Die Belehrungspflichten in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung


Seminararbeit, 2016

46 Seiten, Note: 13 juristische Notenpunkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A] Die Beschuldigtenvernehmung
I. Die Doppelfunktion der Vernehmung
II. Bedeutung der Polizeivernehmung für Verlauf und Ausgang des Strafverfahrens
1. Eröffnung der Hauptverhandlung
2. Verwertbarkeit in der Hauptverhandlung
a) Verwertbarkeit des Vernehmungsprotokolls
b) Vernehmung des Polizeibeamten als Zeugen vom Hörensagen

B] Die Beschuldigtenbelehrung
I. Spannungsfeld zwischen Beschuldigtenrechten und den Verfahrenszielen der Sachaufklärung und Wahrheitsfindung
II. Die Schaffung gleichwertiger Verhältnisse als übergeordnetes Ziel der Belehrungsverpflichtung
1. Die psychologische Ausgangssituation
2. Schutzzwecke der Belehrung
a) Die Belehrung als Kenntnisverschaffung
b) Die Belehrung als Verhaltens- und Wertungsmaßstab
c) Die Belehrung als Übereilungsschutz
d) Waffengleichheit als übergeordnetes Belehrungsziel
III. Normative Rechtsgrundlagen

C] Entstehung der Belehrungspflicht
I. Personales Erfordernis – Der Beschuldigte
1. Der strafprozessuale Beschuldigtenbegriff
a) Der Anfangsverdacht
b) Inkulpationsakt der Strafverfolgungsbehörden
2. Problematiken im Zusammenhang mit der Beschuldigteneigenschaft
a) Abgrenzung zum tatverdächtigen Zeugen
b) Informatorische Befragungen
c) Die bewusste Umgehung der Belehrungspflicht
II. Sachliches Erfordernis – Die Vernehmung
1. Der Vernehmungsbegriff
2. Problematiken im Zusammenhang mit der Vernehmung
a) Spontanäußerungen des Beschuldigten
b) Der Einsatz verdeckter Ermittler
c) Der Einsatz von Hörfallen

D] Inhalt und Umfang der Belehrungspflicht
I. Eröffnung des Tatvorwurfs
II. Belehrung über die Aussagefreiheit
III. Belehrung über das Recht auf Verteidigerkonsultation
IV. Belehrung über Antragsrechte
V. Verweis auf schriftliche Äußerung und Täter-Opfer-Ausgleich

E] Rechtsfolgen unterlassener Belehrung
I. Die Widerspruchslösung
1. Formale Anforderungen an den Widerspruch
2. Folgen einer Kenntnis der Belehrungsinhalte
3. Kritik an der Widerspruchslösung
a) Defizitäre Begründung der Rechtsdogmatik
b) Überschreitung der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung
c) Unzulässige Mitwirkungspflicht des Angeklagten und des Verteidigers
d) Zurechnung von Verteidigerverschulden
e) Umstrittene Dogmatik der Widerspruchslösung
aa) Der Widerspruch als Tatbestandsvoraussetzung
bb) Der Widerspruch als Verzicht
cc) Der Widerspruch als strafprozessuale Einrede
dd) Der Widerspruch als Obliegenheitsverletzung
4. Eigene Stellungnahme
II. Verstöße gegen andere Belehrungspflichten

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Verzeichnis verwendeter Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Belehrungspflichten in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung Im Jahre 2015 wurden ausweislich der polizeilichen Kriminalstatistik 6.330.649 Straftaten verübt[1]. Die tatsächliche Straftatenanzahl ist bedingt durch spezialisierte Einordnungskriterien und einer nicht näher bestimmbaren Dunkelziffer deutlich höher[2]. Die Rechtsgemeinschaft besitzt ein legitimes Interesse an der restlosen Aufklärung und Sanktionierung jeder dieser Straftaten. Die Sachverhaltsaufklärung obliegt gem. den §§ 160, 161 StPO primär der StA, obwohl in der Praxis die Ermittlungstätigkeit regelmäßig über polizeiliche Ermittlungen realisiert wird.

Das mag daran liegen, dass der Polizei das Recht und die Pflicht des ersten Zugriffs (§ 163 Abs. 1 StPO) zukommt, sie also gewissermaßen „näher am Geschehen ist“. Zugleich ist sie als einziges Strafverfolgungsorgan ressourcenbedingt in der Lage, der großen Anzahl an Straftaten nachzukommen[3].

Unter all dem öffentlichen Druck und der großen strafprozessualen Verantwortung, die damit auf ihr lastet, darf nicht der Beschuldigte[4] vergessen werden. Er bildet den Dreh- und Angelpunkt der vermehrt einseitig zulasten gegen ihn geführten Ermittlungen[5], ist indessen in Ermangelung von Vernehmungserfahrung und Rechtskenntnis ein äußerst „verletzliches Prozesssubjekt“, um dessen Schwächen die Polizeibeamten genau wissen.

Im Rahmen dieser Seminararbeit soll die ungleiche Beziehung zwischen Polizeibeamten und Beschuldigten unter dem Gesichtspunkt der polizeilichen Belehrungspflichten und ihrer Folgen einer näheren Untersuchung unterzogen werden.

A] Die Beschuldigtenvernehmung

Der Polizei werden von Gesetzes wegen abseits von Durchsuchung und Beschlagnahme, die ihrerseits nur unter strengen Anforderungen vollzogen werden können, nur wenige Eingriffsrechte zugebilligt[6]. Umso mehr ist eine erfolgreiche Sachverhaltserforschung von der Befragung von Beschuldigten und Zeugen abhängig.

I. Die Doppelfunktion der Vernehmung

Die Vernehmung erfüllt nach überwiegend vorherrschender Auffassung eine Doppelfunktion [7] .

Einerseits stellt die polizeiliche Vernehmung für den Beschuldigten, gegen den ein Strafverfahren betrieben wird, vielfach die erste Möglichkeit dar, zum Tatvorwurf Stellung zu nehmen sowie entlastende Tatsachen vorzubringen, um die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu entkräften (§ 136 Abs. 2 StPO). In dieser Funktion gewährt sie ihm verfassungsrechtlich zugesichertes rechtliches Gehör i.S.v. Art. 103 Abs. 1 GG [8] .

Andererseits können getätigte Aussagen als Beweismittel in der Hauptverhandlung herangezogen werden. Der Beschuldigte ist zwar kein Beweismittel im formellen Sinne [9] und darf nicht zu einer Aussage gegen seinen Willen gezwungen werden, wohl aber beeinflusst sein Aussageverhalten den Fort- und Ausgang des Strafverfahrens (dazu sogleich). In dieser Hinsicht dient die Vernehmung dem strafprozessualen Zweck der Sachaufklärung, für den die Vernehmung des Beschuldigten einen unentbehrlichen Beitrag leistet.

II. Bedeutung der Polizeivernehmung für Verlauf und Ausgang des Strafverfahrens

Gemäß § 163a Abs. 1 S. 1 StPO ist der Beschuldigte spätestens vor dem Abschluss der Ermittlungen zu vernehmen, es sei denn, das Verfahren führt zur Einstellung. Demzufolge ist die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung im ersten Strafverfahrensabschnitt, dem Ermittlungsverfahren (§§ 160 – 172 StPO), angesiedelt.

Trotz des frühen Verfahrensstandes wirkt sich die Beschuldigtenvernehmung maßgeblich auf das Verfahrensergebnis aus. Diese Auswirkungen zeigen sich erstmalig in den Eröffnungsvoraussetzungen des Hauptverfahrens, reichen indessen bis in den Strafprozess im engeren Sinne hinein.

1. Eröffnung der Hauptverhandlung

Die Eröffnung der Hauptverhandlung bedarf als unverzichtbare Prozessvoraussetzung eines hinreichenden Tatverdachts. Dieser ist stets zu bejahen, wenn die Beweisfähigkeit des Tatvorwurfs den Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht[10].

Auf der Grundlage einer vorläufigen, prognostizierten Einschätzung muss die überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit (mehr als 50 %) in der Hauptverhandlung in Aussicht stehen. Die Beurteilung dessen unterliegt einer zweifachen Prüfung durch StA und Gericht, indem der hinreichende Tatverdacht zunächst Anlass dafür gibt, dass die StA gemäß den §§ 152 Abs. 1, 170 Abs. 1 StPO die öffentliche Klage erhebt. Ohne Anklageerhebung fehlt es bereits an der Notwendigkeit einer gerichtlichen Untersuchung des Tatvorwurfes[11], denn Gegenstand einer Hauptverhandlung kann entsprechend des Anklagegrundsatzes (§ 151 StPO) nur der zuvor angeklagte Sachverhalt bilden.

Im Anschluss an eine Bejahung des hinreichenden Tatverdachts wird derselbe im Zwischenverfahren (§§ 199 – 211 StPO) gerichtlich bestätigt. Das Gericht entscheidet gleichsam unter vorläufiger Bewertung der Verurteilungswahrscheinlichkeit über die Eröffnung der Hauptverhandlung (§§ 199 Abs. 1, 203 StPO).

Der Beschuldigtenvernehmung kommt innerhalb dieser Verfahrensschritte insofern eine wesentliche Bedeutung zu, als dass Staatsanwaltschaft und Gericht den hinreichenden Tatverdacht maßgeblich anhand der Aktenlage beurteilen, die in weiten Teilen durch die schriftlich protokollierten Vernehmungsergebnisse geprägt ist, sodass jedenfalls nicht auszuschließen ist, dass das Aussageverhalten des Beschuldigten letztlich über die Eröffnung der Hauptverhandlung nicht unerheblich mitentscheidet oder gar für diese hauptursächlich ist.[12]

Die Beurteilung anhand der Aktenlage ist aus Praktikabilitätsgründen unvermeidbar, denn es wäre eine in der Justizpraxis nicht zu bewältigende Mehrbelastung für die Strafverfolgungsapparate, wenn in jeder Strafsache ein persönlicher Eindruck von Tatgeschehen und Täter zur Eröffnung der Hauptverhandlung von Nöten wäre[13]. Im Ergebnis bedeutet dies aber auch, dass die Aussagen des Beschuldigten, unbeschadet einer späteren Abkehr, die weitere Strafverfolgung in der Vielzahl der Fälle erst ermöglicht.

2. Verwertbarkeit in der Hauptverhandlung

Es stellt sich ferner die Frage, inwiefern die Vernehmungsergebnisse einen Beitrag zur Urteilsfindung zu leisten vermögen.

a) Verwertbarkeit des Vernehmungsprotokolls

Die Polizei ist in entsprechender Anwendung des § 168b Abs. 1 und 2 StPO [14] dazu angehalten, die Vernehmungsergebnisse in einem schriftlichen Vernehmungsprotokoll festzuhalten. Zu denken wäre hier an eine Verwertung als Urkundenbeweis i.S.d. § 254 Abs. 1 StPO. Diese Vorschrift findet gemäß ihres Wortlauts nur auf solche Geständnisse Anwendung, die in einem richterlichen Protokoll enthalten sind, sodass polizeiliche Protokolle nicht unter den Regelungsbereich der Norm fallen.

Eine unmittelbare Verwertung widerspräche zugleich dem Mündlichkeitsgrundsatz des § 261 StPO, der vorschreibt, dass das richterliche Urteil aus dem „Inbegriff der Hauptverhandlung“ zu schöpfen ist. Ebenso tangiert eine Verwertung als Urkundenbeweis den Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO, nach dem der Personalbeweis dem Urkundenbeweis vorrangig ist. Eine Verwertung des Protokolls in dieser Hinsicht ist demnach nicht möglich.

Trotz dieser verfahrensbedingten Einschränkungen, kann eine Verlesung zwecks Vorhalt erfolgen, um das Erinnerungsvermögen des Angeklagten sowie des Polizeibeamten zu stützen oder auf widersprüchliches Aussageverhalten hinzuweisen [15] . Diese Form der Verlesung nimmt eine rein unterstützende Funktion wahr und dient nicht unmittelbar der Beweisverwertung [16].

Zu beachten gilt allerdings, dass etwaige auf diesen sog. „formfreien Vorhalt“ folgende Aussagen vor Gericht uneingeschränkt verwertet werden können [17] , da diese die genannten Verfahrensgrundsätze bedenkenlos wahren.

b) Vernehmung des Polizeibeamten als Zeugen vom Hörensagen

Praktisch bedeutsamer ist der Fall, in dem der vernehmende Polizeibeamte als Zeuge vom Hörensagen vernommen werden. Diese Aussagen des Polizeibeamten, die sich inhaltlich auf die in der Polizeivernehmung durch den Beschuldigten preisgegebenen Informationen beziehen, unterliegen anerkanntermaßen im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO) der Verwertbarkeit [18] . Der Zeugenaussage kommt in diesem Fall indessen regelmäßig nur eine indizielle Bedeutung zu, da die Informationen aus zweiter Hand stammen und somit eine hohe verständnisbedingte Fehleranfälligkeit besteht.

B] Die Beschuldigtenbelehrung

I. Spannungsfeld zwischen Beschuldigtenrechten und den Verfahrenszielen der Sachaufklärung und Wahrheitsfindung

Es entspricht dem Wesen der deutschen Strafverfolgung, dass der Beschuldigte – in Abkehr zum früheren Inquisitionsprozess[19] – ein mit strafprozessualen Rechten ausgestattetes, vollwertiges Prozesssubjekt ist, das nicht im Wege der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zum bloßen Verfahrensobjekt herabgewürdigt werden darf[20], zumal zu Beginn der Ermittlungen in den seltensten Fällen ersichtlich ist, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat tatsächlich begangen hat.

Der Art. 6 Abs. 2 EMRK, der entgegen seines Wortlauts in entsprechender Anwendung[21] auch für den Beschuldigten Geltung beansprucht, schreibt unter diesem Hintergrund vor, dass der Beschuldigte im Sinne der Unschuldsvermutung solange als unschuldig zu behandeln ist, bis durch ein rechtskräftiges Urteil das Gegenteil als erwiesen gilt. Daraus ergibt sich für die Ermittlungsbehörden eine Neutralitäts- und Objektivitätspflicht, derzufolge nicht einseitig zulasten des Beschuldigten ermittelt werden darf, vielmehr die Beweisfindung zusätzlich auf entlastende Beweise zu erstrecken ist (vgl. § 160 Abs. 2 StPO).

Schließlich obliegt es dem Beschuldigten, ob er zur Sache aussagen möchtet oder die Aussage verweigert. Gleichwohl bezweckt das Strafverfahren – gleichsam spiegelbildlich – eine in den Grenzen der tatsächlichen Umsetzbarkeit möglichst lückenlose Sachaufklärung, die für die Klärung der materiell-strafrechtlichen Schuldfrage (Strafbarkeitsvoraussetzungen; das „Ob der Strafe“) sowie einer den Umständen des Einzelfalls gerecht werdenden Sanktionierung (Strafzumessung; das „Wie der Strafe“) unabdingbar ist. Hinsichtlich dieser Zielsetzung erscheint der Beschuldigte als primäres Untersuchungsobjekt und originäres Beweismittel, das sich der staatlichen Gewalt zu unterwerfen hat[22]. Seine Aussagen können mittelbar in die Hauptverhandlung eingeführt werden und dort verwertet werden.

Insofern lässt sich feststellen, dass sich Wahrheitsfindung und Gewährleistung von Beschuldigtenrechten gegenseitig bedingen, woraus sich die Herausforderung ergibt, beide Verfahrensziele durch Einzelfallabwägung miteinander in Einklang zu bringen[23].

Dieses Spannungsverhältnis durchzieht das gesamte Strafverfahrensrecht und findet sich in den Belehrungspflichten wieder. Die Wahrheitsfindung wird mithilfe des strafprozessualen Wahrheitsbegriffs, der anders als der materielle Wahrheitsbegriff nur solche Erkenntnisse als Wahrheit zulässt, die unter Achtung der Rechtsstaatlichkeit zustande gekommen sind, in verfassungskonformer Weise begrenzt[24].

Der strafprozessuale Wahrheitsbegriff erlangt hinsichtlich der Belehrung immer dann Bedeutung, wenn der Beschuldigte nicht prozessordnungsgemäß belehrt wird, womit für diese Fälle regelmäßig eine legitime Einschränkung der Verwertbarkeit in Form eines Beweisverwertungsverbots vorliegt, die zwangsläufig zulasten des staatlichen Strafverfolgungsanspruches geht. Der angestrebte Rechtsfrieden muss in diesen Fallkonstellationen den Beschuldigtenrechten weichen.

Andererseits überwiegt das Ziel der Sachaufklärung, wenn sich der Beschuldigte bereitwillig zum Beweismittel macht, was immer dann der Fall ist, wenn er sich unter ordnungsgemäßer Belehrung für eine selbstbelastende Aussage entscheidet, oder aber er bzw. ggf. sein Verteidiger bei einer nicht prozessordnungsgemäßen Belehrung keinen oder keinen rechtzeitigen Widerspruch einlegt.

II. Die Schaffung gleichwertiger Verhältnisse als übergeordnetes Ziel der Belehrungsverpflichtung

Um zu verstehen, welchen Stellenwert die Belehrung in der polizeilichen Vernehmung einnimmt, bleibt es nicht aus, die Ausgangssituation aus Sicht der Betroffenen eingehend zu betrachten.

1. Die psychologische Ausgangssituation

Die Polizeivernehmung zeichnet sich dadurch aus, dass sie von Beginn an durch ein psychologisches Ungleichgewicht der Beteiligten geprägt ist, in welchem der Beschuldigte gegenüber dem Polizeibeamten eine kognitiv unterlegene Stellung einnimmt, die geeignet ist, einer rationalen Entscheidungsfindung entgegenzuwirken.[25]

Eine innerpsychische Konfliktlage ergibt sich bereits dadurch, dass sich der Beschuldigte abseits seines gewohnten Umfeldes mit einer ihm zumeist unvertrauten Vernehmungssituation konfrontiert sieht, die er als ungewohnt, bedrückend und nervlich belastend empfindet und sowohl in rechtlicher wie auch tatsächlicher Hinsicht (noch) nicht einzuordnen vermag. Der vernehmende Beamte ist fremd und verkörpert als uniformierte Staatsperson amtliche Autorität. Bereits der präsenzbedingt ausgeübte Druck bestärkt das Bedürfnis, sich der Situation schnellstmöglich entziehen zu wollen, was nicht selten durch eine vorschnelle Einlassung auf die Sache erfolgt.

Letztlich sieht sich der Beschuldigte vermehrt zur Aussage gezwungen, obschon er nicht absehen kann, welchen rechtlichen Stellenwert seine Aussage einnimmt und wer sie künftig gegen ihn Aussage verwerten wird – ihm fehlt dazu die strafprozessuale Weitsicht[26]. Zumindest der unverteidigte Rechtslaie wird sich regelmäßig nicht über die Rechtsfolgen seiner Aussagen bewusst sein.

Folglich tritt neben die psychologische Unsicherheit eine gewisse Rechtsunsicherheit, denn dem Beschuldigten ist weder bewusst, dass seine Aussage erst Anlass zur Eröffnung des Verfahrens geben kann, noch kann er absehen, dass sein Geständnis die Hauptverhandlung derart vorprägen kann, dass in ihr keine wirksamen Verteidigungsstrategien mehr zur Anwendung kommen können.

Der Polizeibeamte erlebt Vernehmungssituationen berufsbedingt in aller Regelmäßigkeit. Er ist es nicht, der sich einem rechtfertigungsbedürftigen Tatvorwurf ausgesetzt sieht, sodass er sich frei von psychologischem Druck auf die Vernehmung konzentrieren kann.

Mehr noch, es sind diverse Verhörtechniken bekannt, die an die psychologische Instabilität des Beschuldigten anknüpfen, um eine verwertbare Aussage, insbesondere ein Geständnis, zu provozieren[27]. In diesen Fällen wird die unterlegene Position des Beschuldigten – durchaus in den Grenzen des Rechts – planmäßig zur Aussagengewinnung ausgenutzt.

2. Schutzzwecke der Belehrung

Wie eingangs dargelegt, ergibt sich aus der Vernehmungssituation eine erhöhte Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten. Die Belehrung trägt diesem Umstand in mehrfacher Hinsicht Rechnung.

a) Die Belehrung als Kenntnisverschaffung

Im Regelfall ist der Beschuldigte nicht juristisch versiert, sodass er sich seiner Rechte als Beschuldigter nicht in Gänze gewahr ist und sich im Lichte dieser (partiellen) Unkenntnis nicht auf sie berufen kann[28].

Um dem entgegenzuwirken, begründet die Belehrung zunächst eine obligatorische Informationspflicht, die inhaltlich den durch in § 163a Abs. 4 i.V.m. § 136 Abs. 1 S. 2-4 StPO statuierten Mindestanforderungen genügen muss. Ziel dieser Informationspflicht ist es, dem Beschuldigten Kenntnis über den Tatvorwurf in seinen groben Zügen und seiner prozessualen Rechte zu verschaffen. Eine Unkenntnis über die wichtigsten Beschuldigtenrechte könnte zur Folge haben, dass sie praktisch nicht oder allenfalls erschwert durchsetzbar wären.

b) Die Belehrung als Verhaltens- und Wertungsmaßstab

Weitergehend fördert die Belehrung eine tatsächliche Um- und Durchsetzung der Beschuldigtenrechte, indem sich die Belehrung nicht in dem Zweck der schieren Kenntnisverschaffung erschöpft, sondern als abstrakter Wertungsmaßstab die Polizeibeamten zu einem rechtsstaatskonformen Verhalten verpflichtet.

So wird sich der vernehmende Polizeibeamte regelmäßig vergewissern müssen, dass der Beschuldigte seine Rechte nicht nur akustisch, sondern in gleicher Weise in ihrem Sinngehalt erfasst hat. Er wird ferner bei der Umsetzung der Beschuldigtenrechte Hilfe leisten müssen, sofern der Beschuldigte auf eine entsprechende Assistenz angewiesen ist, was vermehrt im Falle der vergeblichen Verteidigerkonsultation der Fall ist.

Als Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit statuiert die Belehrungspflicht folgende Verhaltensmaximen:

In negativer Hinsicht sind die Polizeibeamten dazu verpflichtet, all jenes zu unterlassen, was in rechtsunverträglicher Weise den der Belehrung zugrundeliegenden Rechten zuwiderläuft, das heißt es darf nicht zunächst über ein Recht belehrt werden und anschließend gegen die Ausübung desselben interveniert werden.

In kehrseitiger Hinsicht sind sie positiv dazu verpflichtet, demjenigen Beschuldigten bei der tatsächlichen Verwirklichung seiner Rechte helfend zur Seite zu stehen, der selbständig nicht in der Lage ist, seine Rechte geltend zu machen.

Nur in dieser weitläufigen Betrachtung erscheint eine Beschuldigtenbelehrung erst sinnvoll, denn die beste Belehrung nützt dem nichts, der sich nicht auf seine Rechte berufen kann - sei es aus böswilliger Vereitelung, sei es aus mangelnder Hilfestellung. In der Vielzahl der Sachverhaltsgestaltungen vergewissern bereits ausdrückliche Vorschriften, dass das staatliche Handeln den Belehrungsinhalten nicht zuwiderläuft. Beispielhaft sei die Vorschrift des § 136a Abs. 1 StPO genannt. Sie schützt vor jedem Verhalten, das die Freiheit der Willensentschließung oder -betätigung verletzt und findet ihr Pendant in der durch die Belehrung geschützte Aussagefreiheit.

Die Belehrungspflichten bilden somit einen Verhaltensmaßstab, an dem sich das polizeiliche Verhalten wertungsmäßig zu orientieren hat.

c) Die Belehrung als Übereilungsschutz

Eine wesentliche Funktion besteht in dem Schutz vor einer voreiligen und unüberlegten Einlassung zur Sache. Dem unerfahrenen Beschuldigten, der es aus seinem zwischenmenschlichen Umgang seit jeher gewohnt ist, auf an ihn gerichtete Fragen zu antworten, mag sich einer autoritär auftretenden Amtsperson gegenüber erst recht verpflichtet fühlen, eine Antwort zu geben. In der Absicht, den Tatverdacht schnellstmöglich zu entkräften, geschieht es nicht selten, dass sich der Beschuldigte im Zuge seines Verteidigungseifers in Widersprüchen verstrickt und sich „um Kopf und Kragen redet“.

Dies begründet die Sorge, dass sich der Beschuldigte in einem Moment der Unüberlegtheit, Verwirrtheit oder Verängstigung dazu entschließt, uneingeschränkt zu kooperieren.[29] Die Belehrung versucht jener Verunsicherung entgegenzuwirken, indem sie positive Handlungsoptionen aufzeigt, namentlich unmissverständlich verdeutlicht, dass eine Einlassung nicht zu erfolgen braucht, durch den Gebrauch des Schweigerechts keine Rechtsnachteile drohen und die Möglichkeit besteht, sich nötigenfalls zwecks verfahrenstaktischer Absprache bereits zu diesem Zeitpunkt eines Verteidigers zu bedienen.

Dieser Belehrungszweck des Übereilungsschutzes ist insbesondere deshalb in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen, weil immer noch die weitverbreitete Fehlvorstellung vorherrscht, ein Schweigen käme einem stillschweigenden Schuldeingeständnis gleich[30].

d) Waffengleichheit als übergeordnetes Belehrungsziel

In einer Gesamtbetrachtung der Belehrungszwecke zeigt sich, dass sich der gesetzgeberische Wille des § 136 Abs. 2 StPO, mittels der Belehrung eine Möglichkeit zu eröffnen, die täterbelastenden Verdachtsmomente zu entkräften, erst unter der Grundbedingung einer vorangegangenen justizförmigen Belehrung verwirklichen kann. Andernfalls ist eine wirksame und rechtsstaatlichen Ansprüchen genügende Selbstverteidigung kaum denkbar, ist es doch erst die Belehrung, die den Beschuldigten im Zeitpunkt der Vernehmung verteidigungsfähig macht, indem sie zwischen Beschuldigten und Polizeibeamten gleichwertige Verhältnisse herstellt, d.h. eine Form von „Waffengleichheit“ erzeugt.

Zwar vermag sie grundsätzlich nichts daran zu ändern, dass sich der Polizeibeamte in einer psychologisch überlegenen Position befindet, gleichwohl wird dem Beschuldigten in Erinnerung gerufen, welche Alternativen zu einer Aussage ihm offenstehen und wie er von seinen Rechten Gebrauch machen kann. Eine zweckmäßige Verteidigung kann selbst in der Ausübung des Schweigerechts bestehen.

III. Normative Rechtsgrundlagen

Das Rechtserfordernis einer Beschuldigtenbelehrung ergibt sich verfassungsrechtlich aus dem Recht auf ein faires Verfahren, das rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt, dem sog. fair-trial-Prinzip (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 6 EMRK ) und ist zudem Ausfluss weiterer rechtsstaatlicher Garantien mit Verfassungsrang, insbesondere der Selbstbelastungsfreiheit, dem sog. nemo tenetur se ipsum accusare / procedere Grundsatz aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Recht auf rechtliches Gehör, welches seinen Niederschlag in Art. 103 Abs. 1 GG findet.

Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der polizeilichen Beschuldigtenbelehrung ist in § 163a Abs. 4 S. 1, 2 i.V.m. § 136 Abs. 1 S. 2-4 StPO normiert.

[...]


[1] PKS 2015, S. 3.

[2] Dies. S. 2.

[3] Hartmann/Schmidt, StrafProzR, Rn. 182; Kindhäuser, StrafProzR, § 5, Rn. 28.

[4] Verwendet wird aus Gründen der Lesbarkeit ein generisches Maskulinum. Gemeint ist stets auch die weibliche Form.

[5] Kühne, StrafProzR, Rn. 350.

[6] Roxin/Schünemann, StrafVerfR, § 9, Rn. 17.

[7] Klesczewski, StrafProzR, Rn. 146; Roxin/Schünemann, StrafVerfR, § 25, Rn. 4.

[8] Kindhäuser, StrafProzR, § 4, Rn. 26.

[9] Kramer, Grundlagen StrafVerfR, Rn. 26.

[10] Moldenhauer in KK-StPO, § 170, Rn. 4.

[11] Joecks, StPO, § 170, Rn. 3.

[12] Schrepfer, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 106.

[13] Ders., S. 105.

[14] Gölbel, Strafprozess, Rn. 3.

[15] Diemer in KK-StPO, § 249, Rn. 44, 46 f.

[16] BGHSt 6, 141 (143).

[17] BGHSt 1, 337 (339).

[18] Burhoff, Hauptverhandlung, Rn. 3545 ff.; Diemer in KK-StPO, § 250, Rn. 11 (str.).

[19] Linnenbaum, Belehrung, S. 36. Vgl. zur historischen Entwicklung des Strafverfahrens Roxin/Schünemann, StrafVerfR, § 17.

[20] BVerfGE 38, 105 (111); Kühne, StrafProzR, Rn. 102; Krey, Strafverfahren, Rn. 307 ff.

[21] Ransiek, Beschuldigtenrechte, S. 4.

[22] Kindhäuser, StrafProzR, § 6, Rn. 13, m.w.N.; Roxin / Schünemann, StrafVerfR, § 18, Rn. 1.; Haller / Conzen, Strafverfahren, Rn. 126.

[23] Roxin / Schünemann, StrafVerfR, § 1, Rn. 6.

[24] Hartmann / Schmidt, StrafProzR, Rn. 2.

[25] Linnenbaum, Belehrung, S. 24 ff.

[26] Ders. S. 26.

[27] Stellvertretende Übersicht in Brusten/Malinowski, Vernehmungsmethoden der Polizei, Kap. 2.4; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 589.

[28] Kindhäuser, StrafProzR, § 6, Rn. 53.

[29] Ransiek, StV 14 1994, 343 (344) m.w.N.; Linnenbaum, Belehrung, S. 25.

[30] Sinngemäß entspricht dieser Irrglaube dem umgangssprachlichen Sprichwort „Wer schweigt, hat etwas zu verbergen“.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Belehrungspflichten in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
13 juristische Notenpunkte
Autor
Jahr
2016
Seiten
46
Katalognummer
V350625
ISBN (eBook)
9783668372054
ISBN (Buch)
9783668372061
Dateigröße
899 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Belehrung, Vernehmung, Beschuldigtenrechte, Strafverfahrensrecht, Aussagefreiheit, Widerspruchslösung
Arbeit zitieren
Jean-Marc Chastenier (Autor:in), 2016, Die Belehrungspflichten in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/350625

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