, indem sie ihm eine gut bezahlte Anstellung verschaffte. Sie schien keine Grenzen in ihren materiellen Hilfen für Thomas Mann und seine Familie zu kennen, worin sich ihre Entschlossenheit zeigt. Edo Reents resümiert daher:
„ihr aufdringlicher Ehrgeiz, die Hartnäckigkeit, mit der sie an den Lippen des Geschichtenerzählers Jaakob hängt, deuten auf die Konstellation Thomas Mann – Agnes E. Meyer: Der Romancier hat in ihr eine treue Zuhörerin, die, indem sie sich in sein Leben einmischt, Teil hat an der Weltgeschichte“ (Reents 2001, S.139).
Ein Grund für eine derartige Ausgestaltung der Thamar-Figur gegenüber der biblischen Vorlage ist also die Bekanntschaft Thomas Manns mit Agnes E. Meyer. Deren jahrelange Annäherungsversuche inspirierten ihn zu Thamars Beharrlichkeit und Entschlossenheit. Thamar hat den gleichen inneren Drang nach geistiger Führung wie Agnes E. Meyer, genauso wie den Drang weltgeschichtlich zu werden (vgl. Mann 1956, S.36).
3. Thomas Manns philosophische Grundlagen und sein Künstlerbegriff
Um die Untersuchung der Novelle weiterführen zu können und dadurch auf Intentionen schließen zu können, ist es nötig, weitere Einflüsse auf Thomas Manns Werk aufzudecken. Er selbst bezeichnete Schopenhauer, Nietzsche und Wagner als die Personen, die „fundamentalen Einfluß auf sein Werk“ (Kurzke 1997, S.111) hatten.
3.1 Arthur Schopenhauer
Laut Wolfgang Korfmacher war Arthur Schopenhauer (1788-1860) der letzte Philosoph, der eine Systemphilosophie entwickelte, d.h. eine Philosophie, die versucht, die Welt als Ganzes zu beschreiben. Er war Begründer des Pessimismus, einer verneinenden Einstellung zum Leben. Das Leben ist seiner Ansicht nach nicht lebenswert. Des Weiteren formte er den Begriff von der Welt des Willens. Der Intellekt des Menschen, sein Geist und seine Vernunft stehen laut Schopenhauer im Dienste des Triebe und des Willens des Menschen. Der Geist hat sekundäre Funktion, indem er die vom Willen ausgeführten Handlungen nachträglich rechtfertigt. Der Geist und die durch ihn erlangten Erkenntnisse sind also von den Interessen des Willens geleitet, d.h. wir begreifen nach Schopenhauer nur das, was unser Wille auch begreifen will. Diese Konstellation von Willen und Geist bezeichnet er als den Primat des Willens (vgl. Korfmacher 1994, S.7ff). Schopenhauer liefert laut Hermann Kurzke die philosophische Grundkonzeption für das Schaffen Thomas Manns. Er betrachtete sich als Künstler im Schopenhauer’schen Sinne. Aufgabe der Kunst nach Schopenhauer ist das Freimachen des Geistes vom Willen (vgl. Kurzke 1997, S.117ff).
3.2 Arthur Schopenhauer in der Thamar-Novelle
Die Einflüsse von Schopenhauers Lehre auf die Thamar-Novelle sind auffällig. Sowohl in der Figur Jaakob als auch in der Figur Juda ist der Primat des Willens zu erkennen. Nach Josefs Tod beginnt Jaakob sich einzubilden, er hätte Josef willentlich Gott geopfert, als er ihn nach Schekem schickte. „Er glaubte es nicht immer (…) Aber der Wunsch, es zu glauben, obsiegte zuweilen“ (Mann 1956, S.14). Hier zeigt sich der Geist Jaakobs in seiner sekundären Funktion bei der Rechtfertigung eines Geschehens. Diese Erklärung für den Tod Josefs ist so beschaffen, wie Jaakobs Wille es ihm erlaubt. Sonst könnte Jaakob sein Selbstbild nicht aufrechterhalten, denn „Zu Gottes Ehren geschah diese Einbildung und zu seiner eigenen“ (Mann 1956, S.14). D.h. nur mit dieser Gedankenkonstruktion kann Jaakob vor sich selbst seine Ehre behalten.
Noch stärker dargestellt ist die Vorherrschaft des Willens gegenüber dem Geist bei Juda. Er wird als leidender Mann beschrieben, „denn sein Geist lag mit seiner Lust in Widerstreit“ (Mann 1956, S.21). Obwohl er sittsam leben will, betrügt er seine Frau oft (vgl. Mann 1956, S.22). Er gibt also seinen Trieben und damit seinem Willen nach. Besonders deutlich zeigt sich der Primat des Willens, als Juda auf dem Heimweg von Timnach der als Hure verkleideten Thamar begegnet. Erst will er vorüber gehen. Im Geist begründet er dies damit, dass er nach dem Fest in Timnach bereits befriedigt sein müsste, doch sein Wille ist stärker. Er bleibt bei Thamar stehen und hat Verkehr mit ihr. Danach vergisst er das Geschehene, obwohl er sein Pfand von Thamar nicht zurück erhält. Judas Wille ist befriedigt und dadurch verstummt auch der Geist (vgl. Mann 1956, S.54ff). Die sekundäre, nachträglich den Willen rechtfertigende Funktion des Geistes zeigt sich bei Juda in seiner Verehrung für Astaroth, eine Fruchtbarkeitsgöttin, der das einfache Volk in der Umgebung opfert. Er glaubt, dass sie ihn beherrscht und sieht das als Strafe für seine Schuld an Josefs Tod. Mit Astaroth entschuldigt sein Geist jede Tat des Willens (vgl. Mann 1956, S.57ff). Käte Hamburger stellt fest, Thomas Mann habe „in Judas Gestalt die Personifikation jener philosophischen Lehre von Schopenhauers Metaphysik des Willens“ (Hamburger 1981, S.158) geschaffen.
Bei Thamar lässt sich im Vergleich zu Juda und Jaakob keine Vorherrschaft des Willens feststellen. Wille und Geist befinden sich bei ihr in einer anderen Konstellation. Als sie zum ersten Mal zu Jaakob kommt, wird sie gelenkt von ihrer Seele. Diese ist unruhig, da sie nach einem Glauben sucht, der sie befriedigt (vgl. Mann 1956, S.24). Als sie dann von Jaakob gelehrt worden ist, wird das erworbene Wissen und damit ihr Geist zum Wollen. „Belehrung wird in gewissen Naturen sofort zum Wollen“ (Mann 1956, S.36). Somit vereinen sich Thamars Geist und ihr Wille zur Entschlossenheit. Das zeigt sich auch in Thamars Liebe zu Juda, welche vom Erzähler besonders hervorgehoben wird: „zum ersten Mal gab es das: die Liebe, die nicht aus dem Fleische kommt, sondern aus dem Gedanken“ (Mann 1956, S.37). Wenn man das Fleisch mit Körper oder Wille übersetzt und die Gedanken mit Geist, so tritt in Thamar der Geist aus seiner sekundären Funktion heraus. Es ist ihr Geist, der mit Hilfe des Willens die Einschaltung in die Ahnenreihe Jesu erreicht. Der Geist bestimmt die Richtung des Willens, ist somit dem Willen gegenüber mindestens gleichberechtigt. Damit gelingt Thomas Mann in der Figur Thamar, was Schopenhauer als die Aufgabe der Kunst betrachtete, das Freimachen des Geistes von der Vorherrschaft des Willens.
4. Thamars Ausgleichfunktion für Juda
Thomas Mann gibt Juda einen schlechten Charakter, obwohl die Bibel ihm bei der Gestaltung wenig Vorgaben machte. Warum rückte Thomas Mann den Träger des Abrahamssegens nach Jaakob nicht in ein besseres Licht? Noch dazu, wo Juda in Konkurrenz zu Josef steht. Dieser viel würdigere Sohn Jaakobs lebt in Ägypten weiter, ohne das die Sippe davon weiß. Er wird die Sippe wieder treffen und Jaakob wird sich trotzdem für Juda entscheiden. Käte Hamburger bezeichnet diese Frage als „das Problem der Segenslenkung“ (Hamburger 1981, S.159). Statt Juda einen, seiner Stellung in der Ahnenreihe Jesu, würdigen Charakter zu geben, gestaltet Thomas Mann die etwas seltsame Bibelerzählung um Juda und Thamar auf andere Weise. „Thamars Geschichte wird um Judas, des Segensträgers, willen erzählt“ (Hamburger 1981, S.113). Indem er Juda als Charakter zeichnet, der den Ansprüchen an einen Segensträger nicht gerecht wird, muss Thamar eine starke Figur sein, als Gegenpol zu Josef und Ausgleich für den schwachen Juda.
Thamar ist Juda in vielerlei Hinsicht überlegen. Sie handelt intelligent und entschlossen im Gegensatz zu Juda, der sich nicht durchsetzen kann. Als Juda ihr den letzten Sohn verweigert, sichert sie sich durch eine List ihr durch die Schwagerehe garantiertes Recht und triumphiert so über ihn (vgl. Mann 1965, S.52ff). Des Weiteren ist Thamar die Person, die von Jaakob von der Geschichte der Sippe und der Verheißung des Shiloh hört, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal zur Familie gehört (vgl. Mann 1956, S.34ff). Sie wird somit auch wichtig für das Bewahren der Überlieferung. Dessen ist sie sich bewusst: „Meinen Kindern und Kindeskindern (…) will ich sie [die Geschichten Jaakobs] kund tun“ (Mann 1956, S.39) und versichert damit Jaakob, für Nachkommen des Segensträgers und für deren gottesfürchtige Erziehung zu sorgen. So übernimmt sie Aufgaben, die Juda fremd sind. Dieser will keine Verantwortung für seinen Nachwuchs übernehmen. Weder für seine Söhne mit der Tochter Schuahs (vgl. Mann 1956, S.22ff), noch für die Zwillinge mit Thamar (vgl. Mann 1956, S.62ff). Der Grund dafür ist, dass Juda sich nicht würdig fühlt, die Erwählung seines Vaters weiter zu tragen. Ihm setzt das an Josef und seinem Vater begangene Verbrechen zu. Er entscheidet sich für ein Leben im Leid anstatt für ein Leben seiner Stellung als Segensträger entsprechend (vgl. Mann 1956, S.16ff). Thamar hingegen ist entschlossen, diese Rolle zu übernehmen (vgl. Mann 1956, S.36). Der Rollentausch Thamars mit Judas wird auch deutlich in einem Wortspiel des Erzählers. Juda wird vom Erzähler als „leidendes Löwenhaupt mit Hirschaugen“ (Mann 1956, S.16) und von Josef als sein „Löwe“ (Mann 1956, S.43) bezeichnet. Im Konflikt mit Thamar um seinen dritten Sohn wird aus dem Löwen eine Löwin (vgl. Mann 1956, S.50, 53), wodurch der Erzähler auf den Rollentausch zwischen Thamar und Juda aufmerksam macht. Juda, der der aktive Mann in der Rolle des Segensträgers sein sollte, wird mit weiblichen Eigenschaften in Verbindung gebracht: dem Behüten des Nachwuchses. Thamar hingegen betreibt aktiv ihre Einschaltung, ganz entgegen der traditionellen Frauenrolle. Sie übernimmt Judas Aufgaben der Nachkommensicherung und der Bewahrung der Überlieferung.
Thamar erfüllt noch eine weitere Ausgleichsfunktion für Juda. Dessen Söhne Er und Onan werden mehrfach als missraten und schlecht bezeichnet (vgl. Mann 1956, S.22, 38, 43). Der Erzähler stellt das so dar:
„Solche Buben, wie diese beiden, kränklich und ausgepicht, dabei aber nett, sind eine Zeitwidrigkeit an solcher Stelle und eine Voreiligkeit der Natur, die einen Augenblick nicht ganz bei sich ist und vergisst, wo sie hält“ (Mann 1956, S.22).
Die Existenz der beiden wird vom Erzähler als Versehen der Natur dargestellt. Als dann Er kurz nach der Hochzeit stirbt, bemerkt der Erzähler, dieses Geschehen kann wie alles Geschehene als Tat Gottes gesehen werden (vgl. Mann 1956, S.44). Daraufhin streitet Juda mit Jaakob um seinen zweiten Sohn Onan, den er Thamar nicht geben will. Jaakob beendet den Streit mit: „Aus der Magd spricht Gott (…) Er hat sie zu mir geführt“ (Mann 1956, S.48). Der Erzähler begründet somit unterschwellig mit Hilfe Jaakobs, warum Thamar in die Familie kam. Sie ist von Gott geschickt, um die Unaufmerksamkeit der Natur zu berichtigen, die schwachen Söhne Judas. Letztlich gibt sie Juda dann gegen seinen Willen stärkere, bessere Söhne, die des Stammbaums Jesu würdig sind (vgl. Mann 1956, S.62).
Thamar ist auch der Ausgleich für Judas Vielgötterei. Der Erzähler stellt es als nachvollziehbar dar, dass Juda, zusätzlich zu Jahwe, auch an die Götter des einfachen Volkes glaubt (vgl. Mann 1956, S.18). Die Art, wie Thamar als Sucherin und Trägerin einer „höheren Unruhe“ (Mann 1956, S.24) beschrieben wird, zeigt jedoch, wie der Erzähler ihren Glauben unauffällig über Judas stellt. So liefert Thomas Mann eine mögliche Interpretation der seltsamen Bibelvorlage, die ohne deutliche Erklärung den Abrahamssegen über Juda laufen lässt, obwohl der viel würdigere Josef im weiteren Verlauf des Romans zurückkommt. Käte Hamburger geht davon aus, „daß gerade die problematische Sachlage, die hier vorliegt, für Thomas Mann einen besonderen Anreiz zu psychologischer, religionsgeschichtlicher und philosophischer Interpretation abgegeben hat“ (Hamburger 1956, S.106).
5. Hervorhebung Thamars
Eine weitere Intention Thomas Manns beim Schaffen der Thamar-Novelle war die Hervorhebung einer besonderen Frauengestalt, welche in der Bibel und durch deren Auslegung bisher nicht ausreichend zur Geltung kam. Grund dafür kann die zur Entstehung des Romans bereits stattfindende Emanzipation der Frau in der Gesellschaft sein. Ermöglicht wird diese These durch die von Elisabeth Drave festgestellte Erzählabsicht Thomas Manns. Thomas Mann nutzte für seine Romantetralogie die Strukturen der jüdischen Bibelauslegung. Deren Absicht war unter anderen, nachbiblische Texte zu erschaffen, die die biblische Geschichte für die eigene Zeit neu erzählen. Eine Neuerzählung beinhaltet auch eine Neuinterpretation des biblischen Textes mit ihren speziellen Motiven und Intentionen, die in der Zeit des Autors zu suchen sind (vgl. Drave 1995 S.212). Anhaltspunkte für eine bewusste Stärkung einer Frauengestalt lassen sich laut Jelka Keiler gleich zu Beginn der Novelle finden (vgl. Keiler 1999, S.139). Zunächst stellt der Erzähler „öffentliche Unwissenheit“ (Mann 1956, S.6) über Thamar fest und das sie bei seinem Publikum in Vergessenheit geraten sei. „Ihr wisst also wirklich nicht mehr, habt es eures Wissens niemals gewusst, wer Thamar war“ (Mann 1956, S.6). Dieser Zusatz wirkt wie eine unterschwellige Kritik an der Bibelrezeption seines Publikums. Um eine Hervorhebung Thamars festzustellen, ist zunächst das allgemeine Frauenbild in der Novelle zu untersuchen.
5.1 Das Frauenbild in der Thamar-Novelle
Das verbreitete Frauenbild der Novelle wird durch die Schwiegertöchter Jaakobs geprägt. Sie sind passive Personen und werden „geholt“ oder „geraubt“ (Mann 1956, S.9), dann willenlos verheiratet. Ihre einzige Aufgabe ist es, Kinder zu gebären. „und Sara ging es schon nicht mehr nach der Weiber Weise“ (Mann 1956, S.29). Die Frauen werden in der Novelle auf ihre biologische Möglichkeit reduziert, den Fortbestand der Sippe zu gewährleisten. Während jeder Sohn Jaakobs zumindest kurz mit Eigenschaften beschrieben wird, wird als Eigenschaft der Schwiegertöchter nur ihre hohe Abstammung genannt, weswegen sie auch in die Sippe eingeheiratet werden. Einige der Schwiegertöchter erhalten keinen Namen (vgl. Mann 1956, S.8ff). Dazu gehört auch die Tochter Schuas, Judas Frau. Sie vollführt keine eigenständigen Handlungen, sondern überlässt sich ihrem Schicksal. Das heißt sie überlässt sich ihrem Kummer über Judas Vielweiberei und stirbt traurig (vgl. Mann 1956, S.22ff).
5.2 Thamars gegensätzliche Darstellung
Im Gegensatz dazu ist Thamar nicht von hoher Abstammung. Trotzdem kommt sie durch eigenes Bestreben in die Familie, indem sie sich selbst bei Jaakob empfiehlt (vgl. Mann 1956, S.39ff). Sie wird dem Leser ausführlich beschrieben (s.o.) und ihr sind ganze Kapitel gewidmet. Thamars Einsatz für eine Idee, ihre Intelligenz, Geduld und Entschlossenheit machen sie zur Hauptfigur der Novelle. Thomas Mann macht sie sogar zur Erfinderin der Schwagerehe (vgl. Mann 1956, S.47ff). Durch dieses alte Gesetz ist ein Mann, dessen Bruder oder Sohn verstorben ist, dazu verpflichtet, dessen Witwe zu heiraten. So ist gesichert, dass der Verstorbene Nachkommen erhält. Des Weiteren ist die Witwe materiell abgesichert (vgl. Bohlen 1997, S.864).
Jelka Keiler untersucht Thamar unter geschlechtsspezifischen Aspekten. Diese Untersuchung bietet sich an, weil der Erzähler deutlich die Bedeutung der Frau unterstreicht: „Auf das Weib aber kam´s an, und darauf, daß das rechte just hier am schwächsten Punkt sich einschalte. Dem Schoße des Weibes galt die erste Verheißung. Was lag an den Männern!“ (Mann 1956, S.38). Diese Formulierung des Erzählers ist auffällig, weil Jaakob kurz vorher die Geschichte der Sippe als eine Geschichte von Männern gemacht erzählte. Hier wird Thamar vom Erzähler als notwendiger Ausgleich für die schwachen Männer der Sippe dargestellt. Jelka Keiler sieht Thamar als vielschichtige Figur. Zum einen wird sie dargestellt als femme fatal. Thamar „gerät in den Bereich des Beunruhigenden, dämonisch Geheimnisvollen und entspricht damit den Bildern von bedrohlicher Weiblichkeit“ (Keiler 1999, S.140). Andererseits aber wird Thamar durch ihren Drang, weltgeschichtlich zu werden, aufgewertet. Dies könne sie als Frau, so Jelka Keiler, nur durch das Gebären von Söhnen erreichen. Deshalb „erniedrigte [sie] sich rücksichtslos, um sich zu erhöhen“ (Mann 1956, S.8). Indem sie Juda durch eine List täuscht und mit ihm gegen seinen Willen Söhne zeugt, wird in der Thamar-Novelle laut Jelka Keiler ein Gegenstück zur sonstigen Instrumentalisierung der Frauen im Josef-Roman geschaffen (vgl. Keiler 1999, S.138ff). Es zeigt sich, dass Thomas Mann in Thamar einen Frauentyp erschuf, der zwischen dem traditionellen Frauenbild der Josef-Romane und dem seiner Zeit vermittelt. Thomas Manns Gestaltung Thamars lässt sich also als fortschrittlich beschreiben, dabei keineswegs den historischen Begebenheiten entwachsen. Dadurch erfährt diese biblische Frauengestalt zumindest mehr Aufmerksamkeit als vorher, was man als Verdienst und Intention Thomas Manns bezeichnen kann.
6. Fazit
Auf die Intentionen eines Autors zu schließen, ist immer eine schwierige Aufgabe. Man kann schnell einem Trugschluss erliegen, indem man z.B. auf eine vom Autor selbst gelegte falsche Fährte gerät. Da Thomas Mann sich seiner Wirkung bewusst war und nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben als Kunstwerk verstand, ist die Gefahr bei ihm nicht so groß. Die autobiografische Intention Thomas Manns, Agnes E. Meyers Ehrgeiz und Hartnäckigkeit literarisch zu verewigen, kann als sicher gelten. Auch der Einfluss Schopenhauers auf die Thamar-Novelle ist sehr deutlich, wie in vielen seiner Werke. Die Intention der Stärkung des unwürdigen Segensträgers Juda durch eine entschlossene Thamar ist für den Gesamtzusammenhang des Josef-Romans wichtig. Möglicherweise versuchte er auch, dieser biblischen Frauengestalt mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Überraschend war für mich die Vielschichtigkeit der Thamar-Novelle, die verschiedene Intentionen Thomas Manns möglich macht und nebeneinander stehen lässt.
7. Literaturverzeichnis
BOHLEN, Reinhold: Levirat. In: Kasper, Walter (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd.6. Freiburg: 1997, S.864.
DRAVE, Elisabeth: Strukturen jüdischer Bibelauslegung in Thomas Manns Roman „Josef und seine Brüder“. Das Beispiel Abraham. In: Ebach, Jürgen (Hg.); Faber, Richard (Hg.): Bibel und Literatur. München: Fink 1995, S.198-213.
FISCHER, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns „Josephsromanen“. Tübingen – Basel: Francke 2002.
HAMBURGER, Käte: Thomas Manns biblisches Werk. Der Josefs-Roman. Die Moses-Erzählung „Das Gesetz“. München: Nymphenburger 1981.
KEILER, Jelka: Geschlechterproblematik und Androgynie in Thomas Manns Joseph-Romanen. Frankfurt am Main (u.a.): Lang 1999.
KORFMACHER, Wolfgang: Schopenhauer zur Einführung. Hamburg: Junius 1994.
KURZKE, Hermann: Thomas Mann. Epoche-Werk-Wirkung. München: Beck 1997.
MANN, Thomas: Thamar. Frankfurt am Main: 1956.
REENTS, Edo: Thomas Mann. München: Claassen 2001.
- Arbeit zitieren
- Trond Weishaupt (Autor:in), 2003, Intentionen der Thamar-Novelle Thomas Manns, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34704
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