Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Entstehungskontext der Utopia
3. Aufbau von Buch I
4. Soziale Missstände Englands und Europas
4.1. Zur Zweckmäßigkeit der Justiz
4.2. Ursachen der Verelendung
4.3. Privateigentum
5. Überlegungen zu europäischen Eliten und zum Amt des königlichen Beraters
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„‚Human nature must have changed very much‘, I said. ‚Not at all‘, was Dr Leete’s reply, ‚but the conditions of human life have changed and with them the motives of human action‘“
Edward Bellamy, Looking Backward From 2000 to 1887
Mores 1516 verfasste Utopia gehört zu den bekanntesten literarischen Werken des Renaissance-Humanismus. Die 500 jährige Rezeptionsgeschichte, sowie die Geläufigkeit des Wortes „Utopie“ sind Indikatoren für die Relevanz, die dieser Schrift im westlichen Kulturraum zuteilwird. Es handelt sich um einen in Latein verfassten philosophischen Dialog. Utopia ist ein Produkt seiner Zeit, welches scharf und kritisch die sozialen und ideologischen Veränderungen beobachtet, welche Europa in der Übergangsepoche zur frühen Neuzeit erlebt. Das Werk umfasst zwei Bücher, sowie eine Vorrede. Während das erste Buch in Dialogform die zeitgenössischen sozialpolitischen Missstände behandelt, wird in dem zweiten Buch detailliert die Insel Utopia mit ihrer „idealen“ Staatsform beschrieben.
Diese Arbeit konzentriert sich auf das Buch I und wird somit die sozialen Missstände, welche sowohl in England, als auch in ganz Europa energisch kritisiert werden, aufzeigen und untersuchen, sowie der Frage nachgehen, wie die Hauptcharaktere die Möglichkeit bewerten, auf die politischen Geschehnisse Einfluss nehmen zu können.
Hierzu wird das Buch zunächst im Kontext seiner Zeit und des Autors betrachtet, anschließend wir die Struktur des Buch I dargelegt. In dem umfangreichsten vierten Kapitel werden detailliert die politischen und sozialen Ungerechtigkeiten untersucht, so wie sie in Buch I der Utopia von den Hauptcharakteren dargestellt werden. Hierzu werden drei Schwerpunkte gesetzt: Die Zweckmäßigkeit von Recht, die Ursachen der Verelendung der einfachen Bevölkerungsschicht, sowie die Rolle des Privateigentums. Auch wenn diese Punkt unabhängig voneinander aufgeführt werden, so sind sie doch alle interdependent und weben sich wie Fäden eines Stoffes ineinander. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Disput der Hauptcharaktere bezüglich der Effektivität von Philosophie in der Politik, sowie die Rolle der europäischen Monarchen in dieser Diskussion.
Auf Grund der Dichte an Kritik und Anspielungen im Werk und der umfangreichen Sekundärliteratur, muss sich diese Arbeit darauf beschränken nur einen kurzen Einblick in die Entstehungsgeschichte von Utopia geben zu können. Des Weiteren können nicht alle Interpretationen bezüglich Mores eigenen Auffassungen und ihrer möglichen Abbildung in den Charakteren bearbeitet werden, viel mehr wird sich die Arbeit hauptsachlich auf den Text beziehen und damit versuchen, das offenzulegen, was in Buch I an interessanter und intelligenter Sozialanalyse enthalten ist.
2. Entstehungskontext der Utopia
Wie viele Schriften, welche als Meisterwerke verstanden werden, so enstanden auch in der Rezeptionsgeschichte von Utopia zahllose Forschungsperspektiven auf das Werk entstanden. Denn auf der Suche nach der Kennaussage von Mores Schrift begegnet dem Leser immer wieder das Spiel zwischen Ironie und ernster Kritik, Literatur und Staatsphilosophie, dichterischer Phantasie und politisch philosophischer Reflexion und idealstaatlicher Ordnung und Kritik an politischer Realität. Diese Umstände werfen zum Beispiel immer wieder die Frage auf, in wie weit die politischen Positionen Mores oder die seines intellektuellen Zirkels mit denen seiner Charaktere im Werk übereinstimmen oder ob es sich aber um eine Problematisierung eben dieser Positionen handelt. Eben solche Schwierigkeiten fördern wohl die Entstehung zahlloser wissenschaftlicher Meinungen, von welchen jedoch keine sich selbst als definitiv benennen kann.1
Vor diesem Hintergrund eines inexistenten Konsenses scheint es sinnvoll dem historischen Milieu2 der Utopia, wie es J.H. Hexter bezeichnet, Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Betrachtung erlaubt eventuell Aufschlüsse über die Beziehung des Autors zu denen im Werk behandelten Inhalten.
Thomas More erscheint als extrem geschäftiger Mann, welcher sich neben seiner großen Familie vor allem seiner Arbeit als Anwalt widmete und in welcher er äußerst erfolgreich gewesen sein soll. Diese Betätigung sicherte ihn und seine Familie finanziell ab. Er befand sich zusätzlich im Vorstand der Londoner Anwaltskammer Lincoln’s Inn und saß einmal die Woche als „Undersheriff of London“ und somit in richterlicher Funktion im „Sheriff’s Court“. Dieser Tätigkeit ging er, Erasmus von Rotterdam zur Folge, vorrangig aufgrund seines Pflichtgefühls nach und nahm auch keine Besoldungen für sie entgegen.3 Dieser Geschäftigkeit wurde More 1515 quasi entrissen, als Heinrich VIII ihn als Teil einer Delegation in die Niederlande schickte. Diese sollte mit Karl V Verhandlungen bezüglich des Handelsverkehrs zwischen England und den Niederlanden aufnehmen. Als die Verhandlungen mit den Repräsentanten Karls in Brügge nach unüberbrückbaren Differenzen zeitweise ausgesetzt werden mussten, war More für einen längeren Zeitraum4 ohne besondere Pflichten. Er nutze diesen Freiraum unter anderem für persönliche Studien und den intellektuellen Austausch. Seine Gesprächspartner waren dabei vor allem humanistische Gelehrte, welchen er durch seinen engen Freund Erasmus von Rotterdam wurde war. Die fruchtbarste Begegnung war dabei die mit Peter Giles in Antwerpen. In zahlreichen Treffen mit ihm und Tunstall und Busleyden,5 zwei weiteren Humanisten, diskutierten die Männer unter anderem über die beste Ordnung des Staatswesens. Fragen, wie: „Was wäre, wenn man eine Gesellschaft von Grund auf gestalten könnte?“ führten sie schließlich zu den Ideen die More in der Utopia (De Optimo Reipublicae Statu) festgehalten hat.6
Während der Muße seines Aufenthaltes in den Niederlanden entstand das Buch II. Zudem ist zu vermuten, dass auch die thematisch eng dazugehörende Einleitung zum Buch I ebenfalls in diesem Zeitraum verfasst worden ist.7 Diese von Hexter als Ur- Utopia8 rekonstruierte Fassung brachte More mit nach England. Nachdem er in Ruhe über Fragen des optimalen politischen Gemeinwesens reflektiert hatte, sah er sich nach seiner Rückkehr mit der politischen Realität Englands konfrontiert. Diese tritt besonders in den Vordergrund, weil More dringend ersucht wurde nun ausschließlich seinem Dienst dem König zu widmen. Diese Divergenz zwischen einem soeben formulierten gerechten Idealzustand des Staates und der Konfrontation mit Unterdrückung und Ungleichheit in der politischen Wirklichkeit Englands, wurde in der Forschung teilweise als Hintergrund der Genese des Buch I gedeutet. Die scharfen Kontraste zwischen der philosophischen Perspektive Hythlodaeus9 und den pragmatischen Standpunkten von More und Kardinal Morten deutet beispielsweise Hexter als Ergebnis persönlicher Reflexionen Mores über die Problematik, mit der er sich konfrontiert sah.10 Wie hoch man auch den persönlichen Anteils Mores in seinen Charakteren bewerten mag, so bildet Buch I doch einen historischen Kontext, in welchen die abstrakte Utopie eingebettet wird. Erzgräber beschreibt es passend: „Die Anspielungen auf europäische Verhältnisse […] stellen gleichsam den geschichtlichen Orientierungsrahmen für die fiktive Schilderung Utopias der […][So] wird verhindert, daß sich die Beschreibung der besten aller Welten zu einem rein systematischen staatsphilosophischen Traktat verselbständigt und die innere Spannung zwischen der utopischen und der europäischen Wirklichkeit verlorengeht“11 .
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1 Teilweise geht die Forschungsliteratur davon aus dass diese „Unzugänglichkeit“ ein beabsichtigtes Instrument des Autors gewesen ist. Ob es nun als intellektuelles Spiel (vgl. Logan, George M.: The Meaning of More’s “Utopia”, Princeton 1983, S.3) oder als Schutz vor politischen Konsequenzen bewertet wird, welche mit seiner Position am englischen Hof einhergehen hätten können.
2 Hexter: Introduction Part I, in: More, Thomas: Utopia, ed. by Edward Surtz and J. H. Hexter, The Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More, New Haven 1965, xxiii ff.
3 Erasmus von Rotterdam: Erasmus to Ulrich von Hutten, in: The Epistles of Erasmus, vol. 3. Ed. Francis M. Nichols. 3 vols. New York 1962, S. 387-401; weitere Betätigungsfelder Mores: Davis, J.C.: Utopia and the Ideal Society, A Study of English Utopian Writing 1516-1700, Cambrige 1981, S. 44f.
4 More hielt sich von Mai bis Oktober 1515 in den Niederlanden auf. Nur in den ersten Wochen wurden intensive Verhandlungen mit der niederländischen Delegation geführt.
5 Davis S. 46.
6 Hexter: Introduction, xxvi ff. Baumann, Uwe; Heinrich, Hans Peter: Thomas Morus. Humanistische Schriften, Wissenschaftliche
7 Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 1986, S. 131f.
8 Hexter, J.H.: Das ‚dritte Moment‘ der Utopia und seine Bedeutung, Utopieforschung, Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.2, Stuttgart 1982, S. 151-167.
9 Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit von Charaktere der Schrift Utopia der Rede ist und nicht von den eventuell real Existenten Pendants, werden sie in dieser Weise hervorgehoben.
10 vgl. Hexter: Introduction, xxxiii ff., wohingegen Davis hervorhebt, dass More erst im August 1517 die Tätigkeit als königlicher Berater aufnahm und Mores persönliche Situation nicht als hauptsächlichen Beweggrund bewertet, Davis S. 45 f.. Das More ambivalente Gefühle bezüglich der Tätigkeit am Hof hegte, berichtet Erasmus: „[A]nd King Henry in consequence would never rest until he dragged him into his Court. ‘Dragged him,’ I say, and with reason ; for no one was ever more ambitious of being admitted into a Court, than he was anxious to escape it.“, Erasmus von Rotterdam: Erasmus to Ulrich von Hutten.
11 Erzgräber, Willi: Zur Utopia des Thomas Morus, hrsg. von G. Müller-Schwefe und K. Tuzinski, Literatur - Kultur - Gesellschaft in England und Amerika, Frankfurt am Main 1966, S. 34.