Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Fragestellung, Methode und Struktur
2.1. Problem und Fragestellung
2.2. Methodik und Zielsetzung
2.2.1. Ergänzende Sekundäranalyse
2.2.2. Anlehnung an die Typologische Analyse
3. Forschungsstand
3.1. Literaturüberblick
3.2. Datengrundlage
3.2.1. Teilhabebericht der Bundesregierung 2013
3.2.2. Verschiedene Mikrozensus 2003 bis 2015
3.2.3. Statistik der schwerbehinderten Menschen 2011
3.2.4. Allensbach-Studie zur gesellschaftlichen Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung 2011
3.2.5. Inklusionsbarometer der Aktion Mensch zum Bereich Arbeit 2013
3.2.6. Abschlussbericht der Gesamtbetreuung zum Programm Job4000
3.2.7. Bericht zur Arbeitsmarktsituation von schwerbehinderten Menschen im Jahr 2013
3.3. Zwischenfazit
4. Theoretische Grundlagen
4.1. Das Verständnis von Behinderung
4.1.1. Das medizinische Modell von Behinderung
4.1.2. Das soziale Modell von Behinderung
4.1.3. Die Arbeitsdefinition
4.2. Paradigmen der Soziologie der Behinderten
4.2.1. Das personenorientierte Paradigma
4.2.2. Das interaktionistische Paradigma
4.2.3. Das systemtheoretische Paradigma
4.2.4. Das gesellschaftsorientierte Paradigma
4.3. Der Prozess des gesellschaftlichen Einbezugs
4.3.1. Soziale Teilhabe
4.3.2. Exkurs zu den systemtheoretischen Verbindungen
4.3.3. Exklusion
4.3.4. Separation
4.3.5. Integration
4.3.6. Inklusion
4.4. Zwischenfazit
5. Auswahl des Untersuchungsbereichs, Hypothesen und Kriterienerstellung
5.1. Erwerbsarbeit als Untersuchungsbereich
5.2. Teilhabedimensionen
5.3. Hypothesen
5.4. Kriterien
5.4.1. Eingebundenheitsgrade
5.4.2. Varianz
5.4.3. Institutioneller Status
5.4.4. Staatliche Involvierung
5.4.5. Wahrnehmung
5.5. Zwischenfazit
6. Deskriptive Analyse (Typenkonstruktion)
6.1. Einleitender demografischer Überblick
6.1.1. Behinderungsquoten
6.1.2. Schwerbehinderung und Grade der Behinderung
6.1.3. Verteilung von Behinderung auf Geschlecht und Alter
6.2. Eingebundenheitsgrade
6.3. Varianz
6.3.1. Arbeitsbereiche
6.3.2. Lebensunterhalt
6.3.3. Arbeitsverhältnisse
6.3.4. Zwischenfazit
6.4. Institutioneller Status
6.4.1. Realisierte Teilhabe
6.4.2. Zugänglichkeit/Gleichheit
6.4.3. Zwischenfazit
6.5. Staatliche Involvierung
6.5.1. 5%-Beschäftigungsquote von Menschen mit Schwerbehinderung
6.5.2. Job4000-Programm
6.5.3. Bundesteilhabegesetz
6.5.4. Zwischenfazit
6.6. Wahrnehmung
6.6.1. Selbstwahrnehmung
6.6.2. Fremdwahrnehmung
6.6.3. Zwischenfazit
6.7. Zwischenfazit
7. Modellzuordnung (Typendeskription)
7.1. Qualität der Teilhabe
7.1.1. Materielle Teilhabe
7.1.2. Politisch-institutionelle Teilhabe
7.1.3. Kulturelle Teilhabe
7.2. Gesamthöhe der Teilhabe
7.3. Erklärungsansätze
7.3.1. Die Umsetzung eines Rechts auf Arbeit als Chance oder Hürde zur Teilhabe an der Gesellschaft
7.3.2. Verstärkung der beruflichen Rehabilitation von jungen Menschen mit Behinderung als spezieller Weg zur gesellschaftlichen Partizipation
7.3.3. Gesellschaftlicher Einbezug ohne Erwerbsarbeit als alternativer Lösungs- vorschlag
7.4. Zwischenfazit
8. Reflexionskapitel
8.1. Datenerhebungsartefakte und - besonderheiten
8.2. Methodische Hindernisse
8.3. Themenbezogene Schwierigkeiten
8.4. Zwischenfazit
9. Schlussfolgerung
10. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
10.1. Abbildungen
10.2. Tabellenübersicht
11. Literaturverzeichnis
An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die mich im Rahmen dieser Masterarbeit sowie meines Studiums begleitet haben und ohne die ich diese Arbeit nicht hätte schreiben können. Ganz besonders gilt dies meinen Eltern Birga und Andreas Prelwitz sowie meiner sehr guten
Freundin Julia Patzelt.
1. Einleitung
„ Eine Gesellschaft, die […] behinderte Menschen aller Art nicht als natürlichen Teil ihrer selbst zu achten und zu behandeln weiß, spricht sich selbst das Urteil [.] “ - Gustav Heinemann1
In der jüngeren Zeit der Bundesrepublik Deutschland ist die Zahl von Menschen mit Schwerbe- hinderung von 6,6 Mio. (im Jahr 1999) auf 7,5 Mio. (im Jahr 2013) angestiegen (vgl. Destatis 2013: 6; vgl. Destatis 2015a: 1). Die Gesamtzahl von Menschen mit Behinderung lag im Jahr 2013 sogar bei 10,2 Mio. Menschen (vgl. Destatis 2015a: 1), was einen historischen Höchstwert dar- stellt. Diese drastischen Entwicklungen zeichnen ein deutliches Bild der Veränderung innerhalb der Gesellschaft, weil bei einer Behinderungsquote von 12,7% (im Jahr 2013) somit jeder achte Bundesbürger eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung aufweist (siehe Kapitel 6.1.2.1.) Dieser Trend wird sich aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften (z.B. steigt die Anfälligkeit für Behinderung im Alter, siehe Kapitel 6.1.3.) voraussichtlich verstärken. Aufgrund der mit diesem Thema verbundenen Brisanz ergeben sich neue Anforderungen und Probleme für eine moderne, offene und tolerante Gesellschaft als auch ihre Teilsysteme bzw. -bereiche. Daher besteht dringender Bedarf sich sozial- bzw. gesellschaftwissenschaftlich mit dem Einbeziehen von Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft auseinanderzusetzen. In Folge der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)2 hat sich seit 2008 das Konzept der Inklusion als eine umfassende Leitvorstellung des Einbezugs von Menschen mit Behinderung in nahezu allen Lebens- sowie Gesellschaftsbereichen der BRD etabliert, deren konkrete Ausführung in verschie- denen Nationalen Aktionsplänen der Bundesregierung umgesetzt werden soll (vgl. Bundesminis- terium für Arbeit und Soziales 2011). Darin wird vor allem der Lebensbereich 'Erwerbsarbeit' zu einer wichtigen Säule der individuellen Verwirklichung, Verortung des persönlichen gesellschaft- lichen Status und Aufrechterhaltung der eigenen wirtschaftlichen Sicherheit (vgl. Levy 2013; siehe Kapitel 5.1.) erklärt. Aus diesem Grund werden vermehrt politische Schritte unternommen, um die Eingliederung von Menschen mit leichter oder schwerer Behinderung in diesem Lebens- bereich auszubauen und stärker in den Fokus der Bundespolitik zu rücken, die seit kurzem ihren vorläufigen Höhepunkt in der Verabschiedung eines neuen Teilhabegesetzes (Bundesteilhabege- setz BTHG vom 26.04.2016) gefunden haben. Ziel dieser Masterarbeit ist es, sich mit der Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Erwerbsarbeit auseinanderzusetzten. Dabei wird anhand eines selbsterstellten Kriteriensys- tems eine Typisierung des Lebensbereiches Erwerbsarbeit in eine der verschiedenen Einbezugs- phasen Exklusion, Separation, Integration oder Inklusion durchgeführt. Die Eingebundenheit wird hierbei über das Niveau der sozialen Teilhabe illustriert. Im Gegensatz zu einer rein deskriptiven Analyse soll dadurch eine Brücke zwischen Theorie und Empirie geschlagen werden, um herauszufinden, welche der Einbezugsphasen die Lage von Menschen mit Behinderung im Lebensbereich der Erwerbsarbeit am besten erklären kann und ob diese tatsächlich dem Konzept von Inklusion nach aktuellem Verständnis gerecht wird. Dabei kann diese Masterarbeit aufgrund bestehender Unvollständigkeiten des Datenmaterials natürlich keine allumfassende Analyse bilden, weil sie auf vorhandene Quellen angewiesen ist, die z.B. unterschiedliche Stichproben und Untersuchungsgruppen beinhalten oder aus verschiedenen Zeitpunkten (2003 bis 2015) stammen. Im Fokus stehen dabei jedoch wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die im Zusammenhang mit der Behindertenrechtskonvention oder in Folge dessen entstanden sind, also mit Verbindung zum Inklusionskonzept erhoben wurden. So kann es vorkommen, dass nicht zu allen Kriterien dieser Arbeit die bestmögliche Datengrundlage zur Verfügung steht, sondern zum Teil nur auf die Gesamtheit der Gruppe der Menschen mit Behinderung bzw. deren Teilgruppen, wie Menschen mit leichter oder schwerer Behinderung, eingegangen werden kann. Außerdem beschäftigt sich diese Masterarbeit hauptsächlich mit dem ersten Arbeitsmarkt, da die Lage von Menschen mit Behinderung auf dem zweiten Arbeitsmarkt, wie z.B. in den sogenannten Behindertenwerkstätten, nahezu unerforscht ist und somit die notwendigen Informationen für eine Analyse im Sinnes des Ansatzes dieser Masterarbeit nicht verfügbar sind (siehe dazu Kapitel 6.3.3.). Dennoch ist für die einzelnen Untersuchungsbereiche der Bezug auf eine Vielzahl aussagekräftiger Quellen möglich, so dass die Analyse der aktuellen Situation von Menschen mit Behinderung im Bereich der Erwerbsarbeit 'sehr gut durchführbar ist'.
2. Fragestellung, Methode und Struktur
In diesem Teil der Arbeit werden die Problem- und Fragestellung sowie die Wahl des Untersu- chungsinstruments näher beschrieben, um den Analysevorgang nachvollziehbar zu gestalten. Im Wesentlichen folgt diese Analyse dem klassischen linearen Forschungsprozess aus der (quantita- tiven bzw. qualitativen) Sozialwissenschaft, bestehend aus den folgenden sechs Schritten (vgl. Mayring 2001: 10):
(1) Explikation und Spezifizierung der Fragestellung
(2) Explikation des Theoriehintergrunds
(3) empirische Basis
(4) methodischer Ansatz
(5) Ergebnisse
(6) Schlussfolgerung
Im Speziellen wird im Folgenden sowohl die Explikation und Spezifizierung der Fragestellung und der methodische Ansatz behandelt. Die Erläuterung der empirischen Basis ist Thema von Kapitel 3., die Explikation des Theoriehintergrunds Fokus von Kapitel 4. Die Analyse, besteht aus den zwei Teilen Kapitel 6. und Kapitel 7., wobei sich der zweite Analysedurchgang kritisch mit den Befunden des ersten in Verbindungen zum zentralen Thema der Masterarbeit auseinandersetzt. Der letzte Abschnitt, Kapitel 9. bildet das endgültige Gesamtfazit dieser Untersuchung. Darüber hinaus wird es zum Ende jedes Abschnittes Zwischenfazits geben, um die wichtigsten Erkenntnisse des Behandelten zu resümieren und somit den Leitfaden des komplexen Themas in verständlichem Rahmen zu halten. Im Reflexionskapitel (Kapitel 8.) werden methodische und inhaltliche Schwierigkeiten aufgegriffen, die wissenschaftlichen Gütekriterien Validität, Reliabilität und Objektivität abgeglichen und die Hauptfehlerquellen behandelt.
Des Weiteren wird bei Personenbezeichnungen überwiegend die männliche Form verwendet, um den Lesefluss der Masterarbeit zu erleichtern und der Datengrundlage zu entsprechen. Es sind jedoch (wenn nicht direkt darauf hingewiesen wird) jeweils männliche und weibliche Personen gemeint.
2.1. Problem und Fragestellung
Wie in der Einleitung schon angesprochen, entwickelt sich der Zuwachs von gesundheitlichen und daraus entstehenden sozialen Beeinträchtigungen der Bevölkerung seit Jahren zu einer neu- en Herausforderung für die bundesdeutsche Gesellschaft. Gleichzeitig birgt dieser Trend die Gefahr in sich, aus den „ langfristig körperlich, seelisch, geistig oder Sinnesbeeinträchtigen Personen “ (Art. 1 BRK; vgl. Aichele 2010), sogenannten Menschen mit Behinderung, neue soziale Randgruppen zu erschaffen. Diese sind aufgrund von motorischen oder geistigen Defiziten nur eingeschränkt zur Teilnahme am alltäglichen Leben fähig und bilden zudem aufgrund verschie- dener individueller Beeinträchtigungssituationen eine sehr heterogene Gesellschaftsgruppe, die sehr speziellen Einbezugsbedarf (siehe Kapitel 4.1.) benötigt. Gleichzeitig ist die Untersuchung des Miteinbeziehens von sozial benachteiligten Gruppen und der daraus folgende Abbau von Vorurteilen, Ungleichheiten und sozialen Barrieren sowie die Verbesserung der Chancengleich- heit für möglichst alle Gesellschaftsmitglieder seit jeher eine wichtige Aufgabe der Soziologie. Je nach Art und Grad der Behinderung (GdB) wirkt sich die individuelle Einschränkung somit unterschiedlich auf die Minderung der „ gleichberechtigten Teilhabe an der Gemeinschaft “ (vgl. WHO/DIMDI 2005: 13f) bzw. auf die eigene Selbstbestimmung und somit auf das Verhältnis zur Gesamtgesellschaft aus. Dennoch lassen sich in diesem Bereich bis auf eine wachsende Zahl an deskriptiven sozialwissenschaftlichen Studien oder Inklusionsanleitungen aus dem Feld der Pädagogik kaum Untersuchungen mit theoretischen Verknüpfungen zum Thema Inklusion finden, obwohl ein umfassendes Theoretikum mit den vier Einbezugsphasen Exklusion, Separati- on, Integration und Inklusion (vgl. Alicke/Eichler/Laubstein 2015: 30f) durchaus vorhanden ist. Als Anknüpfungspunkt daran und in Abgrenzung zu den pädagogischen Herangehensweisen, die oft hauptsächlich den Prozess der Sozialisation durch Erziehungseinrichtungen oder -konzepte als übergeordneten Faktor in Bezug zur Inklusion setzen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichters- tattung 2014: 28; vgl. Kricke/Hensel 2016: 1f), obwohl beide Ansätze auf einem ähnlichen theoretischen Grundverständnis basieren (vgl. Hinz 2005: 10f) und i.d.R. im Bereich der Inklusion weniger genau zwischen den sozialen Eigenschaften der Betroffenen differenzieren, sondern eher den Förderbedarf als primäre Funktion fokussieren (vgl. Autorengruppe Bildungsberichters- tattung 2014: 61), soll diese Masterarbeit im Sinne des soziologischen Verständnisses die gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Mittelpunkt stellen und somit das Verhältnis von Menschen mit Behinderung und Gesellschaft behandeln. Hierbei bietet sich die Erwerbsarbeit als spezielles Untersuchungsgebiet besonders an, denn sie ist „für einen Erwachsenen in der modernen (marktwirtschaftlichen) Gesellschaft eine wesentliche Voraussetzung und Indikator für Teilhabe zugleich “ (Wansing 2005: 83). Des Weiteren ist dieser Lebensbereich mit vielen sozialen Funktionen, wie der sozialen Ausdifferenzierung oder der individuellen materiellen Selbstbe- stimmung (vgl. Wansing 2005: 31f; vgl. Kraemer/Speidel 2004: 4) verbunden und bildet zugleich einen der Hauptförderbereiche aktueller staatlicher Einbezugsmaßnahmen (vgl. Bundesteilhabe- gesetz (BTHG); siehe Kapitel 5.1. Erwerbsarbeit als Untersuchungsbereich). Somit ist die Erwerbsarbeit eines der „ bedeutungsvollsten Felder sozialer Integration “ (Levy 2013: 208) und steht ebenfalls im Fokus dieser Untersuchung, was zur folgenden Fragestellung für die Masterarbeit führt:
Wie lässt sich die Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung in der BundesrepublikDeutschland im Lebensbereich der Erwerbsarbeit in die sozialwissenschaftlichen Konzepte von Inklusion, Integration, Separation oder Exklusion einordnen?
Um ein umfassendes Verständnis der Situation von Menschen mit Behinderung im Bereich der Erwerbsarbeit erlangen zu können, ohne dabei zu allgemein zu bleiben, wird zudem auf die Methodik einer Ergänzenden Sekundäranalyse zurückgegriffen, womit sich das folgenden Kapitel 2.2. befasst.
2.2. Methodik und Zielsetzung
Dieser Abschnitt stellt den methodischen Ansatz vor. Dazu wird zunächst auf die übergeordnete Form der Ergänzenden Sekundäranalyse eingegangen und anschließend auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zur Typologischen Analyse als spezieller methodischer Ablauf verwiesen.
2.2.1. Ergänzende Sekundäranalyse
Zugunsten einer präzisen Darstellung der verschiedenen Untersuchungsbereiche, weil weder ein rein statistisches Verfahren noch ein komplett qualitatives Interpretationsverfahren fähig sind die Gänze des Inklusionsgedankens abzubilden, ohne einseitig zu sein, wird in dieser auf eine Mischform der Sekundäranalyse als übergeordnetes methodisches Vorgehen zurückgegriffen. Da es zur Verwendung dieses Analyseinstruments keinen „ einheitlichen Kenntnisstand “ (vgl. Medjedović 2014: 19) in den Sozialwissenschaften gibt, soll in der vorliegenden Masterarbeit die Definition von HEATON als Grundverständnis dienen:
„Secondary Analysis is a research strategy which makes use of pre-existing quantitative dataor pre-existing qualitative research data for the purposes of investigating new questions orverifying previous studies.” (Heaton 2004: 16)
Methodisch wird somit im Sinne der mixed methods (vgl. Kelle 2014: 153f) verfahren. Dabei handelt es sich um Untersuchungsdesigns, die sich nicht komplett in eine der beiden gängigen methodischen Forschungspraxen der quantitativen oder qualitativen Sozialforschung zuordnen lassen, sondern sich Ansätze aus beiden Gebieten leihen und somit gemischte Varianten darstellen. In dieser Arbeit finden sich solche Techniken unter anderem in der Auswertung von Datensätzen (siehe Kapitel 6.) als Beispiel für eine quantitative Untersuchungsmethode bzw. in der Interpretation dieser Ergebnisse anhand eines zuvor aus der Theorie abgeleiteten Kriterien- katalogs (siehe Kapitel 7.) als Beispiel für eine qualitative Auswertungsweise. Dadurch lässt sich keine komplett eindeutige Verfahrensweise formulieren, sondern eher eine offene „ Strategie bei der Beantwortung einer Forschungsfrage “ (Medjedović 2014: 20) entwerfen und diese Master- arbeit als Mischform aus empirischer und theoretischer Arbeit verstehen. Die Datenbasis des empirischen Teils dieser Masterarbeit speist sich dabei aus verschiedenen Erhebungen in der BRD, wie dem Teilhabebericht der Bundesregierungüber die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Befragungen zur Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung des Instituts für Demoskopie Allensbach, während die Erklärungsmodelle aus den Bereichen der Soziologie der Behinderten und den disability studies, wie der 'Zwei-Gruppen-Theorie' (vgl. Hinz 2005: 11f) akquiriert werden.3 Der Unterschied dieser Arbeit zu einer einfachen deskriptiven Analyse des Themas besteht darin, über die Sozialstrukturanalyse hinaus im Sinne einer Sekundäranalyse, „neue und ergänzende Fragen […] zu stellen“ (Medjedović 2014: 23). Dieser Erkenntniswert liegt, wie bereits im vorherigen Absatz (Kapitel 2.1) ausführlicher behandelt, in der Zuordnung des Lebensbereiches Erwerbsarbeit von Menschen mit Behinderung in eines der sozialwissenschaftlichen Theoriekonzepte von Inklusion, Integration, Separation oder Exklusion, um damit eine inhaltsreiche Aussage über die Eingebundenheitssituation durchführen zu können. Damit geht diese Untersuchung über eine statistische Bestandsaufnahme hinaus, denn sie versucht das Thema Menschen mit Behinderung und Erwerbsarbeit zu verbinden und um einen erklärenden Unterbau aus soziologischer Sichtweise zu erweitern. Somit passt diese Masterarbeit gut in das Verständnis einer ergänzenden Analyse (supplementary analysis) (vgl. Medjedović 2014: 23; vgl. Long-Sutehall et. al 2010: 336f). Da es sich zudem um ein Forschungsfeld handelt, bei dem viele deskriptive Daten vorhanden sind, jedoch nur eine überschaubare Anzahl an theorieverknüpfenden Untersuchungen zur Verfügung stehen, ist die Methodenwahl der Ergänzenden Sekundäranalyse naheliegend.
2.2.2. Anlehnung an die Typologische Analyse
Bei der Durchführung einer Ergänzenden Sekundäranalyse handelt es sich, wie bereits ange- sprochen, eher um eine Forschungsstrategie aus den mixed methods, somit lässt sich das kontrollierte methodische Vorgehen dieser Masterarbeit am ehesten mit einem Verfahren vergleichen, das aus der qualitativen Sozialforschung stammt, die Typologische Analyse (vgl. Mayring 2002: 132). Sie wird besonders dann verwendet, „ wenn in eine Fülle explorativen Ma- terials Ordnung gebracht werden soll, aber auf detaillierte Fallbeschreibungen nicht verzichtet werden kann “ (Mayring 2002: 132). Vorher festgelegte Kriterien bestimmen, welche Bestand- teile aus dem Datenmaterial herausgefiltert und detailliert dargestellt werden, um damit in besonderer Weise das Ausgangsmaterial repräsentieren zu können (vgl. Mayring 2002: 132). Somit wird diese Methode in der Regel bei der qualitativen Auswertung von Interviews oder Gruppendiskussionen genutzt, um neue Kategorien oder Typologien zu erstellen. Im Falle dieser Masterarbeit fokussiert sich die Typologische Analyse allerdings auf die Zuordnung des Lebens- bereiches Erwerbsarbeit in die bereits bestehenden Kategorien (Exklusion, Separation, Integration, Inklusion). Deren Überprüfung bzw. die Illustration der Teilhabesituation durch die Interpretation der Aussagekraft des vorhandenen Datenmaterials über die vorher festgelegte Typisierungsdimension der sozialen Teilhabe (Kriterienkatalog zur Ermittlung der Teilhabe- dimensionen) stattfindet. Eine vollkommen identische Anwendung auf dieses Thema kann dadurch natürlich nicht möglich sein. Die Typlogische Analyse gilt in der Forschungsstrategie Sekundäranalyse dieser Masterarbeit eher als eine Orientierung und weicht daher in manchen Punkten, wie der Rücküberprüfbarkeit durch erneute Materialdurchsicht (also mehrfache Analysedurchgänge auf Basis der Ergebnisse der vorherigen Analysebefunde zur Typenverdich- tung) ab (vgl. Mayring 2002: 132). In Abbildung 1 ist die verwendete Modifikation der Typologischen Analyse zudem schematisch dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Methodisches Schema in Anlehnung an die Typologische Analyse, eigener Entwurf (in Bezug auf Mayring 2002: 132).
Im Folgenden wird das Vorgehen anhand dieser verschiedenen Elemente genauer auf- geschlüsselt. Die Bewertung der einzelnen Ergebnisse im Lebensbereich Erwerbsarbeit anhand des Kriterienkatalogs wird im Kapitel 5.4. ausführlicher beschrieben.
2.2.1.1. Fragestellung
Im Gegensatz zur Typologischen Analyse nach Mayring ergibt sich die bereits erwähnte Forschungsfrage nicht aus dem Forschungsprozess und der Reflexion der Daten sondern wurde im Vorfeld als Ausgangspunkt mittels der Herleitung aus der Problemstellung festgelegt. Das vorherige Kapitel 2.1. beschäftigte sich damit.
2.2.1.2. Forschungsstand und Datenlage / Theoretische Grundlagen
Die Datenbasis und die theoretischen Grundlagen werden sowohl aus Erhebungen, die aus den qualitativen sowie quantitativen Sozialforschungsbereichen stammen, als auch aus den disability studies und der Soziologie der Behinderten gewonnen. Ein kurzer Überblick samt Einordnung dazu findet in Kapitel 3.1. statt.
2.2.1.3. Festlegung der Typisierungsdimensionen (Erwerbsarbeit als Untersuchungsbereich und Kriterienkatalog)
Die Typisierung leitet sich hauptsächlich aus der zuvor erörterten Theorie her. Der Grad der sozialen Teilhabe bildet hierbei das Zuweisungskriterium für die spätere Verortung des Lebensbereiches Erwerbsarbeit in eine der Phasen des Prozesses gesellschaftlichen Einbezugs. Das Ausmaß der sozialen Teilhabe ergibt sich anhand eines Systems mit fünf Kriterien ('Eingebundenheitsgrade', 'Varianz', 'institutioneller Status', 'staatliche Involvierung' und 'Wahrnehmung'). Die Zusammensetzung bzw. Wahl der verschiedenen Kriterien bzw. des Lebensbereiches Erwerbsarbeit wird in Kapitel 5.1. erläutert.
2.2.1.4. Materialdurchgang: Typenkonstruktion (deskriptiver Analyseteil)
Der erste Materialdurchgang misst die soziale Teilhabe des Lebensbereiches Erwerbsarbeit mittels des zuvor erstellten Kriterienkatalogs anhand verschiedener Studien, Umfragen etc. Durch die Typenkonstruktion wird in dieser Masterarbeit also die deskriptive Messung der sozialen Teilhabe vorgenommen. Diesen Abschnitt stellt Kapitel 6. Deskriptive Analyse (Typen- konstruktion) dar.
2.2.1.5. Materialdurchgang: Typendeskription (explorativer Analyseteil/Modellzuordnung)
Anhand der Ergebnisse des vorherigen Analysedurchgangs wird der Lebensbereich Erwerbsarbeit den Phasen Exklusion, Separation, Integration oder Inklusion zugeordnet. Dieser Teil kann somit als explorativer Analyseteil angesehen werden, in dem die Verbindung bzw. der Zusammenhang 8
zwischen erhaltenen Befunden und Theorie hergestellt wird. In Kapitel 7. wird dieser Schritt voll- zogen.
2.2.1.6. Rücküberprüfbarkeit der Verallgemeinerbarkeit der Befunde (Reflexionsteil)
Über den Reflexionsteil (siehe Kapitel 8.), wird die methodische und inhaltliche Aussagefähigkeit der Untersuchung des Lebensbereichs Erwerbsarbeit hinterfragt sowie eine Auseinandersetzung mit der Datengrundlage durchgeführt. Hier kommt auch ein weiterer Unterschied zur klassischen Typologischen Analyse zum Tragen. Im Schritt der Rücküberprüfbarkeit wird nicht erneut die Fragestellung bei abweichenden Ergebnissen verändert, sondern in kritischer Reflexion der Gesamtergebnisse und des eigenen Forschungsprozesses unter anderem die Validität, Reliabilität und Objektivität des Forschungsdesigns überprüft. Dies ist notwendig, um letztendlich die Aussagekraft der ergebenden Phasenzuordnungen einschätzen zu können. Außerdem wird in diesem Abschnitt exemplarisch auf einige Fehlerquellen während des Analy- seprozesses, z.B. Forschungsartefakte, eingegangen.
2.2.1.7. Schlussfolgerung
Im Fazit bzw. der Schlussfolgerung werden schließlich alle Stränge zusammengeführt und eine Zusammenfassung der Ergebnisse samt abschließender Aussage zur Forschungsfrage getroffen.
3. Forschungsstand
Das folgende Kapitel beinhaltet eine allgemeine Literatureinordnung, in der ausgewählte Vertreter aus der Soziologie der Behinderten4 bzw. den disability studies sowie ihre Beiträge zur Forschungsdebatte5 vorgestellt und in einen Kontext zueinander gebracht werden. Des Weiteren erfolgt auch die Aufschlüsselung der verwendeten Datengrundlagen, um einen hohen Grad an Transparenz in der späteren Analyse zu gewährleisten.
3.1. Literaturüberblick
In diesem Absatz wird ein Überblick über wichtige Sozialwissenschaftler, deren Argumente und Veröffentlichungen in dieser Arbeit genutzt werden dargestellt sowie die Entwicklung des sozialwissenschaftlichen Umgangs des speziellen Feldes Menschen mit Behinderung vorgestellt. Obwohl es sich bei den Themenbereichen Soziologie der Behinderten bzw. den nationalen disability studies um recht junge Forschungsfelder der bundesdeutschen Sozialwissenschaft handelt, gehen ihre Anfänge unter anderem auf THIMM zurück, der in den 1970er Jahren Werke wie Soziologie der Behinderten oder Behinderung als Stigmata herausbrachte und somit diesem soziologischen Teilbereich seinen Namen gab. International gelten jedoch GOFFMAN und FOUCAULT die ab Ende der 1960er mit ihren Schriften wie Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität oder Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft als Grundlagenforscher dieser Disziplin. Zunächst befanden sich soziale Ungleichheiten auf der personenbezogenen bzw. Mikroebene mit starken Bezügen zu Medizin, Psychologie und Kulturwissenschaft im Zentrum der Überlegungen dieser Werke. Durch die Arbeiten BLEIDICKS 1976 etablierten sich im Laufe der Zeit jedoch die vier Denkrichtungen: das personenorientierte Paradigma, das interaktionistische Paradigma, das systemorientierte Paradigma und das gesellschaftsorientierte Paradigma, die bis heute wichtige Forschungsgrund- richtungen dieser Disziplin darstellen. In dieser Zeit entstanden zudem die ersten Ansätze der Integration von Menschen mit Behinderung im Bereich der Bildung und Erwerbsarbeit (vgl. Jacobs 2003). Als Schnittstelle zwischen der Interaktion von Menschen mit Behinderung und der Gesellschaft entwickelte sich in der Literatur z.B. von STAUB-BERNASCONI im Jahr 1995 das Schlüsselkonzept der sozialen Teilhabe , welches bis heute als das gängige Konzept des sozialen
Einbezugs gilt. In der Entwicklung der Teildisziplin haben sich mittlerweile viele wichtige Wissen- schaftler der Soziologie der Behinderten etabliert, wie CLOERKES oder WALDSCHMIDT, die durch ihre Arbeit seit den 1980er und 1990er Jahren die Soziologie der Behinderten stark ausgebaut und um neue Themen wie Bioethik oder Entstigmatisierungsmaßnahmen ergänzt haben. Im Zuge der Behindertenrechtskonvention im Jahr 2008 wurden neue Einbezugsansätze entwickelt. So beschreiben z.B. ALICKE, EICHLER und LAUBSTEIN im Jahr 2015 einen Prozess aus vier aufeinander folgenden Phasen, in dem Inklusion als (nahezu) komplette Auflösung von sozialen Barrieren und Unterschieden als neues Konzept an die Stelle der Integration, dem Einbeziehen von Menschen mit Behinderung bis zu einem gewissen Grad, rückt. Dieser vierstufige Prozess stellt das aktuelle Leitkonzept des gesellschaftlichen Einbezugs der Soziologie der Behinderten dar. Dennoch wird das sogenannte Inklusionskonzept nicht unkritisch gesehen. So bemängelt z.B. KASTL im Jahr 2014, dass diese Auffassung von Einbezug den Ausschluss neuer Teilgruppen bedeutet, da nur für anpassungsfähige Menschen mit Behinderung ein leichterer Zugang entsteht. Außerdem bemängelt PUHR im Jahr 2013, dass zum Abbau sozialer Barrieren in der Erwerbsarbeit, das in der Behindertenrechtskonvention geforderte Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung nach wie vor nur informell und nicht formell in der Rechtssprechung durchgesetzt wird. Im internationalen Bereich, allen voran die USA und Kanada, aber auch im Vereinigten Königreich hat sich zudem die Disziplin der disability studies etabliert. Zwar sind die Ansätze der nationalen Forschung größtenteils inhaltsgleich zu den internationalen Überlegungen, zum Teil aber durch ein anderes Verständnis des Inklusionsbegriffes geprägt. So besteht für TETT im Jahr 2006 Inklusion aus zwei Teilbereichen, der sozialen und politischen Sphäre. Anknüpfend daran bezeichnet WAGNER im Jahr 2007 als Kernaspekt von Inklusion die aktive politische Emanzipation der betroffenen Teilgruppe, was das gängige bundesdeutsche Verständnis von Inklusion als eher passive Regierungsangelegenheit modifiziert.
3.2. Datengrundlage
In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Datengrundlagen samt Erhebungsart, -methode und Entstehungshintergrund erläutert. Unter anderem befinden sich in dieser Masterarbeit Bezüge auf den Teilhabebericht der Bundesregierung 2013, verschiedene Mikrozensus aus den Jahren 2003 bis 2015, die Statistik der Schwerbehinderten Menschen des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2011, der Allensbach-Studie zur gesellschaftlichen Teilhabe aus dem Jahr 2011, dem Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch aus dem Jahr 2013, dem Abschlussbericht der Gesamtbetreuung zum Job4000-Programm des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2014 sowie der Analyse der Arbeitsmarktsituation von schwerbehinderten Menschen der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2015. Diese Datenquellen, obgleich sie aus unterschiedlichen Zeitperioden stammen, wurden gewählt, weil sie umfangreiche Informationen über das Bild der Teilhabesituation im Bereich der Erwerbsarbeit von Menschen mit Behinderung in der BRD liefern.
3.2.1. Teilhabebericht der Bundesregierung 2013
Eine der umfangreichsten und daher wichtigsten Informationsgrundlagen dieser Masterarbeit stellt der Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen aus dem Jahr 2013 dar (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013). Ziel des Berichtes war es zu untersuchen „ inwiefern Menschen, die beeinträchtigt sind, im Zusammenwirken mit Umweltfaktoren Be-schränkungen ihrer Teilhabechancen erfahren, d. h. dadurch erst behindert werden. Er unter- sucht also Faktoren, die die Teilhabe einschränken und Umstände, die sich für die Teilhabe als förderlich erweisen. “ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 9)
Dabei stützt sich der Teilhabebericht auf verschiedene Studiengrundlagen. Zum einen werden die Daten aus den Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor- schung akquiriert. Zum anderen basiert der Bericht auf Daten der telefonischen Erhebung Gesundheit in Deutschland aktuell (GEDA) des Robert Koch-Instituts. Darüber hinaus wurden für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Daten der Studie Gesundheit von Kindern und Jugend- lichen in Deutschland (KiGGS) des Robert Koch-Instituts herangezogen, die für die Untersuchung der Erwerbsarbeit in dieser Masterarbeit jedoch kaum Anwendung finden (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 40).
Das SOEP ist eine jährliche Längsschnittstudie zur sozialen Lage von Menschen der BRD. In jedem Untersuchungszeitraum werden mehr als 20.000 Menschen in rund 11.000 Haushalten befragt. Mittels Stichproben-Design und diversen Gewichtungsfaktoren wird versucht, eine möglichst hohe Repräsentativität der SOEP-Daten für die Bevölkerung in Privathaushalten zu erreichen. Die Rahmendaten (Verteilung nach Region, Alter, Geschlecht, Haushaltsgröße und Nationalität) sind dabei identisch mit den Informationen des amtlichen Mikrozensus (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 41). Die in dem Teilhabebericht ebenfalls verwendete GEDA- Befragung wurde im Zeitraum Mitte September 2009 bis Mitte Juli 2010 organisiert. Auf Basis einer Zufallsstichprobe von Telefonnummern aller in Privathaushalten der BRD lebenden Erwachsenen, die einen Festnetzanschluss besitzen, wurden insgesamt 22.050 Personen telefonisch befragt. Darunter befanden sich 1.818 Menschen mit einer amtlich anerkannten Schwerbehinderung und 6.658 mit chronischen Krankheiten (die keine amtlich anerkannte Schwerbehinderung darstellen, also einen Grad der Behinderung (GdB) unter 50 besitzen, siehe Kapitel 6.1.2.). Durch verschiedene Design- und Anpassungsgewichtung, z.B. nach Bundes- ländern, Altersklassen, Geschlecht und Bildungsgruppen wurde darauf geachtet, in der GEDA- Studie einen hohen Grad an Bevölkerungsrepräsentativität zu gewährleisten. Das Mindestalter der beiden Studien betrug 18 Jahre (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 44). Mithilfe der Informationen der beiden Studien wurde durch die Aufstellung verschiedener Indikatoren wie Prozess-, Struktur- und Ergebnisindikatoren versucht, die Teilhabechancen von Menschen mit Beeinträchtigung zu bewerten (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 38). Die Definitionsgrundlage stellt dabei die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008 dar (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 28), wobei aufgrund der verschiedenen Datenquellen und dem überholten Verständnis von Behinderung Probleme bei der Begriffsabgrenzung entstehen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 34). So wird in dem Teilhabebericht stets von Menschen mit Beeinträchtigung als Sammelbegriff gesprochen, denn der speziellere Begriff der Menschen mit Behinderung hat sich erst in Folge der Behindertenrechtskonvention durchgesetzt. Eine der größeren Teilgruppen wird jedoch bereits als Menschen mit Schwerbehinderung bezeichnet. Der in dieser Studie verwendete Begriff der Menschen mit Beeinträchtigung umfasst somit sowohl Personen mit leichter als auch schwerer Behinderung, jedoch auf Basis einer älterer Definitionsgrundlage. Im Kern bezeichnet er somit dieselbe Gesellschaftsgruppe, wie der neuere Ausdruck Menschen mit Behinderung. Eine genaue Grenze zwischen impairment und disability6 ist somit schwierig zu verordnen, allerdings wird mittels einer Reihung der Datenquellen anhand verschiedener Prioritäten zugunsten des „ neuen Verständnisses von Behinderung “ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 29) versucht, dem entgegenzuwirken und dadurch weitestgehend der Definition der BRK zu entsprechen (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 34). Hier wird angemerkt, dass an den entsprechenden Stellen dieser Arbeit jeweils der Begriffsterminus der zitierten Quelle verwendet wird. Insgesamt verfolgt der Teilhabebericht somit einen hauptsächlich deskriptiven Ansatz. Daher verbindet er die Befunde nicht mit theoretischen Konzepten, sondern will lediglich eine „ empirisch fundierte Informationsbasis liefern “ (Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales 2013: 9). Als umfangreiche Datengrundlage zur Untersu- chung der Lebensbereiche von Menschen mit Behinderung ist der Bericht somit gut geeignet.
3.2.2. Verschiedene Mikrozensus 2003 bis 2015
Neben dem Teilhabebericht der Bundesregierung stellen die Datensätze verschiedener Mikro- zensus (Destatis 2015a; Destatis 2015 b; Destatis 2014a; Destatis 2014b) sowie ihre speziellen Aufbereitungen zum Thema Menschen mit Behinderung bzw. Schwerbehinderung durch Berichte oder Artikel (Pfaff 2005; Pfaff 2006; Pfaff 2012) aus den Jahren 2003 bis 2015 eine weitere große Quellengrundlage dieser Masterarbeit dar. Der Mikrozensus dient dazu, in regel- mäßigen Intervallen Strukturdaten über bestimmte Erhebungsinhalte sowie deren Veränderung im Laufe der Zeit zu erheben und dadurch die Lücken zwischen zwei Volkszählungen zu füllen (vgl. Destatis 2016). Dabei ist der Mikrozensus als Mehrthemenumfrage angelegt und beinhaltet zahlreiche Themenbereiche (wie z.B. Behinderung). Die Studie untersucht jährlich ca. 1,0% der deutschen Bevölkerung, um aus den erhaltenen Informationen mittels Hochrechnungen Aussagen über die Gesamtbevölkerung tätigen zu können (vgl. Destatis 2014a: 2; vgl. Destatis 2016). Die Gesamtbevölkerung und die Größe der Bevölkerungsteile werden hierbei jeweils aus der laufenden Bevölkerungsfortschreibung ermittelt, welche die offizielle Bevölkerungszahl auf Grundlage der jeweils letzten Volkszählung fortführt (Destatis 2014a: 2). Somit handelt es sich bei dieser Erhebung um eine dezentrale Statistik, auf Basis des Mikrozensusgesetzes, die nach festen Regelungen und Normen durchgeführt wird (vgl. Destatis 2016). Durch das hohe Maß an Regelmäßigkeit und Vergleichbarkeit sowie die genaue Darstellung, z.B. die Verteilung in bestimmten Bereichen anhand der unterschiedlichen Behinderungsgrade, lässt sich der Mikro- zensus somit als weitere Untersuchungsgrundlage sehr gut heranführen.
3.2.3. Statistik der schwerbehinderten Menschen 2011
Seit 1985 wird auf Grundlage § 131 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) alle zwei Jahre eine Bundesstatistik über schwerbehinderte Menschen durchgeführt (vgl. Destatis 2013:
4). Dabei werden die Gesamtzahl der Schwerbehinderten mit gültigem bundesdeutschem Ausweis, persönliche Merkmale wie Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Wohnort sowie die Art, Ursache und der Grad der Behinderung (GdB) erhoben (vgl. Destatis 2013: 4). Auskünfte werden dabei von den (Landes-)Versorgungsämtern im Rahmen der Versorgungsverwaltung errichteten versorgungsärztlichen Untersuchungsstellen eingeholt. Die Definition von Behinderung entspricht dabei § 3 des Bundesgleichstellungsgesetz (BGG), welche ebenfalls in dieser Arbeit als Arbeitsdefinition gilt. Anhand von insgesamt 55 Kategorien wird die Art der Behinderung erfasst, wobei diese Unterscheidung nicht primär auf der ursächlichen, sondern auf der Erscheinungsform der Behinderung und der durch sie bestimmten Funktionseinschränkung (z. B. funktionelle Veränderung an den Gliedmaßen) basiert (vgl. Destatis 2013: 4). Zudem 14 orientiert sich der Bericht über die Statistik von schwerbehinderten Menschen 2011 bei der Einschätzung der Schwere der Beeinträchtigung am GdB, der in Zehnerschritten von 20 bis 100 (ab einem Grad von 20 gilt eine Person als behindert, ab einem Grad von 50 als schwerbehindert (vgl. SGB IX) eingeteilt wird (vgl. Destatis 2013: 4; siehe Kapitel 6.1.2.). Genauere Angaben zu den Daten und Inhalten der einzelnen Mikrozensus werden an den jeweils zitierten Stellen durch- geführt.
3.2.4. Allensbach-Studie zur gesellschaftlichen Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung 2011
Eine weitere Studie, auf die in dieser Arbeit Bezug genommen wird, ist die bevölkerungs- repräsentative Befragung zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland des Institut für Demoskopie Allensbach (vgl. IFD-Allensbach 2011). Ebenfalls vor dem Hintergrund der am 03. Mai 2008 in Kraft getretenen Übereinkunft über die Rechte von Menschen mit Behinderung der Vereinten Nationen (BRK) und dem daraus entstandenen Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts- konvention (NAP 2011) führte das Institut Allensbach im Auftrag des Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Meinungsumfrage zum Thema der derzeitigen Situation der gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung durch (vgl. IFD-Allensbach 2011: 1). Zwischen dem 09.05.2010 und dem 22.05.2010 wurden im Rahmen dieser Untersuchung 1.857 Personen in mündlich-persönlichen face-to-face Interviews befragt (vgl. IFD-Allensbach 2011: 1). Darüber hinaus werden weitere Informationen zum Umfang der Stichprobe, wie das Alter bzw. die Arbeitsbereiche der Befragten oder methodische Aspekte, z.B. die Verwendung von offenen- oder Leitfaden gestützten Interviews, nicht in der Studie selbst genauer erläutert. Es lässt sich lediglich aus der Darstellung einiger Ergebnisse ableiten, dass die Befragungsstichprobe wahrscheinlich aus Personen besteht, die 16 bis 60 Jahre oder älter sind (vgl. IFD-Allensbach 2011: 1). Die Themenfelder der Allensbach Studie zur gesellschaftlichen Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung waren unter anderem die generelle Einschätzung der aktuellen Situation der Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland sowie Integration, gemeinsame Bildung, Arbeitsleben oder Barrierefreiheit.
3.2.5. Inklusionsbarometer der Aktion Mensch zum Bereich Arbeit 2013
Im Jahr 2013 gab die Aktion Mensch eine bundesweite repräsentative Umfrage in Auftrag, welche in Zusammenarbeit mit dem Handelsblatt Research Institute und dem Meinungs- forschungsinstitut Forsa ausgeführt wurde7. Insgesamt wurden bei der Untersuchung des Inklusionsbarometers Arbeit 402 Unternehmen (mit mindestens 20 Angestellten) die Menschen mit Behinderung beschäftigen, ausgewählt und 807 berufstätige Arbeitnehmer mit Schwer- behinderung zur Arbeitsmarktsituation sowie ihren Erfahrungen diesbezüglich interviewt (vgl. Aktion Mensch 2013: 6). Das Ziel der Studie bestand darin, die Erfahrungen von berufstäti- gen Schwerbehinderten und Arbeitgebern heraus zu finden und miteinander zu vergleichen (vgl. Aktion Mensch 2013: 6). Der Schwerpunkt der Umfrage bestand somit darin „die beiden Seiten selbst zu Wort kommen [zu] lassen“ (Aktion Mensch 2013: 6). Darüber hinaus wurde (entsprechend dem Ansatz einer Panelstudie) von den Forschern angestrebt, die Untersuchung mit ähnlichen Stichproben in Zukunft jährlich durchzuführen, um eine zukünftige Vergleich- barkeit in Zukunft gewährleisten zu können (vgl. Aktion Mensch 2013: 6). Dazu wurden verschiedene Indikatoren aufgestellt, um die Mehrdimensionalität des Prozesses der Inklusion sowie die Verschlechterung oder Verbesserung genauer erfassen zu können (vgl. Aktion Mensch 2013: 11). Die Ergebnisse der Studie wurden zudem (soweit möglich) nach demografischen Aspekten, Anstellungsverhältnisse, Regionen und Branchen sortiert (vgl. Aktion Mensch 2013: 24). Die geografische Einteilung umfasst dabei verschiedene Einzugsgebiete. So besteht die 'Nord-Region' aus Niedersachsen, Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein, die 'Region Nord- rhein-Westfalen' aus dem gleichnamigen Bundesland, die 'Mitte-Region' aus Hessen, Rheinland- Pfalz und dem Saarland, die 'Süd-Region' aus Bayern und Baden-Württemberg und die 'Ost-Region' aus Berlin, Brandenburg, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg- Vorpommern (vgl. Aktion Mensch 2013: 24). Zudem wurde bei der Einteilung der 'Branchen' eine 'Sonstiges'-Kategorie für die Arbeitssektoren erstellt, die nicht zur Auswahl standen (vgl. Aktion Mensch 2013: 24). Als Informationsquelle für diese Masterarbeit eignet sich das Inklusions- barometer Arbeit deshalb gut, weil es weitreichende Einblicke in die Arbeitsverhältnisse von Menschen mit Schwerbehinderung in bundesdeutschen Unternehmen erlaubt.
3.2.6. Abschlussbericht der Gesamtbetreuung zum Programm Job4000
Das Arbeitsförderprogramm Job4000 war eine bundesweite Maßnahme in den Jahren 2007 bis 2013 (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006) für „den speziellen Bedarf der schwerbehinderten Menschen bei der Integration in Arbeits- und Ausbildungsplätze in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes “ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014: 9).
Genaueres dazu in Kapitel 6.5.2. Der Abschlussbericht der Gesamtbetreuung zum Programm Job4000 ist eine Evaluationsstudie, die sich mit den positiven und negativen Auswirkungen der titelgebenden Maßnahme beschäftigt (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014: 10). Da es sich dabei um eine Vollerhebung handelte, umfasste die Stichprobe, sowohl alle „von Job4000 begonnenen oder geschaffenen Beschäftigungs- und Ausbildungsverhältnisse “ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014: 10) als auch „ die Gesamtheit der einstellenden Betriebe “ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014: 10). Dabei ging es hauptsächlich darum, die Outcomes des Job4000-Programmes zu erfassen und die Nachhaltigkeit auf Seiten der Begünstigten sowie des Arbeitsmarktprogrammes darstellen zu können (vgl. Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales 2014: 10). Insgesamt nahmen 2.091 Personen an den Erhebungen teil, wovon 1.305 (62,4%) Männer und 786 (37,6%) Frauen waren (vgl. Bundes- ministerium für Arbeit und Soziales 2014: 25). Diese Evaluationsstudie eignet sich gut für die Untersuchung dieser Masterarbeit, weil sie umfangreiche Einblicke in die Durchführung und den Erfolg einer gesellschaftlichen Einbezugsmaßnahme der Bundesregierung für Menschen mit Schwerbehinderung im Bereich der.
3.2.7. Bericht zur Arbeitsmarktsituation von schwerbehinderten Menschen im Jahr 2013
Ein weiterer Bericht auf den sich diese Masterarbeit bezieht, behandelt die Arbeitsmarkt- situation von Schwerbehinderten im Jahr 2013 und stammt von der Bundesagentur für Arbeit (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2015). Ähnlich dem Mikrozensus ergeben sich auf Basis der „ Angaben der Arbeitgeber gemäßdes Anzeigeverfahrens nach§80 Abs. 2 SGB IX “ (Bundes- agentur für Arbeit 2015: 7) besondere Aussagen über die Entwicklung von Menschen mit Schwerbehinderung auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt sowie Informationen über die Verteilung nach verschiedenen Branchen (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2015: 7). Daher eignet sich auch dieser Bericht zur Illustration der Situation von Menschen mit Schwerbehinderung im Bereich der Erwerbsarbeit.
3.3. Zwischenfazit
Die beiden Forschungsfelder Soziologie der Behinderten bzw. disability studies sind relativ neue Teilbereiche der Sozialwissenschaft und haben dennoch eine vielfältige Historie seit den 1970er Jahren in Deutschland. Beide Richtungen sind jedoch meist schwer voneinander abgrenzbar, weil sie sich in der Regel stark überschneiden bzw. die Wissenschaftler beiden Lagern angehören.
Wie bereits in der Einleitung angeklungen, gibt es zudem sehr viele deskriptive Studien zum Prozess des Einbezugs von Menschen mit Behinderung, die zum Teil sehr spezifische Einsichten in einzelne Teilbereiche der Erwerbsarbeit und die Situation von Menschen mit Behinderung in der Erwerbsarbeit liefern. Jedoch galt vor der Behindertenrechtskonvention ein anderes Verständnis von Behinderung (Verständnis von Beeinträchtigung), was die Vergleichbarkeit der verschiedenen Datensätze nicht komplett eindeutig macht. Zudem befassen sich die Studien i.d.R. mit unterschiedlichen Untersuchungsgruppen. So gibt es viele Erhebungen, die entweder nur an der Situation von Schwerbehinderten oder der Gesamtsituation aller Menschen mit Behinderung interessiert sind. Sehr wenige Untersuchungen (wie die Mikrozensus) widmen sich darüber hinaus ausführlich beidem und stellen somit ein differenziertes Bild der Gesamtheit der Menschen mit Behinderung dar. Genauer wird auf diese angesprochenen Probleme noch in den Kapitel 6.1. sowie Kapitel 8. eingegangen.
4. Theoretische Grundlagen
In diesem Abschnitt der Arbeit werden die theoretischen Grundlagen und wichtigsten Begriffe erläutert. Dabei wird zunächst das moderne Verständnis von Behinderung anhand der Konzepte des medizinischen und des sozialen Modells erklärt. Im nächsten Schritt werden die vier Paradigmen der Soziologie der Behinderten skizziert, aus denen sich während des Untersuchungsprozesses verschiedene Erklärungsansätze ableiten lassen, die in Kapitel 7.3. expliziter erörtert werden. Als Letztes wird schließlich auf die soziale Teilhabe als wichtiger Indikator verwiesen und der Prozess des gesellschaftlichen Einbezugs samt der vier verschiedenen Einbezugsphasen erläutert.
4.1. Das Verständnis von Behinderung
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage nach den sozialen Aspekten, die sich aus körper- lichen Beeinträchtigungen ergeben. Daher muss zunächst einmal geklärt werden, was unter Behinderung bzw. disability und Beeinträchtigung bzw. impairment zu verstehen ist und worin Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede bestehen. Im Jahr 2001 erstellte die Weltgesundheits- organisation (WHO) im Rahmen der Internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF-Klassifikation) eine umfangreiche Begriffsklärung des Verständnisses von Behinderung. Sie besteht aus den folgenden zwei Teilkomponenten (vgl. WHO/DIMDI 2005: 24f):
(1) das medizinische Modell von Behinderung
(2) das soziale Modell von Behinderung
Nachfolgend werden die wesentlichen Aspekte der beiden unterschiedlichen Verständniskonstrukte erläutert.
4.1.1. Das medizinische Modell von Behinderung
Das medizinische Modell von Behinderung setzt den Fokus hauptsächlich auf die individuelle biologische Funktionsfähigkeit eines Menschen, wobei die genauere Aufschlüsselung anhand der einzelnen Körpersysteme, Körperstrukturen sowie deren Einschränkungen erfolgt (vgl. WHO/DIMDI 2005: 13). Bezeichnet wird Behinderung in diesem Modell im Allgemeinen, „als ein Problem einer Person, welches unmittelbar von einer Krankheit, einem Trauma odereinem anderen Gesundheitsproblem verursacht wird, das der medizinischen Versorgung bedarf, etwa in Form individueller Behandlung durch Fachleute.“ (WHO/DMDI 2005: 24)
Eine Person die aufgrund eines Defizits von Körperfunktionen oder Körperstrukturen in ihrem Handeln eingeschränkt ist (z.B. beim Hören, Sehen bzw. hinsichtlich geistiger oder physischer Funktionalität), kann somit als beeinträchtigt8 (impairment) bezeichnet werden (vgl. Oliver 1996: 29f). Der Grad der Beeinträchtigung hängt dabei neben der Krankheit bzw. Gesundheitsstörung vor allem von dem Umfang der Aktivitäten ab, die eine beeinträchtigte Person noch ausführen kann (vgl. WHO/DMDI 2005: 24). Ein hoher Grad an Einschränkung bedeutet behindert zu sein. Als Lösungsansätze werden im medizinischen Modell sowohl die Heilung des Krankheitszustands, als auch die Anpassung oder Verhaltensänderung der Menschen mit Behinderung angesehen (WHO/DMDI 2005: 24).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF, eigener Entwurf nach WHO/DMDI 2005: 23.
4.1.2. Das soziale Modell von Behinderung
Das soziale Modell von Behinderung befasst sich mit den Auswirkungen der körperlichen Beeinträchtigung auf soziale Aktivitäten und die Partizipationsmöglichkeiten hinsichtlich individueller und gesellschaftlicher Perspektiven (vgl. WHO/DIMDI 2005: 13). Angesehen wird Behinderung in dieser Verständnisweise
„hauptsächlich als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und im Wesentlichen als eineFrage der vollen Integration Betroffener in die Gesellschaft. Hierbei ist‚Behinderung‘keinMerkmal einer Person, sondern ein komplexes Geflecht von Bedingungen, von denen viele vom gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden.“ (WHO/DMDI 2005: 25)
Ist die Teilhabe einer körperlich beeinträchtigten Person zusätzlich durch ungünstige Umwelt- faktoren soweit eigeschränkt, dass sie sich stark auf die individuelle soziale Lebenslage auswirkt, lässt sich von Behinderung (disability) sprechen.9 In Abbildung 2 wird das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente zusammengefasst. Die Bewältigung des „ Problems sozialen Handelns “ (WHO/DMDI 2005: 25) liegt dieser Verständnisweise folgend darin, eine vollständige Partizipation von Menschen mit Behinderung in „ allen Bereichen des sozialen Lebens “ (WHO/DMDI 2005: 25) zu gewährleisten und gehört daher zur „ gemeinschaftlichen Verantwortung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit “ (WHO/DMDI 2005: 25).
4.1.3. Die Arbeitsdefinition
Die Vereinten Nationen haben mit der Behindertenrechtskonvention eine starke politische Richt- linie zum Umgang mit dem Gesellschaftsphänomen Behinderung etabliert. Im ersten Artikel wird eine, die beiden vorherigen Verständnismodelle vereinende Definition aufgestellt, die den Begriff der Behinderung um eine weitere Komponente erweitert, die Langfristigkeit der Betroffenheit:
„Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ (Art. 1 Abs. 2 BRK)
Aus den vorherigen Definitionen ergeben sich drei wesentliche Elemente, die sich zum Teil ge- genseitig bedingen und gleichzeitig Voraussetzungen dafür sind, von Behinderung zu sprechen:
(1) körperliche Einschränkung
(2) erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
(3) die Langfristigkeit der gegebenen Situation
Im deutschen Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 wurde eine sehr detaillierte Definition von Menschen mit Behinderung aufgestellt, welche die genannten Komponenten nicht nur beinhaltet, sondern strikt implementiert:
„Menschen mit Behinderungen sind Personen, deren körperliche Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate vondem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben inder Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (§ 3 BGG)
Diese Definition aus dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) wird in der Masterarbeit als
Arbeitsdefinition von Behinderung verwendet werden. Auf die genauere Unterteilung anhand einzelner spezifischer Merkmale, wie Krankheiten oder Grade der Behinderung etc. wird in der Einleitung des Analyseteils (Kapitel 6.1.) eingegangen.
4.2. Paradigmen der Soziologie der Behinderten
Innerhalb der Wissenschaft der Soziologie hat sich ein eigener Forschungsstrang namens Soziologie der Behinderten etabliert, dessen „ spezieller Forschungsgegenstand […] die sozialeWirklichkeit von Menschen mit Behinderung [ist]. “ (Cloerkes 2007: 3) Innerhalb dieser Teildisziplin haben sich wiederum vier primäre Sichtweisen herausgebildet, aus denen sich Theorien und Modelle generieren lassen (vgl. Bleidick 1976: 411):
(A) das personenorientierte Paradigma
(B) das interaktionistische Paradigma
(C) das systemorientierte Paradigma
(D) das gesellschaftsorientierte Paradigma
Die Schwerpunkte dieser verschiedenen Ansätze werden im Folgenden kurz vorgestellt und eine Auswahl daraus an späterer Stelle zur Erklärung der erhaltenden Befunde noch vertieft (Kapitel 7.3.). Da es sich bei dieser Masterarbeit um eine Analyse verschiedener Zusammen- hänge auf gesamtgesellschaftlicher Ebene handelt, stammen die Erklärungsansätze aus- schließlich aus dem systemtheoretischen bzw. gesellschaftsorientierten Paradigma. Der Voll- ständigkeit halber, werden die anderen Paradigmen dennoch im Folgenden kurz erläutert.
4.2.1. Das personenorientierte Paradigma
Innerhalb des personenorientierten Paradigmas wird Behinderung als ein „ absolut feststehender Defekt “ (Bleidick 1976: 411) angesehen. Dieser Status gilt als „ persönliches, weitgehend un-abänderliches und somit hinzunehmendes Schicksal “ (Bleidick 1976: 411). Das Forschungs- interesse gilt somit weniger der „ Relativierung [des Behindertseins] durch soziale Bezugs- systeme “ (Bleidick 1976: 411), sondern versucht vielmehr das Verhalten der behinderten Person selbst aus den speziellen „ personenzentrierten individuellen Angelegenheiten “ (Bleidick 1976: 411) zu ergründen. Der Fokus dieses Paradigmas richtet sich daher nicht auf die sozialen Konsequenzen, sondern auf den individuell (medizinischen) Sachverhalt von Behindertsein (vgl. Bleidick 1976: 411).
4.2.2. Das interaktionistische Paradigma
Im Gegensatz zur vorherigen Sichtweise ist im interaktionistischen Paradigma Behinderung bzw. Behindertsein kein „ vorgegebener Zustand, sondern ein Zuschreibungsprozess von Erwartungs-haltungen der Gesellschaft “ (Bleidick 1976: 412). Das Verhalten eines Menschen mit Behinderung weicht unweigerlich „ von den Normen der Gesellschaft ab “ (Bleidick 1976: 412) und wird somit als „ in unerwünschter Weise anders “ (Bleidick 1976: 412) von sozialen Kontroll- mechanismen registriert, mit dem Etikett Behinderung versehen und einem „ sozialen Zwangs-status “ (Bleidick 1976: 412) zugewiesen. Der Mittelpunkt dieses Paradigmas liegt somit auf sozialen Erwartungshaltungen, dem devianten Verhalten von Personen mit Behinderung und der damit verbundenen Stigmatisierung: als auf bestimmte Art und Weise anders zu sein.
4.2.3. Das systemtheoretische Paradigma
Das systemtheoretische Paradigma sieht Behinderung als „ eine […] vom Bildungs- und Ausbildungswesen erzwungene Ausdifferenzierung “ (Bleidick 1976: 412). Es überlagern sich z.B. das „ Ökonomische- und das Erziehungssystem “ (Bleidick 1976: 412) in ihrer „Qualifikations- und Selektionsfunktion “ (Bleidick 1976: 412) und erzeugen dadurch erhöhten „ kulturellen Auslese-druck “ (Bleidick 1976: 412), der sich in „ Lernbehinderung als Schulpflichtleistungsversagen “ (Bleidick 1976: 412) niederschlägt, eine Form anomischen Drucks. Zwar lässt sich dieser durch gewisse Institutionen verringern, so besitzen „ Sonderschulen eine Entlastungsfunktion “ (Bleidick 1976: 412). Jedoch genügen diese Einrichtungen alleine nicht, um dem Druck in seiner Gänze Stand zu halten. Der Kern dieses Paradigmas ist somit das Verständnis, dass der Status des Behindertseins im Wesentlichen als ein Produkt von (Defiziten in) gesellschaftlichen Teil- systemen angesehen wird.
4.2.4. Das gesellschaftsorientierte Paradigma
Als universelle Sichtweise von Behinderung begreift sich das gesellschaftstheoretische Paradigma. Hier wird Behinderung als Resultat unterschiedlicher „ Klassenverhältnisse der Gesell- schaft “ (Bleidick 1976: 412) begriffen. Zum Beispiel ist die Schule als Einrichtung für Menschen mit Behinderung „ eine dem Arbeitsmarkt vorgelagerte Institution[,] ein Element im Re-produktionsprozess der Gesellschaft “ (Bleidick 1976: 412) mit der Aufgabe, „ Behinderte für niedrige Arbeitstätigkeiten einer‚industriellen Reservearmee‘ zu funktionalisieren “10 (Bleidick 1976: 412). Behindertsein wird im Sinne dieses Paradigmas als Gesellschaftsprodukt
[...]
1 Das Zitat stammt aus einer Rede Heinemanns vom 11.10.1970, während eines Behindertenkongresses des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschlands e.V. (VdK) (vgl. Möckel/Adam/Adam 1999: 193).
2 Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) wurde 2006 verabschiedet, trat jedoch erst 2008 in Kraft, daher wird sie im Literaturverzeichnis als BRK 2006 gelistet.
3 Die einzelnen Studien bzw. die Theoriemodelle werden an den entsprechenden Stellen in Kapitel 3. sowie Kapitel 4. noch ausführlicher erläutert.
4 Diese Arbeit bezieht sich auf die Situation von Menschen mit Behinderung in der BRD, daher werden hauptsächlich Ver- treter der nationalen disability studies sowie der Soziologie der Behinderten betrachtet. Jedoch lässt sich i.d.R. nicht ein- deutig zwischen den beiden Forschungsgruppen differenzieren, da die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder sich in den meisten Fällen überschneidet. Auf internationale disability studies wird in dieser Masterarbeit nur zum Teil an den passenden Stellen Bezug genommen.
5 Eine genaue Aufschlüsselung der Argumente erfolgt bei der jeweiligen Zitation an den entsprechenden Stellen in dieser Untersuchung.
6 Die englischen Begriffe wurden aus der Behindertenrechtskonvention übernommen, weil sie sich eindeutiger unterscheiden lassen als die deutschen Bezeichnungen. Die ist Thema von Kapitel 4.1.
7 Zwar gibt es mittlerweile mehrere Inklusionsbarometer zum Thema Arbeit der Aktion Mensch aus verschiedenen Jahren, die aktuellere Informationen zum Thema Erwerbsarbeit von Menschen mit Behinderung liefern können. Um eine gewisse Nähe zu den übrigen Informationsquellen (die meist aus den Jahren 2008 bis 2013 stammen) und dadurch eine höhere Vergleichbarkeit zu gewährleisten wird in dieser Masterarbeit jedoch auf das erste Inklusionsbarometer Arbeit aus dem Jahr 2013 zurückgegriffen.
8 In Anlehnung an den Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslage von Menschen mit Behinderung aus dem Jahr 2013 (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 7).
9 Ebenfalls in Anlehnung an den Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslage von Menschen mit Behinderung aus dem Jahr 2013 (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 7).
10 Hier ist die Ausdrucksweise des Autors zu beachten, der aus einem älteren kulturellen bzw. gesellschaftlichen Kontext stammt. Gemeint sind an dieser Stelle Berufe, die ein geringeres Maß an Bildung voraussetzen, wie z.B. im Handwerksbereich. Zudem stammt die Hervorhebung 'industrielle Reservearmee' ebenfalls vom Autor.