Lese- und Schreiblernprozesse in inklusiven Lernsettings. Qualitative Analyse der Lernangebote und -materialien


Examensarbeit, 2015

170 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. EINLEITUNG

2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN
2.1. Der Inklusionsbegriff
2.1.1. Begriffsbestimmung nach Sander
2.1.2. Annäherung an ein internationales Inklusionsverständnis: Charakte-ristika und grundlegende Elemente nach Hinz
2.1.3. Vergleichende Betrachtung der Begriffsbestimmungen und Konkreti-sierung des für diese Arbeit zugrunde liegenden Inklusionsverständ-nisses
2.2. Grundsätzliche Überlegungen zum Schriftspracherwerb
2.2.1. Schriftspracherwerb aus entwicklungspsychologischer Perspektive
2.2.2. Die phonologische Bewusstheit als wichtige Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb
2.2.3. Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb für Kinder mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf
2.2.4. Besonderheiten des Schriftspracherwerbs in inklusiven Klassen

3. RELEVANTE ERGEBNISSE AUS DER INKLUSIONSFORSCHUNG
3.1. Effekte inklusiver Beschulung auf die Leistungsentwicklung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
3.2. Forschungsstand zum Schriftspracherwerb in inklusiven Set- tings
3.3. Relevante Ergebnisse aus der Lehrmittelforschung

4. ZIELSETZUNG .DER UNTERSUCHUNG. UND. FORSCHUNGSFRA- GEN

5. METHODISCHES VORGEHEN
5.1. Erhebung des Datenmaterials
5.1.1. Bestimmung des Ausgangsmaterials
5.1.2. Dokumentenanalyse als Erhebungsverfahren
5.2. Auswertung des Datenmaterials
5.2.1. Bestimmung und Legitimation der qualitativen Inhaltsanalyse als Aus- wertungstechnik
5.2.1.1. Globalauswertung nach Legewie
5.2.1.2. Grounded-Theory nach Glaser und Strauss
5.2.1.3. Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
5.2.2. Festlegung der Analysegrundlagen
5.2.2.1. Deduktiv-induktive Kategorienbildung
5.2.2.2. Definition der Analyseeinheiten
5.2.2.3. Ablaufmodell der Analyse
5.2.3. Das entstandene Kategoriensystem
5.2.4. Konkrete inhaltsanalytische Umsetzung
5.2.4.1. Konkrete Kategorienbildung
5.2.4.2. Durchführung der Analyse am Material

6. DARSTELLUNG UND INTERPRETATION DER UNTERSUCHUNGS- ERGEBNISSE

7. GESAMTINTERPRETATION UND FAZIT

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhang

1. EINLEITUNG

Im Jahr 2009 ist in der Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechts- konvention (kurz: UN-BRK) in Kraft getreten, in welcher „für alle Lebensbereiche Ziele formuliert [sind], [die] die Partizipation von Menschen mit Behinderungen (...) erleichtern und Diskriminierung und Ausschluss (...) verhindern“ (Klemm & PreussLausitz 2011, 8) sollen. Insbesondere Artikel 24 der UN-BRK ist im Kontext von Bildung von zentraler Bedeutung, da in ihm die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung anerkennen und gleichzeitig ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen gewährleisten (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2014, 35 f.).

Mit der Einwilligung Deutschlands, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, gehen für das bestehende Erziehungs- und Bildungssystem weitreichende Konsequenzen einher, welche zum einen die Struktur des Systems selbst betreffen und zum ande- ren auch aus pädagogischer Sicht wesentliche Veränderungen mit sich bringen. Da- mit der Aufbau eines inklusiven Bildungswesens in vollem Umfang gelingen kann, müssen in Deutschland zwangsläufig nach und nach die Sonderschulen aufgelöst beziehungsweise mit den Regelschulen zusammengeführt werden (vgl. Merz-Atalik 2014, 25). Dies hat einen „Paradigmenwechsel in der Erziehungswissenschaft“ (Mül- ler-Zastrau & Seifert 2014, 160) zur Folge, denn durch die Zusammenführung von Regel- und Sonderschulsystem dürfen die Bereiche Allgemeine Pädagogik, Schul- pädagogik und Sonderpädagogik nicht mehr isoliert voneinander betrachtet werden, sondern müssen im Kontext von Inklusion miteinander in Verbindung stehen (vgl. ebd.).

Diese strukturellen und pädagogischen Veränderungen haben Auswirkungen auf alle Teilbereiche des Schulalltags sowie auf alle an ihm beteiligten Akteure. Grundlegen- de Veränderungen sollten deshalb bereits bei der Lehrerausbildung greifen, um si- cherzustellen, dass die angehenden Lehrkräfte später in der Lage sind, der Hetero- genität ihrer Schülerschaft gerecht zu werden. Um heterogenen Klassengemein- schaften gerecht zu werden, bedarf es darüber hinaus Veränderungen und Verbes- serungen in der Gestaltung des Unterrichts sowie der eingesetzten Unterrichtsme- thoden. Des Weiteren spielen auch bauliche Maßnahmen sowie die Ausstattung der Schule mit vielfältigen Materialien für die Lernstandsermittlung und die individuelle Förderung aller Kinder eine wesentliche Rolle. Bei einer genaueren Betrachtung lie- ßen sich wahrscheinlich noch viele weitere Bereiche nennen, in denen Umstrukturierungsmaßnahmen notwendig wären, um sich der Realisierung eines inklusiven Bildungssystems anzunähern. Diese detaillierte Analyse ist allerdings für die vorliegende Ausarbeitung zu umfassend, weshalb im Folgenden ausschließlich die Auswirkungen einer inklusiven Schulstruktur auf die Lese- und Schreiblernprozesse im Anfangsunterricht der Grundschule im Zentrum stehen werden.

Der Fokus der Arbeit liegt dabei insbesondere auf den Lernangeboten und -materi- alien, die für den Schriftspracherwerb in inklusiven Lernsettings entwickelt worden sind. Diese speziell für einen inklusiven Unterricht konzipierten Materialien sollen im Rahmen der Ausarbeitung einer qualitativen Analyse unterzogen werden, um eine anschließende Bewertung über die Lernangebote abgeben sowie über deren Einsatz im Lese- und Schreiblernunterricht in Inklusionsklassen urteilen zu können.

Dafür müssen am Anfang dieser Ausarbeitung allerdings einige wesentliche theoreti- sche Grundlagen geklärt werden, zu denen unter anderem der Inklusionsbegriff so- wie grundlegende Aspekte, die die Lese- und Schreiblernprozesse in der Grundschu- le betreffen, gehören. Mithilfe dieses Hintergrundwissens kann die abschließende Interpretation der Analyseergebnisse einfacher nachvollzogen und einzelnen Teil- schritten der Untersuchung leichter gefolgt werden. Nach der Grundlagenklärung im zweiten Kapitel ist es des Weiteren notwendig, den aktuellen Forschungsstand zum Thema Inklusion darzulegen, um die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit begründen zu können. Darauf aufbauend werden im vierten Kapitel die einzelnen Forschungs- fragen konkretisiert und im fünften Kapitel das methodische Vorgehen sowie die kon- krete Durchführung der Analyse vorgestellt. Auf dieser Grundlage können abschlie- ßend die Untersuchungsergebnisse zusammenfassend dargestellt, interpretiert und ein Fazit gezogen werden.

2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN

2.1. Der Inklusionsbegriff

Ein Blick in die Literatur zeigt deutlich, dass „Inklusion (...) ein Begriff [ist], der nicht eindeutig definiert ist“ (Urban & Werning 2014, 11). Dies zeigt sich schon allein durch die beliebige Verwendung der Begriffe Inklusion und Integration, was sich unter an- derem auch auf die deutsche Übersetzung der UN-BRK zurückführen lässt, in der inclusive education system als integratives Bildungssystem übersetzt worden ist (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 2014, 35). Manche Autoren vertreten die Meinung, dass sich beide Begriffe inhaltlich unter- scheiden und sehen deshalb Inklusion in scharfer Abgrenzung zur Integration. In an- deren Veröffentlichungen lässt sich wiederum erkennen, dass beide Begriffe „für den gleichen Sachverhalt [stehen] und (...) ganz nach Belieben unterschiedslos ge- braucht“ (Wocken 2010a, 204) werden. Eine dritte Variante stellt die Schreibweise Integration/Inklusion dar, mit der die Autoren versuchen, die Diskussion über die un- terschiedlichen Begriffsauslegungen zu umgehen und eine neutrale Position einzu- nehmen (vgl. ebd.).

Bevor nun in den nachfolgenden Teilkapiteln näher auf den Begriff der Inklusion ein- gegangen wird, muss eine kurze Klärung des Integrationsbegriffs vorgenommen werden, da beide Begrifflichkeiten in vielen wissenschaftlichen Publikationen in enger Verbindung miteinander stehen. Der Begriff Integration lässt sich auf die lateinische Sprache zurückführen, in der das Verb integrare die Bedeutung besitzt, etwas wie- derherzustellen und das Substantiv integratio dementsprechend die V ervollständi- gung beziehungsweise Wiederherstellung eines Ganzen meint (vgl. Alsleben 2007, 365). Integration beschreibt also den Prozess der Wiederherstellung der Gesellschaft als Ganzes, ist aber gleichzeitig mit einem ersten Akt der Aussonderung, beispiels- weise von Menschen mit Behinderungen, verbunden (vgl. Seifert 2010, 100).

Der Inklusionsbegriff kann etymologisch gesehen auf das lateinische Verb includere zurückgeführt werden, welches einen Zustand des Eingeschlossenseins oder Enthal- tenseins beschreibt (vgl. Kluge 2002, 441). Dies deutet auch schon auf den Kernge- danken der Inklusion hin, nämlich die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Inklusion verfolgt demzu- folge das Ziel, Diskriminierungen zu reduzieren und gleichzeitig die soziale Teilhabe aller Menschen zu maximieren (vgl. Urban & Werning 2014, 12).

Sowohl die in der Einleitung genannten Bestimmungen der UN-BRK als auch die kurze Begriffsklärung zeigen, dass Inklusion in allen gesellschaftlichen Lebensberei- chen verwirklicht werden soll (vgl. Niehoff-Dittmann 2008), zu denen unter anderem die Bereiche Arbeit, Wohnen, Freizeit oder Bildung gehören. Da in der vorliegenden Arbeit die inklusive Bildung im Zentrum stehen wird, soll auch kurz die Definition der Kultusministerkonferenz vorgestellt werden. In dieser wird schulische Inklusion als die „Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in das allge- meine Bildungssystem“ (Kultusministerkonferenz 2010, 3) verstanden, was mit einem gemeinsamen zieldifferenten oder zielgleichen Lernen aller Schüler einhergeht (vgl. ebd.).

Neben der Definition der Kultusministerkonferenz finden sich in der Literatur zahlrei- che weitere Begriffsbestimmungen von Inklusion. Davon sollen im Folgenden die Begriffsdefinition von Sander sowie die von Hinz zusammengestellten Eckpfeiler, mit denen sich an ein internationales Inklusionsverständnis angenähert werden soll, vor- gestellt. Das Inklusionsverständnis von Alfred Sander lässt sich am deutlichsten an- hand des Fünf-Stufen-Modells aufzeigen, das zunächst von Alois Bürli entwickelt und im weiteren Verlauf von Sander systematisch aufgenommen worden ist (vgl. Wocken 2010a, 216). Dieses Fünf-Stufen-Modell hat in der Fachliteratur eine beachtliche Re- sonanz erhalten (vgl. ebd.), weshalb es auch in der vorliegenden Arbeit zur Definition des Inklusionsbegriffs herangezogen werden soll. Daneben werden aber auch die Charakteristika und die grundlegenden Elemente eines internationalen Inklusions- verständnisses präsentiert, die Andreas Hinz, basierend auf der Analyse der eng- lischsprachigen Literatur, zusammenfassend dargestellt hat. Die Ausführungen von Hinz, der den Inklusionsbegriff „in den bundesdeutschen sonderpädagogischen Fachdiskurs eingeführt“ (Klemm & Preuss-Lausitz 2011, 30) hat, zeigen durchaus Parallelitäten zum Inklusionsbegriff von Sander, was die Verwendung von Sanders Definitionsversuch für diese Ausarbeitung nochmals bekräftigt.

2.1.1. Begriffsbestimmung nach Sander

Alfred Sander, der - wie bereits erwähnt - das Stufenmodell von Bürli systematisch aufgenommen hat, unterscheidet hinsichtlich der Eingliederung von Kindern mit und ohne Behinderung in die Schule fünf Entwicklungsstufen:

Exklusion, Separation, Kooperation, Integration, Inklusion (vgl. Sander 2008a, 28 ff.)

Diese Entwicklungsstufen beschreiben „die Entwicklung des Bildungswesens für be- hinderte junge Menschen“ (Sander 2008b, 349), welche sich als ein langer histori- scher Prozess vollzogen hat und immer noch vollzieht (vgl. Sander 2008a, 27). Be- züglich dieser Entwicklungsstufen muss allerdings auch betont werden, dass eine Phase nicht immer vollständig abgeschlossen sein muss, damit die darauffolgende beginnen kann (vgl. ebd., 37). Dies zeigt sich auch im momentanen Bildungssystem, in dem mehr als zwei Phasen dieses Modells nebeneinander existieren (vgl. ebd., 38).

In der Phase der Exklusion haben Kinder mit Behinderung kein Recht auf Bildung und werden demzufolge aus dem gesamten Bildungs- und Erziehungssystem ausgeschlossen (vgl. Wocken 2010b, 1).

Die zweite Entwicklungsstufe stellt die Phase der Separation dar, in der Kindern mit Behinderung der Zugang zu schulischer Bildung gewährt wird, sie allerdings in sepa- rierten Sonderschulen unterrichtet werden (vgl. Sander 2008b, 349). Dadurch exis- tiert ein Sonderschulwesen für Kinder, die einen speziellen Förderbedarf aufweisen, und ein Regelschulwesen, in dem die „normalen“ Kinder unterrichtet werden (vgl. Wocken 2010b, 1).

In der Phase der Kooperation findet eine Zusammenarbeit zwischen Regel- und Sonderschulen statt, die vielfältige Formen der Ausgestaltung annehmen und in un- terschiedlichem Maße ausgeprägt sein kann. Zu diesen Kooperationsformen gehö- ren beispielsweise gemeinsame Wandertage oder Schulfeste der Kooperationsklas- sen, aber auch „Besuche bei der Partnerklasse in der anderen Schule“ (Sander 2008a, 30) oder der Austausch einzelner Schüler in bestimmten Fächern sind mögli- che Formen der Zusammenarbeit. Fraglich bleibt in dieser Phase allerdings, ob mit- hilfe der Kooperation und ihren Ausprägungen eine Separationsminderung erreicht werden kann. (vgl. ebd., 30 f.)

Die nächste Phase, in der die allgemeine Schule unter bestimmten Voraussetzungen auch einige Kinder mit Behinderung aufnimmt und sie gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung unterrichtet, nennt man Integration (vgl. Wocken 2010b, 1). Im Rahmen des Integrationsgedankens werden insbesondere die pädagogischen Bedürfnisse der Kinder mit einem festgestellten Förderbedarf beachtet, welche meist nach den entsprechenden Sonderschullehrplänen unterrichtet werden, während die Kinder oh- ne Behinderung dem Lehrplan der allgemeinen Schule folgen (vgl. Frühauf 2010, 19). Aufgrund von äußeren Differenzierungsmaßnahmen, welche unter anderem durch die Orientierung an unterschiedlichen Lehrplänen zustande kommt, besteht die Gefahr, dass sich im Rahmen der Integration zwei Schülergruppen ausbilden, die zwar gemeinsam unterrichtet werden, sich aber dennoch durch die Etikettierungen „behindert“ und „nichtbehindert“ unterscheiden (vgl. ebd.). Diese Zweiteilung - in der Fachliteratur Zwei-Gruppen-Theorie genannt - kann mehr oder weniger „ein bloßes Nebeneinander statt eines Miteinanders“ (ebd.) aller Schüler in Integrationsklassen zur Folge haben (vgl. ebd.).

Diese Zwei-Gruppen-Theorie soll in der nächsten Phase der Inklusion überwunden werden, in der auf jegliche Etikettierung und Kategorisierung von bestimmten Schü- lergruppen verzichtet wird und in der davon ausgegangen wird, dass die „Heterogeni- tät menschlicher Gemeinschaften“ (ebd., 21) den Normalzustand darstellt. Ein inklu- siver Ansatz bezieht sich dabei grundsätzlich auf alle Heterogenitätsdimensionen, wozu unter anderem die Behinderung, der Migrationshintergrund, das Geschlecht sowie der sozio-ökonomische Status gehören (vgl. Jahreis 2014, 2). Demzufolge werden alle Kinder als unterschiedlich, individuell, anders und einzigartig angesehen (vgl. Wocken 2010a, 217), was „einen bewussten und sensiblen Umgang mit den Stärken und Schwierigkeiten jedes Einzelnen [erfordert], sodass individuelle Entwick- lungsprozesse auf verschiedenen Stufen mit unterschiedlicher Intensität und Unter- stützung“ (Urban & Werning 2014, 12) für alle Schüler ermöglicht werden können. Inklusion bedarf also auch einer Änderung des Systems, indem sich die Schule an die Heterogenität und damit an die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Kinder an- passt, diese wertschätzt und für den Unterricht als Bereicherung ansieht (vgl. Zimmer 2014, 26).

2.1.2. Annäherung an ein internationales Inklusionsverständnis: Charakteristi- ka und grundlegende Elemente nach Hinz

Bei der Analyse der englischsprachigen Literatur hat Andreas Hinz vier konzeptionel- le Eckpfeiler von Inklusion ausmachen können, die er in seinem Beitrag „Vom son- derpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Ver- ständnis der Inklusion!?“ zusammenfassend dargestellt hat (vgl. Hinz 2004, zit. nach Hinz 2010, 33 f.):

− Inklusion lehnt das Zusammenfassen von Menschen in scheinbar homogenen Gruppen ab, da sie sich der Heterogenität von Gruppierungen und der Vielfalt von Personen positiv zuwendet.
− Inklusion bemüht sich, alle Heterogenitätsdimensionen in den Blick zu neh- men und sie gemeinsam zu betrachten. Hierbei spielen unterschiedliche Fä- higkeiten, Geschlechterrollen, Nationalitäten, ethnische Herkünfte, Rassen, Erstsprachen, soziale Milieus, Religionen sowie weltanschauliche Orientierun- gen, körperliche Bedingungen oder anderes mehr eine Rolle. Inklusion richtet sich dabei gegen dichotome Vorstellungen, welche durch die Konstruktion je- weils zweier Kategorien charakterisiert werden: Männer und Frauen, Deutsche und Ausländer, Behinderte und Nicht-Behinderte, Heterosexuelle und Homo- sexuelle, Body-Maß-Index-Gemäße und Abweichler, Reiche und Arme etc. Diese Zwei-Gruppen-Theorie, die im Stufenmodell von Sander bereits genau- er beschrieben worden ist, trägt gemeinhin zu einer Stigmatisierung und Eti- kettierung einer oder beider Gruppen bei und wird einzelnen Personen wenig gerecht. Deshalb verfolgt Inklusion das Ziel, die Individualität jedes Einzelnen anzuerkennen und den Mechanismen von Diskriminierung entgegenzuwirken.
− Inklusion orientiert sich darüber hinaus an der Bürgerrechtsbewegung und lehnt jegliche Tendenzen ab, die Menschen an den Rand der Gesellschaft drängen. Die Teilhabe aller Menschen an allen öffentlichen Orten wird somit zum unteilbaren Bürgerrecht.
− Inklusion stellt sich der Herausforderung, Diskriminierungen und Marginalisie
- rungen abzubauen und vertritt damit die Vision einer inklusiven Gesellschaft.

2.1.3. Vergleichende Betrachtung der Begriffsbestimmungen und Konkretisie- rung des für diese Arbeit zugrunde liegenden Inklusionsverständnisses

Primär folgt die nachfolgende Ausarbeitung dem Inklusionsverständnis von Sander, der den zentralen Unterschied zwischen Integration und Inklusion, welcher auch schon anhand der etymologischen Betrachtung beider Begriffe erkennbar gewesen ist, in seinem Modell nochmals sehr deutlich betont und Inklusion „als optimierte und erweiterte Integration“ (Sander 2008a, 35) versteht. Damit grenzt er beide Begriffe und die mit ihnen verbundenen Zielsetzungen sehr stark voneinander ab. Das inter- nationale Verständnis von Inklusion definiert sich demgegenüber nicht über eine Ab- grenzung zum Integrationsbegriff, sondern über grundlegende Elemente, die den Inklusionsgedanken kennzeichnen. Dennoch lassen sich bei einer Gegenüberstel- lung beider Begriffsdefinitionen durchaus große Parallelitäten erkennen, welche sich unter anderem in der Anerkennung der Heterogenität, der Abwendung von der Zwei- Gruppen-Theorie oder im Abbau von Diskriminierungsprozessen zeigen. Dement- sprechend folgt die vorliegende Arbeit neben der Begriffsbestimmung von Sander aufgrund der zahlreichen Übereinstimmungen indirekt auch dem internationalen In- klusionsverständnis, das Hinz herausgearbeitet hat.

2.2. Grundsätzliche Überlegungen zum Schriftspracherwerb

Im Hinblick auf die qualitative Analyse in dieser Arbeit müssen neben dem Inklusi- onsbegriff auch grundlegende Aspekte des Schriftspracherwerbs geklärt werden. Nachfolgend wird deshalb der Schriftspracherwerb aus entwicklungspsychologischer Perspektive dargestellt und anhand des Stufenmodells von Uta Frith näher beschrie- ben. Im weiteren Verlauf werden Schwierigkeiten, die beim Schriftspracherwerb so- wohl für Kinder mit als auch für Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auf- treten können, vorgestellt. Am Ende dieses Kapitels sollen anhand einer empirischen Studie die Besonderheiten des Schriftspracherwerbs in Inklusionsklassen aufgezeigt werden.

2.2.1. Schriftspracherwerb aus entwicklungspsychologischer Perspektive

In den 1980iger Jahren hat man erstmals damit begonnen, den Entwicklungsverlauf des Schriftspracherwerbs mit Hilfe von Stufenmodellen systematisch darzustellen. „Das sicher berühmteste Modell im Bereich des Schriftspracherwerbs stammt von Frith (1985), das auf der Leseforschung im englischsprachigen Bereich basiert“ (Lenhard 2005, 259). Nach dem Entwicklungsmodell von Frith vollzieht sich der Schriftspracherwerb in drei Phasen, welche „den Lernprozess der Kinder in qualitativ unterschiedlichen Zugriffsweisen auf die Schriftsprache“ (Schründer-Lenzen 2013, 66) beschreiben.

In der ersten, logographemischen Phase, welche bereits überwiegend vor der Einschulung beginnt, erkennt das Kind ein bestimmtes Schriftbild, beispielsweise ein Firmenlogo oder den eigenen Namen, aufgrund rein äußerlicher Merkmale wieder (vgl. Lenhard 2005, 259). Das Kind ist also in der Lage, bestimmte Wörter und Wortgebilde zu „lesen“, weil es bestimmte Schriftzüge kennt und auch sinngemäß zuordnen kann (vgl. Schründer-Lenzen 2013, 67).

Einen ähnlichen Verlauf hat auch das Schreiben in dieser Phase, denn das Kind er- fasst und reproduziert das Wort als Ganzes, indem eine oft gesehene Zeichenfolge, wie ein Bild, abgemalt wird (vgl. ebd., 68). Die Kinder besitzen in dieser Phase weder die Kenntnis der Buchstaben noch die Einsicht in die Graphem-Phonem-Korrespon- denz der deutschen Sprache (vgl. Schründer-Lenzen 2009, 30 f.). Dennoch spielt diese Phase eine wesentliche Rolle für den weiteren Verlauf des Schriftspracher- werbs, denn Kinder auf dieser Stufe haben bereits die Einsicht gewonnen, dass Schrift einen Symbolcharakter aufweist (vgl. Schründer-Lenzen 2013, 68) und mit ihr bestimmte Funktionen verknüpft sind.

Während der alphabetischen Phase erlangen die Kinder „die Einsicht in das phone- tisch-phonologische Prinzip der Verschriftung von Sprache“ (ebd., 89). Durch das Identifizieren der einzelnen Buchstaben sowie durch die Zuordnung der einzelnen Buchstaben zu ihren entsprechenden „ lautlichen Repräsentationen “ (ebd.) wird es ihnen jetzt ermöglicht, einzelne Wörter systematisch zu erlesen. Dadurch dass in dieser Phase die einzelnen Buchstaben eines Wortes von links nach rechts rekodiert werden, können die Leseanfänger auch ihnen unbekannte Wörter erlesen (vgl. ebd.).

Typisch für das Schreiben in dieser Phase sind die sogenannten Skelettschreibun- gen, in denen das Kind noch nicht in der Lage ist, alle gehörten Laute zu verschriften (z.B. MZ für Maus oder FD für Pferd) (vgl. ebd.). Auch innerhalb der alphabetischen Stufe lassen sich unterschiedliche Entwicklungsverläufe ausmachen, so gibt es ne- ben den unvollständigen Skelettschreibungen auch Verschriftungen, welche phone- tisch vollständigen und korrekten Wiedergaben von Artikulationen entsprechen (z.B. FATA für Vater) (vgl. ebd.).

Die orthographische Phase stellt in gewisser Weise die Synthese der beiden voran- gegangenen Stufen dar (vgl. Lenhard 2005, 260), denn die Verarbeitungsmechanis- men und Strategien der ersten beiden Stufen werden nun ausgebaut, automatisiert und miteinander verknüpft (vgl. Schründer-Lenzen 2013, 72). Das Kind orientiert sich zunehmend an „immer wiederkehrenden Buchstabenkombinationen“ (ebd.), wie zum Beispiel Silben, Wortendungen oder Morphemen, und ist deshalb dazu in der Lage, Wörter als Ganzes zu erfassen und zu lesen (vgl. ebd.). Diese Lesestrategie wird auch als „lexikalische Lesestrategie“ (ebd.) bezeichnet, weil sich Kinder auf dieser Stufe ein inneres Lexikon erarbeiten und beim Lesen darauf zurückgreifen (vgl. ebd.).

Das Schreiben auf orthographischer Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass die „Schreibe-wie-du-sprichst-Strategie“ überwunden wird, indem grundlegende orthographische Regelmäßigkeiten erarbeitet werden (vgl. ebd., 73). Am Ende dieser Phase stehen somit orthographisch korrekte Schreibungen. Das Kind hat also „die Einsicht in die Morphemstruktur von Wörtern“ (Schründer-Lenzen 2009, 33) erlangt und ist dazu in der Lage, grammatische Konventionen, die der Strukturierung der Schreibung auf Satzebene dienen, zu beachten (vgl. ebd.).

Für Frith waren das Erlernen des Lesens und des Schreibens allerdings keine zwei voneinander unabhängigen Lernprozesse, sondern „zwei sich gegenseitig fördernde Fähigkeiten“ (Ratz 2012, 113), die eine parallele Entwicklung im Schriftspracherwerb darstellen (vgl. ebd.). Abbildung 1 zeigt diese gegenseitige Abhängigkeit, bei der „je- weils eine Stufe des Lesens (...) die entsprechende Stufe des Schreibens [initiiert] und umgekehrt.“ (ebd.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Die gegenseitige Abhängigkeit von Lesen und Schreiben im Entwick- lungsmodell zum Schriftspracherwerb von Frith

Quelle: Ratz 2012, 113

Auf der Grundlage von Uta Friths Stufenmodell wurden viele weitere Modelle zum Entwicklungsverlauf des Schriftspracherwerbs konzipiert. Im deutschsprachigen Raum haben insbesondere die Stufenmodelle von Günther (1989), Valtin (2000), Scheerer-Neumann (2002) und Helbig/Kirschhock/Martschinke/Kummer (2005) be- sondere Relevanz für die Beschreibung des Entwicklungsverlaufs des Schriftsprach- erwerbs erlangt (vgl. ebd.). Die einzelnen Stufen all dieser Modelle repräsentieren dabei die Strategien der Kinder, mithilfe derer sie sich die Schriftsprache aneignen und welche demzufolge Hilfestellungen im diagnostischen Bereich geben können, da Fehler darüber Auskunft geben, in welcher Entwicklungsphase des Schriftspracher- werbs ein Kind sich befindet (vgl. Schründer-Lenzen 2013, 71). Allerdings ist zu be- achten, dass die unterschiedlichen Entwicklungsstufen weder klar voneinander ab- zugrenzen sind noch streng nacheinander durchlaufen werden müssen (vgl. ebd., 75). Es wird sowohl einige Kinder geben, die länger auf einer Stufe verweilen als an- dere, als auch Kinder, die parallel zwei dieser Entwicklungsstufen durchlaufen, da sie gleichzeitig unterschiedliche Strategien anwenden (vgl. ebd.).

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass diese Stufenmodelle im Allge- meinen den Verlauf des Schriftspracherwerbs gut skizzieren und auch eine Orientie- rungshilfe für die Feststellung des Entwicklungsstandes eines Kindes darstellen kön- nen. Allerdings sollte man die Bedeutung dieser Entwicklungsmodelle für die Arbeit im diagnostischen und therapeutischen Bereich auch nicht überschätzen (vgl. Mand 2008, 16), denn es kann mit einiger Sicherheit gesagt werden, „dass die jeweils höchste Stufe der Entwicklung von einer Minderheit beachtlichen Umfangs nicht erreicht wird“ (ebd.). Insgesamt besitzen die Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs laut Mand (2008, 16) Gültigkeit für maximal 90 % der Entwicklungsverläufe.

2.2.2. Die phonologische Bewusstheit als wichtige Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb

Für einen erfolgreichen Lese- und Schreiblernprozess ist eine Reihe an Vorläuferfer- tigkeiten notwendig, welche zum einen in spezifische und unspezifische Vorausset- zungen unterteilt werden und zum anderen nach der Art der Einflussfaktoren - inter- nal oder external - unterschieden werden. Beispielsweise zählen die Bereiche Kon- zentrationsfähigkeit, Intelligenz, Lernfreude, Leistungsmotivation und das Selbstkon- zept zu den eher unspezifischen Voraussetzungen, die von internalen Einflussfakto- ren geprägt sind. Demgegenüber stehen die eher unspezifisch externalen Faktoren, wie zum Beispiel die Bildungserwartungen der Eltern, die materiellen Ressourcen in der Familie und andere. Hinsichtlich der spezifischen Voraussetzungen, die mit ex- ternalen Faktoren verknüpft sind, lassen sich unter anderem die Leseumwelt des Kindes (z.B. Vorlesen, Ausstattung mit Büchern in der Familie) sowie bestimmte Le- seinstruktionen, wie die Förderung im Kindergarten, anführen. Als letztes können spezifische internale Einflussfaktoren aufgeführt werden, zu denen das Wissen über die Schrift, die Sprachentwicklung, die visuelle Informationsverarbeitung, der Zugriff auf das Langzeitgedächtnis, das phonologische Arbeitsgedächtnis sowie die phono- logische Bewusstheit zählen. (vgl. Marx 2007, 38 f.)

Die Gesamtheit dieser Vorläuferfähigkeiten, welche sich bereits vor der Einschulung identifizieren lassen, hat einen großen Einfluss auf den schulischen Schriftspracher- werb (vgl. ebd.). In der pädagogischen Diskussion wird dabei allerdings ein besonde- res Augenmerk auf die phonologische Bewusstheit gelegt, welcher eine gute Vorher- sagekraft für den Schriftspracherwerb belegt werden konnte (vgl. ebd., 46). Dies hat wiederum eine besondere Relevanz für die Diagnose- und Fördermöglichkeiten im Rahmen des Schriftspracherwerbs (vgl. ebd.). Aus diesem Grund ist die phonologi- sche Bewusstheit auch für die qualitative Analyse der Inklusionsmaterialien von be- sonderer Bedeutung, weshalb sie im Folgenden kurz skizziert werden soll.

Der Begriff phonologische Bewusstheit bezeichnet die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf den Lautaspekt der Sprache zu richten und dementsprechend den Inhaltsaspekt der Sprache auszublenden (vgl. Schründer-Lenzen 2013, 86). Das bedeutet, einzel- ne Segmente der Sprache, wie zum Beispiel Silben oder einzelne Phoneme eines Wortes, können erkannt und wahrgenommen werden (vgl. Gasteiger-Klicpera u.a. 2013, 24). In der Regel unterscheidet man dabei die phonologische Bewusstheit im weiteren und im engeren Sinne. Die phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne beschreibt dabei die Fähigkeit, „Reime zu erkennen, Silben zu segmentieren und zusammenzusetzen“ (Schründer-Lenzen 2013, 88). Die phonologische Bewusstheit im engeren Sinne umfasst demgegenüber das Erkennen von Anfangs- und Endlau- ten sowie das Analysieren der lautlichen Bestandteile eines Wortes (vgl. ebd.).

Wie bereits erwähnt, hat die phonologische Bewusstheit eine gut belegte Prognosekraft für die Entwicklung des Schriftspracherwerbs. Konkret bedeutet dies, dass Kinder, die bereits vor Schuleintritt eine gut entwickelte phonologische Bewusstheit aufweisen, beim Lesen- und Schreibenlernen weniger Probleme zeigen als Risikokinder, welche über eine weniger gut ausgeprägte phonologische Bewusstheit verfügen. Auch wenn dieser Zusammenhang zwischen phonologischer Bewusstheit und einem erfolgreichen Schriftspracherwerb nahezu unumstritten ist, muss beachtet werden, dass in der Fachliteratur die kausale Beziehung zwischen beiden Aspekten noch nicht einheitlich geklärt werden konnte. (vgl. ebd.)

Insgesamt kann dennoch festgehalten werden, dass die phonologische Bewusstheit einen wesentlichen Faktor für einen erfolgreichen Lese- und Schreiblernprozess darstellt und deshalb insbesondere bereits vor der Einschulung, aber auch noch während des ersten Schuljahres trainiert werden sollte. Inwieweit die Förderung in diesem Bereich in den Schriftspracherwerbsmaterialien für Inklusionsklassen umgesetzt wird, wird die abschließende Analyse dieser Lernmaterialien zeigen.

2.2.3. Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb für Kinder mit und ohne son- derpädagogischem Förderbedarf

Für den weiteren Verlauf der Arbeit ist es nun wichtig, die Probleme und Schwierig- keiten, die bei den Lese- und Schreiblernprozessen im Anfangsunterricht bei allen Kindern auftreten können, aufzuzeigen. Mithilfe dieses Vorwissens können dann die Materialien für den Schriftspracherwerb in inklusiven Settings dahingehend analysiert werden, ob sie eine angemessene Förderung dieser Probleme gewährleisten und ob sie durch gezielte Übungen mögliche Schwierigkeiten eventuell vorbeugen können.

Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache werden mit unterschiedlichen Begrif- fen umschrieben: „Legasthenie, Dyslexie, (spezifische) Lese-Rechtschreibstörung, (allgemeine) Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ (Marx 2007, 116). In der Literatur finden sich dabei kontroverse Diskussionen über die De- finitionskriterien, die Ursachenzuschreibungen sowie über die Breite der Schwierig- keiten (vgl. ebd., 116 f.). Das medizinische Legasthenie-Modell beschreibt beispiels- weise eine deutliche Abweichung der Lese-Rechtschreibleistungen von den aufgrund des Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwartenden Leistungen in diesem Be- reich (vgl. Gasteiger-Klicpera u.a. 2013, 128 f.). Ferner geht man im medizinischen Bereich davon aus, dass man eine Lese-Rechtschreibstörung oder eine isolierte Rechtschreibstörung eindeutig von einer Lese-Rechtschreibschwäche mit dem Hin- tergrund einer kognitiven Minderbegabung abgrenzen könne, wie es zum Beispiel die Klassifikationsmodelle DSM VI oder ICD 10 tun (vgl. ebd.). Diese Art der Klassifizie- rung von Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen ist nicht unumstritten. Allgemein herrscht durch die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen und -verwen- dungen eine gewisse Verwirrung und Uneinheitlichkeit, weshalb im Rahmen dieser Arbeit die auftretenden Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb unter dem Begriff Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zusammengefasst werden, wobei dabei auf die Einführung bestimmter Definitionskriterien sowie auf eine nähere Ursachenzuschrei- bung verzichtet wird.

Aus pädagogischer Sicht lassen sich derartige Lese-Rechtschreibschwierigkeiten dadurch charakterisieren, dass Kinder mit diesen Schwierigkeiten auf den unteren Stufen des Schriftspracherwerbsmodells länger verweilen und es somit zu einer Ent- wicklungsverzögerung im Schriftspracherwerb kommt (vgl. Scheerer-Neumann 1998, 44). Lese-Rechtschreibschwache Kinder stoßen demzufolge auf die gleichen Prob- leme und begehen die gleichen Fehler wie Kinder ohne Schwierigkeiten in diesen Bereichen (vgl. Valtin 2006, 149). Der einzige Unterschied besteht darin, dass sie quantitativ mehr Fehler machen (vgl. Schründer-Lenzen 2009, 35) und für das Über- winden dieser Schwierigkeiten mehr Zeit benötigen als Kinder ohne Lese-Recht- schreibschwierigkeiten. Wie genau sich diese Probleme und Schwierigkeiten während des Schriftspracherwerbs äußern, soll nun vorgestellt werden. Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreiblernen können sich schon zu Beginn des Schriftspracherwerbs bemerkbar machen, denn schwache Schüler haben - laut mehreren Längsschnittstudien - Probleme beim Einprägen und Benennen der Buch- staben, die sie in den ersten drei Monaten gelernt haben (vgl. Gasteiger-Klicpera u.a. 2013, 145). Des Weiteren zeigen diese Studien, dass „nur zwei Drittel der vertrauten und im Unterricht häufig gelesenen Wörter [aus diesem Zeitraum] fehlerfrei“ (ebd.) erkannt werden können, was bedeutet, dass Kinder mit Lese-Rechtschreib- schwierigkeiten Probleme haben, den bereits mehrfach gelesenen Wörtern ihre Aus- sprache zuzuordnen (vgl. ebd., 146). Im weiteren Verlauf des Leseunterrichts lassen sich bei leseschwachen Kindern große Schwierigkeiten beim Lesen von unbekann- ten Wörtern und Pseudowörtern feststellen, was darauf hindeutet, dass das phonolo- gische Rekodieren einer Buchstabenfolge nur eingeschränkt gelingt (vgl. ebd.). Ein weiteres Problem beim Lesen von neuen Wörtern sowie von Pseudowörtern stellt das Zusammenschleifen der Laute dar, da schwache Schüler, wenn ihnen das kor- rekte Lautieren der Buchstaben gelingt, häufig am Zusammenschleifen der Lautfolge scheitern (vgl. Schulte-Körne 2004, 66). Dazu kommt, dass schwache Leseanfänger weniger produktiv mit ihren Lesefehlern umgehen können und sich durch ihre Korrek- turversuche zunächst weiter vom Zielwort entfernen und so zum Teil zu völlig sinnlo- sen Wortbildungen gelangen, was wiederum das Erreichen des Ausgangswortes zu- sätzlich erschwert (vgl. Schründer-Lenzen 2013, 49). Es bestehen also große Prob- leme bei „der Vernetzung von Rekodier- und Dekodierstrategien, d.h. die Verbindung von wortanalytischen Prozessen zu semantisch-syntaktischen Informationen ist er- schwert“ (ebd., 47 f.). Deutliche Leseprobleme zeigen sich darüber hinaus auch beim Dekodieren längerer Wörter, da leseschwache Kinder Strategien zur Segmentierung eines Wortes, wie zum Beispiel die Aufteilung in „immer wiederkehrende Silben, Morpheme, Signalgruppen etc.“ (ebd., 51), häufig nicht nutzen und somit nicht in der Lage sind, die Struktur eines Wortes zu erfassen. Mit diesen Schwierigkeiten geht natürlich auch eine geringere Lese- und Worterkennungsgeschwindigkeit einher, welche sich auch bei wiederholter Darbietung der Wörter nicht an die Geschwindig- keit guter Leser bei erstmaliger Darbietung annähert (vgl. Gasteiger-Klicpera u.a. 2013, 149). Insgesamt haben leseschwache Schüler aufgrund der vorab beschriebe- nen Defizite im Bereich des Lesens auch Probleme, Gelesenes wiederzugeben und aus Gelesenem Zusammenhänge zu erschließen sowie Schlussfolgerungen zu ziehen (vgl. Schulte-Körne 2004, 66).

Auch wenn schwache Leser im Verlauf der Grundschulzeit Fortschritte bei ihren Le- seleistungen verzeichnen können, kann noch bis zum Ende der vierten Klasse fest- gestellt werden, dass sie ihren Rückstand im Vergleich zu durchschnittlichen und guten Lesern sehr selten aufholen können (vgl. Mand 2008, 17). Sie erreichen insbe- sondere „bei der Lesesicherheit nicht einmal das Niveau (...), das die guten Leser schon am Ende der ersten Klasse erreicht haben“ (Gasteiger-Klicpera 2013, 149) und sie weisen darüber hinaus große Defizite im Bereich des Leseverständnisses auf, da es ihnen nur schwer gelingt, „ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren“ (Schrün- der-Lenzen 2013, 50).

Im Bereich des (Recht-)Schreibens lassen sich nach Gasteiger-Klicpera u.a. (2003, 142) insbesondere zwei Bereiche festhalten, in denen bei schwachen Schülern gro- ße Schwierigkeiten auftreten. Zum einen haben sie Probleme, sich die konkrete Schreibweise eines Wortes einzuprägen. Ihnen gelingt es zwar, die bereits im Unter- richt vorgestellten und gelesenen Wörter deutlich besser zu „schreiben als andere Wörter, die aus den gleichen Buchstaben zusammengesetzt sind“ (ebd., 153), den- noch lassen sich vermehrt Schwierigkeiten im Vergleich zu ihren Mitschülern erken- nen. Zum anderen ist das lautgetreue Schreiben für (recht-)schreibschwache Kinder eine große Herausforderung. Insbesondere von Leseübungen schon bekannte Pseudowörter nach Diktat aufzuschreiben, stellt für schwache (Recht-)Schreiber eine beachtliche Herausforderung dar, und scheint bei ihnen zusätzlich für Verwirrung zu sorgen (vgl. ebd.). Im weiteren Verlauf kommt es dann bei komplizierteren Laut- merkmalen, wie zum Beispiel Konsonantenverbindungen, zu Problemen, die sich durch Auslassungen oder eine falsche Reihenfolge der Konsonanten abzeichnen (vgl. Mand 2008, 17). Weitere Schwierigkeiten bei den Lautmerkmalen zeigen sich auch bei der „Stimmhaftigkeit bzw. Härte der Verschlusslaute“ (Gasteiger-Klicpera 2013, 154) sowie beim Erkennen der Vokalkürze bzw. Vokaldehnung (vgl. ebd.).

Ähnlich wie im Bereich des Lesenlernens machen (recht-)schreibschwache Kinder im weiteren Verlauf natürlich auch Fortschritte und erweitern ihr orthographisches Wis- sen. Dennoch zeigt sich am Ende der Grundschulzeit wiederum ein deutlicher Unter- schied zwischen (recht-)schreibschwachen und (recht-)schreibguten Kindern, da schwache (Recht-)Schreiber unter anderem wesentlich mehr Zeit für einen Kompetenz- und Leistungszuwachs benötigen (vgl. Gasteiger-Klicpera 2013, 154).

Abschließend muss aber festgehalten werden, dass Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen als heterogen anzusehen sind. Zum einen treten nicht bei jedem Kind mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten alle vorab beschriebenen Probleme auf und zum anderen ist es auch möglich, dass nur in einem der beiden Bereiche - Le- sen oder Schreiben - Schwierigkeiten bestehen (vgl. Marx 2007, 122). Zudem wei- sen einige Autoren darauf hin, dass es keine typischen Fehlerarten gibt, an denen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten festgemacht werden können (Schenk 2012, 265), da sich die auftretenden Fehler häufig aufgrund von Inkonsistenz nicht eindeutig er- fassen lassen und auch Kindern ohne besondere Schwierigkeiten diese Fehler wäh- rend des Schriftspracherwerbs unterlaufen (vgl. Breitenbach 2004, 63 f.)

2.2.4. Besonderheiten des Schriftspracherwerbs in inklusiven Klassen

Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, auf welche Herausforderungen und Prob- leme Grundschüler während der Lese- und Schreiblernprozesse stoßen können. Diese Vielfalt an auftretenden Schwierigkeiten verdeutlicht aber auch, wie unter- schiedlich und individuell jedes einzelne Kind lernt und wie groß die Heterogenität bereits in Klassen ist, in denen noch keine Schüler mit sonderpädagogischem För- derbedarf inkludiert sind. Dementsprechend beschäftigt sich dieses Kapitel mit den Besonderheiten des Schriftspracherwerbs, die sich innerhalb inklusiver Lernsettings ergeben. Dafür sollen exemplarisch die Ergebnisse der Untersuchung über die schriftsprachlichen Fähigkeiten von Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (kurz: FsgE) von Christoph Ratz (2012) vorgestellt und Konsequenzen daraus für den Schriftspracherwerb in Inklusionsklassen abgeleitet werden.

Die Ausführungen von Ratz sind dabei Bestandteil der empirischen Studie zum Thema „Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (SFGE)“, welche im Schuljahr 2009/10 an bayerischen Förderzentren, in denen Kinder mit die- sem Förderschwerpunkt unterrichtet worden waren, durchgeführt worden ist (vgl. Dworschak & Ratz 2012, 16). Auf eine genauere Beschreibung der Anlage sowie auf die Darstellung von weiteren Ergebnissen dieser Studie soll im Rahmen der vorlie- genden Arbeit verzichtet und auf die Ausführungen von Dworschak u.a. (2012) ver- wiesen werden. Dennoch sollte bezüglich der Stichprobenzusammensetzung beach- tet werden, dass die Untersuchung zunächst Schüler aller Altersstufen (6-21 Jahre) einbezieht und in einem zweiten Teil die Lese- und Schreibfähigkeiten der Kinder nach Schulstufen analysiert (vgl. Ratz 2012, 116 ff.). Da für den weiteren Verlauf der Arbeit allerdings nur die Ergebnisse im Bereich der Grundschulstufe relevant sind, werden sich die nachfolgenden Darstellungen ausschließlich darauf beziehen.

Die Untersuchungsergebnisse im Bereich des Lesens lassen sich dabei unter Anlehnung an das Stufenmodell von Frith wie folgt zusammenfassen:

Gut ein Viertel der Kinder im FsgE der Grundschulstufe kann (noch) überhaupt nicht lesen, während andererseits 17,9 % der Schülerschaft die orthographische Stufe des Lesens bereits erreicht hat. Dazwischen befinden sich rund 10 % der Schüler auf der logographemischen Lesestufe und 45,4 % auf der alphabetischen Stufe des Lesens. (vgl. ebd., 118 ff.)

Ebenfalls in Bezug auf das Modell von Frith lassen sich die Fähigkeiten im Bereich des Schreibens folgendermaßen darstellen:

Mit 21,7 % der Grundschüler im FsgE, die (noch) überhaupt nicht schreiben, ist der Anteil etwas geringer als im Bereich des Lesens. Allerdings sind dabei die Grenzen zur logographemischen Stufe, welche 37,1 % der Schülerschaft erreichen, fließend und nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen. Insgesamt sind jedoch die Anteile der Kinder, die auf alphabetischem und orthographischem Niveau (36,9 % bzw. 4,3 %) schreiben, geringer als beim Lesen. (vgl. ebd.,120 f.)

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die schriftsprachlichen Fähigkeiten der Schüler im FsgE auf sehr unterschiedlichen Niveaustufen verteilt sind und dass das Lesen deutlich weiter entwickelt ist als das Schreiben (vgl. ebd., 127). Es ist offensichtlich, dass Kinder mit diesem Förderschwerpunkt sehr viel langsamer und auch auf eine andere Art und Weise das Lesen und Schreiben lernen als das bei Schülern in der Grundschule der Fall ist (vgl. ebd., 128).

Die Untersuchungsergebnisse von Ratz haben deutlich gezeigt, wie unterschiedlich die Lese- und Schreibfähigkeiten der Kinder mit FsgE innerhalb der Grundschulstufe verteilt sind. Im Hinblick auf den Schriftspracherwerb in inklusiven Klassen ist aller- dings zu beachten, dass zu den inkludierten Schülern nicht nur Kinder mit diesem Förderschwerpunkt gehören, sondern dass alle Kinder, egal welchen sonderpädago- gischen Förderbedarf sie benötigen, ein Teil dieser Klasse sein können. Dies hat zur Folge, dass die Fähigkeiten bezüglich des Schriftspracherwerbs innerhalb der Klasse eine enorme Spannbreite aufweisen. Die Lehrkräfte stehen also vor der Herausforde- rung dieser verstärkten Heterogenität gerecht zu werden und allen Grundschülern entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten das Lesen und Schreiben beizubringen. Die Besonderheiten des Schriftspracherwerbs in inklusiven Klassen bestehen also letztendlich darin, dass die Lese- und Schreiblernprozesse auf eine noch heterogenere Klassenzusammensetzung abgestimmt werden müssen und jedem Kind das Erlernen der Schriftsprache auf seinem Niveau ermöglicht wer- den muss.

3. RELEVANTE ERGEBNISSE AUS DER INKLUSIONSFORSCHUNG

Um die Notwendigkeit einer Analyse der Lernangebote und -materialien für den Schriftspracherwerb in inklusiven Settings aufzuzeigen, sollen in diesem Kapitel eini- ge relevante Ergebnisse aus der Inklusionsforschung - sofern vorhanden - vorge- stellt werden. Anhand des aktuellen Forschungsstandes soll einerseits aufgezeigt werden, wie sich inklusive Lernsettings auf die Leistungsentwicklung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auswirken und inwiefern sich die Forschung mit diesem Themenkomplex bereits auseinandergesetzt hat. Andererseits soll auch verdeutlicht werden, wie groß die Forschungsdefizite im Hinblick auf den Schrift- spracherwerb in Inklusionsklassen sind und welche Forschungslücken sich im Be- reich der Lehrmittelmittelforschung, die vor allem für die Verwirklichung einer inklusi- ven Didaktik notwendig ist, ergeben.

Zu beachten ist allerdings, dass sich die empirische Forschung zur inklusiven Bil- dung in Deutschland meist auf Untersuchungen zum gemeinsamen Unterricht be- schränkt, der oft im Zusammenhang mit Integration vorzufinden ist. Wie bereits er- wähnt, finden sich in der Fachliteratur allerdings unterschiedliche Vorstellungen über die Definition von Integration und Inklusion, weshalb nicht immer eindeutig ist, auf welcher Grundlage die empirischen Untersuchungen zum gemeinsamen Unterricht basieren. Ein Aspekt, der bei der Analyse der Literatur aber deutlich hervortritt, ist, dass die Anzahl der Studien, die explizit die Auswirkungen und Effekte einer inklusi- ven Beschulung ins Zentrum stellen, eher gering ist. Insofern wird der Forschungs- stand zur inklusiven Beschulung in dieser Arbeit unter anderem auch Ergebnisse mit einschließen, die sich auf den gemeinsamen Unterricht beziehen.

Im weiteren Verlauf werden zunächst die Effekte inklusiver Beschulung auf die Leis- tungsentwicklung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorgestellt. Anschließend wird versucht, die empirischen Befunde zum Schriftspracherwerb in inklusiven Settings zusammenzutragen und die Befundlage innerhalb der Lehrmittel- forschung zu ermitteln.

3.1. Effekte inklusiver Beschulung auf die Leistungsentwicklung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf

Im Folgenden werden die Ergebnisse einiger nationaler sowie internationaler Unter- suchungen überblicksartig vorgestellt, welche sich mit der Schulleistungsentwicklung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in inklusiven Settings ausei- nandergesetzt haben. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich ein Großteil der Untersuchungen ausschließlich auf Schüler mit Lernschwierigkeiten bezieht. Einen zentralen Zugriff auf die „Effekte von Inklusion auf Leistung [stellt dabei] die umfangreiche Synopse auf der Basis von 50 000 Studien [dar], die von Hattie (2009) auf die Wirksamkeit von Unterrichts- und Schulmerkmalen hin analysiert wurden“ (Kopp u.a. 2013, 46). Inklusion kann dieser umfangreichen Studie zufolge den lern- förderlichen Faktoren zugeordnet werden, wobei die Effektstärke mit d = .29 aller- dings eher gering ausfällt (vgl. ebd.). Nationale sowie internationale Untersuchungen haben ebenfalls gezeigt, dass Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Inklusionsklassen mindestens gleich gute Leistungen erreichen und teilweise sogar bessere Ergebnisse erzielen als in separierten Beschulungsarten (vgl. z.B. Bless & Mohr 2007, 378 f.; Walter 2007, 892 f.; Klemm & Preuss-Lausitz 2008, 10 ff.; Kopp u.a. 2012, 185 ff.). Wie bereits angeführt, bezieht sich der Großteil der Ergebnisse allerdings auf Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwer- punkt Lernen. Den Forschungsergebnissen zufolge wirkt sich also eine inklusive Be- schulung auf die Leistungsentwicklung dieser Schülergruppe positiv aus oder ist zu- mindest nicht schlechter als in speziellen Förderzentren.

In Bezug auf die Leistungsentwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung kann nur auf sehr wenige Untersuchungsergebnisse zurückgegriffen werden, so unter an- derem auf die Ausführungen von Walter (2007, 891 ff.), der für Kinder mit dem För- derschwerpunkt geistige Entwicklung ebenfalls Vorteile einer inklusiven Beschulung konstatieren konnte. Im Gegensatz dazu konnten in den wenigen vorhandenen Stu- dien zur Schulleistungsentwicklung von Kindern mit partiellen Schwierigkeiten aller- dings überwiegend nachteilige Effekte inklusiver Settings festgestellt werden (vgl. ebd.). Hinsichtlich der Leistungsentwicklung von inklusiv beschulten Kindern mit Ver- haltensauffälligkeiten konnte in dem von Ellinger und Stein (2012, 96) zusammenge- stellten Überblick über nationale und internationale Untersuchungsergebnisse keine Leistungssteigerung dieser Schülergruppe verzeichnet werden.

Allgemein ist die Zahl der Untersuchungen zu den Auswirkungen und Effekten, in denen ausschließlich inklusiv beschulte Schüler untersucht worden sind, noch sehr gering, was eine zusammenfassende Darstellung der Effekte auf die Leistungsent- wicklung von Kindern mit Förderbedarf erschwert. Dennoch kann zumindest auf der Grundlage der wenigen Untersuchungsergebnisse festgehalten werden, dass insbe- sondere für Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung leicht positive Effekte auf die Leistungsentwicklung festzustellen sind, dass die Aus- wirkungen von inklusiven Settings aber auch von den einzelnen Förderschwerpunk- ten abhängig sind und leicht negative Tendenzen ebenso festgestellt werden konn- ten. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass hinsichtlich der inklusiven Beschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf sowie ihrer Auswirkung auf die Leistungsentwicklung dieser Kinder insbesondere in Deutschland großer For- schungsbedarf besteht (vgl. Klemm 2010, 24).

3.2. Forschungsstand zum Schriftspracherwerb in inklusiven Settings

Für die Untersuchung der Inklusionsmaterialien für den Schriftspracherwerb spielen natürlich insbesondere Forschungsergebnisse bezüglich der Lese- und Schreiblern- prozesse in Inklusionsklassen eine wesentliche Rolle. Eine genauere Analyse der einschlägigen Literatur zeigt allerdings ernüchternde Ergebnisse in diesem Bereich. Es konnten keine Studien ausfindig gemacht werden, in denen der Schriftspracher- werb in inklusiven Settings Gegenstand der Untersuchung war. Dementsprechend stehen auch keine Forschungsergebnisse zur Verfügung, die die Lese- und Schreib- lernprozesse innerhalb inklusiver Beschulungsarten näher beschreiben und Chancen oder Herausforderungen diesbezüglich erkennen lassen. Anhand der Feststellung dieses nicht vorhandenen Forschungsstandes in diesem Bereich ist deutlich gewor- den, dass Untersuchungen zum Schriftspracherwerb in inklusiven Lernsettings ein Forschungsdesiderat darstellen.

3.3. Relevante Ergebnisse aus der Lehrmittelforschung

Basierend auf den aktuellen Ergebnissen der Schulbuchforschung lassen sich be- stimmte Anforderungen ableiten, die gute Lese- und Schreiblernmaterialien für den Schriftspracherwerb erfüllen sollten (vgl. Crämer & Walcher-Frank 2010, 179). Diese Anforderungen sollen nun überblicksartig vorgestellt und anschließend geklärt wer- den, inwiefern sich diese Aspekte auch auf Materialien für den Schriftspracherwerb innerhalb eines inklusiven Unterrichts übertragen lassen beziehungsweise inwieweit sich die Lehrmittelforschung bereits mit diesem Thema auseinandergesetzt hat.

Ein gutes Schulbuch für den Lese- und Schreiblernprozess im Anfangsunterricht der Grundschule lässt sich nach Crämer und Walcher-Frank (2010, 180) dadurch cha- rakterisieren, dass es Möglichkeiten anbietet, der heterogenen Schülerschaft in einer Klasse gerecht zu werden, und dass es den Grundschülern den komplexen Lernge- genstand, nämlich die Struktur der Schrift, systematisch zugänglich macht. Darüber hinaus sollte die Konzeption des Lese- und Schreiblernmaterials grundlegende Ele- mente enthalten, die auf eine Öffnung des Unterrichts ausgerichtet sind und mithilfe derer die Lese- und Schreibmotivation der Kinder aufgebaut beziehungsweise aus- gebaut werden kann. Des Weiteren sollte ein gutes Schulbuch auch Aufgabenange- bote beinhalten, die einen qualitativ differenzierten Unterricht ermöglichen und somit das selbstständige und eigenaktive Lernen der Schüler ins Zentrum des Lernprozes- ses rücken. Damit dieser individualisierte und qualitativ differenzierte Unterricht reali- siert werden kann, sollte das Schulbuch auch für die Lehrkräfte konkrete Anregungen und Hilfestellungen zur Umsetzung eines solchen Unterrichts zur Verfügung stellen. Aufgrund der Tatsache, dass dem Freien Schreiben in der Konzeption eines offenen Deutschunterrichts eine zentrale Rolle zukommt, lassen sich diesbezüglich ebenfalls konkrete Anforderungen ableiten, die Lehrwerke für den Schriftspracherwerb erfüllen sollten. Zu nennen ist hierbei „eine sinnvoll aufgebaute Anlauttabelle“ (ebd., 191), welche den Grundschülern den Zugang zur Struktur unserer Schrift erleichtert und welche als wesentlicher Bestandteil in die Konzeption des Lehrwerks eingebunden ist. Damit es den Kindern aber auch ermöglicht wird, von der Phase des lautgetreuen Verschriftens zu orthographisch korrekten Schreibungen zu gelangen, muss das Le- se- und Schreiblernmaterial neben einer Anlauttabelle zusätzlich Elemente enthalten, durch die die Entwicklung bestimmter Rechtschreibstrategien gefördert werden kann. (vgl. ebd., 179 ff.)

Nun stellt sich allerdings die Frage, ob all diese Elemente, die nach Crämer und Walcher-Frank für gute Lese- und Schreiblernmaterialien kennzeichnend sind, auch auf die speziellen Schriftspracherwerbsmaterialien für inklusive Lernsettings übertra- gen werden können. Der Forschungsstand bezüglich dieser Fragestellung zeigt je- doch ähnlich ernüchternde Ergebnisse wie die Befundlage zum Schriftspracherwerb in Inklusionsklassen. Grundsätzlich kann aber davon ausgegangen werden, dass auch die Inklusionsmaterialien die genannten Anforderungen erfüllen und darüber hinaus zusätzliche Elemente enthalten sollten, mit deren Hilfe noch stärker auf die vorhandene Heterogenität in inklusiven Settings reagiert und eingegangen werden kann. Aufgrund der Tatsache, dass auch in diesem Bereich keinerlei Rückgriffe auf empirische Befunde möglich sind, wird sich die vorliegende Arbeit mit dem Aufbau und der Konzeption der Schriftspracherwerbsmaterialien für Inklusionsklassen ausei- nandersetzen, um die Forschungslage bezüglich dieser Thematik mit Ergebnissen zu füllen.

4. ZIELSETZUNG DER UNTERSUCHUNG UND FORSCHUNGSFRAGEN

Das dritte Kapitel dieser Arbeit hat sehr deutlich gezeigt, wie groß der Forschungs- bedarf im Bereich der schulischen Inklusion tatsächlich ist, da einerseits auch auf Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden musste, die im Rahmen von Untersu- chungen zum gemeinsamen Unterricht entstanden sind, und andererseits keine em- pirischen Studien ausfindig gemacht werden konnten, die sich mit den Lese- und Schreiblernprozessen in inklusiven Settings sowie mit den dafür entwickelten Lehr- werken auseinandergesetzt haben. Aufgrund dieser Tatsache verfolgt die vorliegen- de Untersuchung das Ziel, einen Teil dieser Forschungslücke zu schließen, indem sie die aktuell angebotenen Materialien für den Schriftspracherwerb in Inklusions- klassen hinsichtlich ihrer qualitativen Merkmale genauer analysiert und miteinander vergleicht. Das Hauptaugenmerk der qualitativen Analyse liegt dabei auf dem Aufbau sowie auf den Förderbereichen und Förderprinzipien, die innerhalb der einzelnen Materialien ersichtlich werden. Am Ende dieser Untersuchung soll schließlich beur- teilt werden, inwiefern die entwickelten Materialien für den Schriftspracherwerb in inklusiven Settings zu empfehlen sind.

Konkrete Fragestellungen, die sich aus dieser Zielsetzung ergeben und denen im Rahmen der Untersuchung nachgegangen werden soll, können folgendermaßen formuliert werden:

1) Welche Zielsetzungen sollen mithilfe der Schriftspracherwerbsmaterialien verwirklicht werden?
2) Mithilfe welcher Förderprinzipien werden diese Zielsetzungen innerhalb der Materialien versucht zu erreichen?
3) Ermöglichen die Lernangebote und -materialien eine angemessene Förderung aller Schüler in inklusiven Lernsettings?
4) Beinhalten die Lernangebote zusätzliche Materialien, die im Rahmen der Lernstandsermittlung als Unterstützungshilfe für die Lehrkraft dienen?

Damit auf diese Forschungsfragen eine umfassende Antwort gegeben werden kann, ist es vorab allerdings notwendig, die konkrete methodische Verfahrensweise, die bei der Untersuchung zur Anwendung kommt, zu erläutern. Auf dieses methodische Vorgehen soll im nachfolgenden Kapitel näher eingegangen werden, sodass daran anschließend die erhaltenen Analyseergebnisse präsentiert und interpretiert werden können. Innerhalb dieser Interpretation sowie der abschließenden Gesamtinterpreta- tion der Untersuchungsergebnisse soll versucht werden, die gestellten Forschungsfragen zu beantworten und eine Empfehlung für den Einsatz dieser Materialien im Unterricht zu geben.

5. METHODISCHES VORGEHEN

In diesem Kapitel soll die methodische Vorgehensweise der Untersuchung beschrie- ben werden. Im Sinne der qualitativen Forschung liegt das Anliegen hierbei zum ei- nen auf der Datenerhebungsmethodik und zum anderen auf der ausgewählten Me- thode für die Auswertung der erhobenen Daten (vgl. Bentler & König 2010, 178 ff.). Beginnend mit der Darstellung der Methodik zur Datenerhebung soll zunächst die Stichprobenauswahl vorgestellt und begründet werden. Anschließend wird genauer auf die Dokumentenanalyse eingegangen, die im Rahmen dieser Untersuchung als nonreaktives Erhebungsverfahren zum Einsatz kommt. Im weiteren Verlauf steht die Datenauswertungsmethodik im Vordergrund, bei der zunächst verschiedene qualita- tive Auswertungsverfahren vorgestellt werden und eine begründete Auswahl für die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2008, 42 ff.) getroffen wird. Im Anschluss daran wird die konkrete inhaltsanalytische Umsetzung geschildert, in der insbeson- dere das Kategoriensystem sowie dessen Entstehung genauer in den Blick genom- men werden.

5.1. Erhebung des Datenmaterials

Grundsätzlich existieren im Bereich der qualitativen Forschung unterschiedliche Ver- fahren zur Datenerhebung. Zu den wichtigsten Methoden zur Erhebung von qualitati- vem Material gehören nach Bortz und Döring (2006, 308) die qualitative Befragung, die qualitative Beobachtung sowie die nonreaktiven Erhebungsverfahren. Bevor nun allerdings genauer darauf eingegangen wird, warum für die Analyse der Schrift- spracherwerbsmaterialien ein nonreaktives Datenerhebungsverfahren am besten geeignet ist, soll vorab das Ausgangsmaterial der Untersuchung näher bestimmt werden.

5.1.1. Bestimmung des Ausgangsmaterials

Ein grundlegendes Kriterium für die Aufnahme des Materials in die Stichprobe war, dass das Lernangebot als Unterstützungs- und Fördermaterial für den Schriftsprach- erwerb in inklusiven Settings entwickelt worden ist. Die Zielgruppe des Materials sind also Erst- und Zweitklässler, die in Inklusionsklassen unterrichtet werden und sich mithilfe der Lernangebote die Schriftsprache aneignen beziehungsweise in bestimm- ten Bereichen des Schriftspracherwerbsprozesses gefördert werden sollen. Folglich wurden keine Materialien in die Stichprobe aufgenommen, die zwar für die Lese- und Schreiblernprozesse im Anfangsunterricht konzipiert worden sind, aber den Aspekt eines inklusiven Unterrichts nicht beinhaltet haben, oder umgekehrt. Darüber hinaus hat ein weiterer Faktor die Auswahl des Ausgangsmaterials beeinflusst, denn zu dem Zeitpunkt, zu dem das Forschungsanliegen formuliert worden ist, standen noch nicht wesentlich mehr als die in die Stichprobenauswahl aufgenommenen Lernangebote und -materialien für eine Analyse zur Verfügung. Demzufolge hat einerseits eine be- wusste Stichprobenziehung im Top-down-Verfahren stattgefunden, da die Kriterien für die Auswahl des Materials vorab definiert worden sind (vgl. Echterhoff u.a. 2010, 188), andererseits ist die Zusammensetzung des Ausgangsmaterials auch durch äu- ßere Umstände bestimmt worden, da nicht mehr Lernangebote, als auf dem Markt vorhanden, herangezogen werden konnten. Aufgrund des vorab festgelegten Auf- nahmekriteriums und der äußeren Umstände hat sich die Stichprobe der Untersu- chung aus folgenden Unterrichtsmaterialien zusammengesetzt:

Material 1 (M1):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Inklusionsmaterial für den Schriftspracherwerb aus dem Ernst Klett Verlag be- steht aus circa 400 Arbeitsblättern, die speziell für Kinder mit Lernschwierigkeiten entwickelt worden sind (vgl. Gergaut u.a. 2012, 1). Zusätzlich zu den Kopiervorlagen steht der Lehrkraft die Handreichung Grundschule zur Verfügung, in der Hinter- grundwissen sowie praktische Hinweise für einen inklusiven Unterricht zu finden sind.

Das Material hat für die vorliegende Untersuchung in Originalform (Ordner mit ein- zelnen Arbeitsblättern) zur Verfügung gestanden.

Material 2 (M2):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Lesetraining aus dem Persen Verlag besteht aus Leseübungen zu den einzelnen Buchstaben, die auf jeweils vier Seiten immer nach dem gleichen Prinzip aufgebaut und für Erst- und Zweitklässler in inklusiven Settings entwickelt worden sind. (vgl. Plötz u.a. 2013, 4)

Das Material hat für die Untersuchung in Originalform (Kopiervorlagen in gebundener Form) zur Verfügung gestanden.

Material 3 (M3):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Lernangebot Lesen im Herbst, ebenfalls im Persen Verlag erschienen, umfasst neun Arbeitsblätter mit zusätzlichen Lösungsseiten, die für Erst- und Zweitklässler in Inklusionsklassen entwickelt worden sind.

Das Material hat für die Untersuchung als Download zur Verfügung gestanden und ist in ausgedruckter Form verwendet worden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 170 Seiten

Details

Titel
Lese- und Schreiblernprozesse in inklusiven Lernsettings. Qualitative Analyse der Lernangebote und -materialien
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Lehrstuhl für Grundschulpädagogik)
Veranstaltung
Zulassungsarbeit für das 1.Staatsexamen
Note
2,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
170
Katalognummer
V352651
ISBN (eBook)
9783668393189
ISBN (Buch)
9783668393196
Dateigröße
1792 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Inklusion, Schriftspracherwerb, Lesen und Schreiben lernen, Kinder mit Behinderung, Inklusionsmaterialien, Qualitative Analyse, sonderpädagogischer Förderbedarf, Dokumentenanalyse, Inklusionsforschung, Lehrmittelforschung, Grundschule, Deutsch in 1./2.
Arbeit zitieren
Tanja Mai (Autor:in), 2015, Lese- und Schreiblernprozesse in inklusiven Lernsettings. Qualitative Analyse der Lernangebote und -materialien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352651

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