Geistige Behinderung und Elternschaft. Die Entwicklung der Zwangssterilisation in Deutschland


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

24 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1. Historischer Kontext
1.1 „Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses“
1.2 Was nach dem Nationalsozialismus geschah

2. Die heutige Rechtslage
2.1 Regelungen zur Sterilisation einwilligungsunfähiger Menschen im Betreuungsgesetz
2.2 Streitfrage: Einwilligungsfähig oder nicht?
2.3 Ein Blick auf die Grund- und Menschenrechte

3. Geistig Behinderte und Gesellschaft
3.1 Die Sexualität geistig behinderter Menschen in der Gesellschaft
3.2 Geistige Behinderung und Elternschaft
3.3 Diskussion

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Frage, ob geistig behinderte Menschen Kinder bekommen sollten oder nicht, sorgt in der Gesellschaft seit Jahren für Diskussionen und ist mit dem Thema Sterilisation eng verbunden.

Wenn geistig behinderte Kinder in die Pubertät kommen werden fast alle Eltern aus persönlicher Sorge und aus Angst vor ungeahnten Konsequenzen sexueller Handlungen mit diesem Thema konfrontiert.

Eine Diskussion, bei der es um ethische, emotionale und familiäre Fragen geht. Der Stellenwert geistig behinderter Menschen in unserer Gesellschaft, die Verbesserung der Lebenssituation geistig Behinderter und das Thema Integration spielen eine wichtige Rolle.

Das von 1933 bis 1968 bestehende „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ der Nationalsozialisten ermöglichte die Zwangssterilisation größerer Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Die katastrophalen Folgen dieses Gesetzes haben zur Erstellung einer neuen gesetzlichen Grundlage geführt, die in Form des Betreuungsgesetzes von 1992 verwirklicht wurde. Begleitet wird dieses Thema nach wie vor von der Frage nach der Vereinbarkeit mit den Menschenrechten, der rechtssicheren Definierbarkeit und der individuellen Anwendbarkeit. (vgl. Sierck 1989, S. 138 f.)

In dieser Arbeit sollen der geschichtliche Verlauf der Rechtslage von 1933 bis 1992 und das noch immer geltende Betreuungsgesetz von 1992 ausführlich dargestellt werden. Weiterführend wird im Rahmen dieser Arbeit auf die sexuelle Entwicklung geistig behinderter Menschen und die Frage nach einer möglichen Elternschaft eingegangen werden.

1. Historischer Kontext

Der Ursprung der Zwangssterilisation liegt im 19. Jahrhundert, in dem sich Begriffe wie Rassenhygiene und Eugenetik im Rahmen des Sozialdarwinismus festigten.

Der Politiker Theobald von Bethmann Hollweg[1] legte bereits 1914 den ersten Gesetzesentwurf zur Sterilisation und Schwangerschaftsunterbrechung vor. Für ihn standen noch medizinische Gründe im Vordergrund, die eine Gefährdung der Patienten verringern sollten. (vgl. Schneider 2000, S.22)

Bereits 1922 forderte die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene[2] “ die Sterilisation krankhaft Veranlagter, geistig Minderwertiger und Entarteter. 1923 machte Gustav Boeters[3] eine Eingabe an die sächsische Regierung, in der er in 9 Punkten die Zwangssterilisation forderte. Die Veröffentlichung löste eine heftige Debatte aus, aber es wurde während der gesamten Zeit der Weimarer Republik kein Gesetz zur Zwangsterilisation verabschiedet. Im Sinne der Eugenetik wurden jedoch bis 1933 Sterilisationen auch ohne gesetzliche Grundlage durchgeführt. (vgl. Schneider 2000, S.26-28)

1.1 „Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses“

Im Januar 1933 gelangte die NSDAP unter der Führung von Adolf Hitler[4] an die Macht. Bereits am 14. Juli 1933 wurde die erste Maßnahme zur Rassenhygiene verabschiedet, das „Gesetz zur Vernichtung Erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN). Veröffentlicht wurde das Gesetz am 25. Juli 1933 und trat dann am 1. Januar 1934 in Kraft.

Reichsinnenminister Wilhelm Frick[5] hielt einen Vortrag vor dem Sachverständigenbeirat, um das Gesetz zu legitimieren. Darin bezeichnete er 20% der Bevölkerung als erbgeschädigt und behauptete „schwachsinnige“ und minderwertige Personen würden eine zwei- bis dreimal so hohe Fruchtbarkeit aufweisen, wie die Normalbevölkerung. (vgl. Schneider 2000, S.29)

Das „Gesetz zur Vernichtung erbkranken Nachwuchses“ enthielt einen Indikationskatalog, der 9 Erkrankungen auflistete, die eine Sterilisation zur Folge hatten:

- Angeborener Schwachsinn
- Schizophrenie
- Manisch- depressives Irresein
- Erbliche Fallsucht[6]
- Erblicher Veitstanz[7]
- Erbliche Blindheit
- Erbliche Taubheit
- Schwere körperliche Missbildungen erblicher Art
- Schwerer Alkoholismus

Den meisten Menschen, auf die das Gesetz damals angewandt wurde, diagnostizierte man „erblichen bzw. angeborenen Schwachsinn“. Mit dieser Diagnose leistete man auf einfachstem Weg einen effektiven Beitrag zur Rassenhygiene. (vgl. Schneider 2000, S.30 ff.)

Neben diesen 9 Diagnosegruppen enthielt das Gesetz von 1933 aber auch einige Ausführungsbestimmungen. So sollte kein Betroffener unter 10 Jahren einer Sterilisation unterzogen werden und für Personen, deren Gesundheitszustand ein Risiko bei einem solchen Eingriff darstellte und für Personen, die dauerhaft in einer geschlossenen Anstalt verwahrt wurden, sollte der Eingriff laut Durchführungsbestimmung nicht gelten.

Die Realität zeigte jedoch, dass der Anwendungsbereich des Gesetzes ständig erweitert wurde, sodass auch Personen, die in der Gesellschaft als nicht tragbar galten, weil sie sozial unangepasster lebten, von diesem Gesetz aufgegriffen wurden. Über 1000 Todesfälle nach dem Eingriff und sogar 2-jährige Mädchen, die der Sterilisation angezeigt wurden, lassen deutlich erkennen, dass auch diese Schutzbestimmungen zunehmend außer Acht gelassen wurden. (vgl. Wunder 1996, S. 390) Eine genaue Angabe darüber, wie viele Zwangssterilisationen es von 1934 bis 1945 gab, gibt es nicht. Verschiedene Autoren sprechen von 350 000 bis 400 000 Betroffenen. (vgl. Schneider 2000, S.32)

1.2 Was nach dem Nationalsozialismus geschah

Das „Gesetz zur Vernichtung erbkranken Nachwuchses“ von 1934 blieb tatsächlich bis 1968 unangetastet, erst dann wurde es für ungültig erklärt. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt[8] war es, der 1972 erstmalig versuchte ein neues Sterilisationsgesetz auf den Weg zu bringen. Sein Entwurf sah vor, dass die Sterilisationen einwilligungsunfähiger Menschen generell verboten werden und mindestens das 25. Lebensjahr erreicht sein sollte, bevor es zu einer Sterilisation komme könne. (vgl. Achilles 2010, S.69)

Insbesondere Kirchenverbände und die Lebenshilfe-Vereinigung traten Brandts Gesetzesentwurf mit Bedenken entgegen, deren Gründe in der deutschen Geschichte liegen: Die Angst davor, erneut ein Instrumentarium zu schaffen, in dem es zu viele Ausdehnungsmöglichkeiten gäbe und immer mehr Menschengruppen erfasst werden könnten. Die Verbände befürchteten, es könne erneut dazu kommen, dass besonders mit vage formulierten Kriterien wie „einwilligungsunfähig“ oder der Frage der „Zumutbarkeit“ missbräuchlich umgegangen würde. Willy Brandt blieb vorerst erfolglos mit seiner Idee, aber es entstand immerhin eine Zusammenarbeit zwischen den großen Verbänden und dem Justizministerium.

Zunächst kam es dann zu einem rechtskräftigen Verbot der Sterilisation einwilligungsunfähiger geistig Behinderter durch §223 (Körperverletzung) Strafgesetzbuch und §225 (beabsichtigte schwere Körperverletzung) StGB. Trotzdem traten weitere Fälle der Zwangssterilisation auf. (vgl. Stöckmann 1996, S.65)

Nach Schätzung des Bundesjustizministeriums wurden bis 1992 jährlich ungefähr 1000 teilweise minderjährige Betroffene ohne ihre Einwilligung sterilisiert. (vgl. Achilles 2010, S.61)

Im Jahr 1992 trat dann das neue Betreuungsgesetz in Kraft, in dem der Vorgang der Sterilisation einwilligungsunfähiger Menschen gesetzlich geregelt wurde. Die folgende Grafik zeigt die Sterilisationsanträge in Deutschland zwischen 1992 und 2006.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(vgl. Deutsches Ärzteblatt, Mai 2008)

Insgesamt wurden 1872 Anträge gestellt, von denen 1555 also 83% genehmigt wurden und 317 Anträge (17%) wurden abgelehnt.

2. Die heutige Rechtslage

2.1 Regelungen zur Sterilisation einwilligungsunfähiger Menschen im Betreuungsgesetz

Deutschlandweit trat am 1. Januar 1992 das Betreuungsgesetz in Kraft, welches die bisherigen Gesetze zur Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige ablöste. Die Erhaltung der Persönlichkeitsrechte, die Individualität des Einzelnen und die adäquate Erhaltung der Handlungsfreiheit des Betroffenen waren die Kernpunkte des Gesetzesentwurfs.

[...]


[1] Theobald von Bethmann Hollweg, 1856-1921, deutscher Politiker zur Zeit des Kaiserreichs, Reichskanzler von 1909-1917

[2] Gesellschaft zur Rassenhygiene, gegründet 1905 in Berlin von dem Mediziner Alfred Ploetz, 1860-1940

[3] Gustav Boeter, 1869-1942, deutscher Arzt

[4] Adolf Hitler, 1889-1945, Diktator des Deutschen Reiches, wurde 1933 zum Reichskanzler ernannt

[5] Wilhelm Frick, 1877-1946, deutscher nationalsozialistischer Politiker, 1933-1943 Reichsminister des Inneren

[6] Epilepsie

[7] Chorea Huntington

[8] Willy Brandt, 1913-1992, Sozialdemokrat, 1969-1974 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Geistige Behinderung und Elternschaft. Die Entwicklung der Zwangssterilisation in Deutschland
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg
Note
1,3
Jahr
2014
Seiten
24
Katalognummer
V352673
ISBN (eBook)
9783668388697
ISBN (Buch)
9783668388703
Dateigröße
657 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
geistige, behinderung, elternschaft, entwicklung, zwangssterilisation, deutschland
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, Geistige Behinderung und Elternschaft. Die Entwicklung der Zwangssterilisation in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352673

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