Nachahmung als Motiv in Heinrich von Kleists "Über das Marionettentheater" unter dem Blickwinkel seiner Kant-Krise von 1801


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kleist und Kant

Das Marionettentheater

Die gescheiterte Nachahmung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In Heinrich von Kleists „Über das Marionettentheater“ 1, das gattungsgeschichtlich schwer einzuordnen ist und das ich im Folgenden als „Dialog“ oder „Gespräch“2 bezeichnen möchte, treten zwei Personen in eine Unterhaltung ein, deren Ziel zunächst die Beantwortung einer konkreten Frage zu sein scheint: Die Frage nach Anmut und Grazie einer seelenlosen Gliederpuppe. Der, der diese Frage aufwirft, ist der Erzähler des im Jahre 1810 verfassten und auf 1801 datierten Dialoges. Er gibt das Gespräch aus der Ich - Perspektive und offensichtlich aus der Erinnerung wieder. Unterschrieben ist das Prosawerk mit „H.v.K“. Im Hinblick auf die Form des Erscheinens, nämlich als vierteiliges Feuilleton in den „Berliner Abendblättern“3, lässt sich dieses Kürzel durchaus als Signum des Herausgebers der Zeitschrift, nämlich Heinrich von Kleist selber, verstehen.

Die Position des Partners in dem Gespräch nimmt der fiktive Herr C. ein, der im ersten Absatz bereits abschließend vorgestellt wird: Herr C. ist in M., wo sich das Geschilderte zuträgt, „seit Kurzem […] als erster Tänzer der Oper angestellt“ und macht „bei dem Publico außerordentliches Glück“.

Eingeleitet wird das Gespräch, das nur durch eine zufällige Begegnung in einem „öffentlichen Garten“ zustande kommen kann (wobei hier entgegen der Kleistschen Manier der Zufall nicht als solcher und auch nicht als Vorfall genannt ist), mit der Äußerung größter Verwunderung durch den Erzähler.

Dieser, H.v.K, wäre erstaunt, den ersten Tänzer der Oper schon mehrere Male als Gast in einem „auf dem Markte zusammengezimmerten Marionettentheater“ getroffen zu haben. Führt man sich die Gesprächssituation vor Augen- Winter, Abend, ein öffentlicher Garten, zwei flüchtige Bekannte - so ist dieser unvermittelte Einstieg in eine Unterhaltung bereits nicht weniger enigmatisch, als die sich daraus entwickelnde und vom Erzähler in teilweise fast dramatischer Form in direkter und indirekter Rede wiedergegebene Abfolge von Rede und Gegenrede. Das Augenmerk der Autoren der Sekundärliteratur findet in Behandlung des „Marionettentheaters“ keinen gemeinsamen Fokus: es wird als Zeitkritik4, Abhandlung über das Ästhetische5, persönlicher Ausdruck einer Lebenskrise 6, Schlüssel zum Werke Kleists 7, als Matrize seines poetologischen Verständnisses 8, irrgelaufenes und in seiner philosophischen Schlüssigkeit nicht ernst zu nehmendes Feuilleton9 oder als pures Spiel mit der Form10 diskutiert. Die Rezeption als eindeutig gemeinte und so anzunehmende Aussage Kleists wechselt mit der als philosophisches Traktat mit Verfehlung des Ziels oder als bewusstes, keckes Vexierspiel für die Erwartungen des Lesers ab.

Die drei aus dem Text zu lesenden Hauptmotive sind die der Bewegung (Bewegung wiederum in zweierlei Hinsicht: der in ihrer nicht eigenen oder aus ihr selbst geborenen Form, der Nachahmung, und der Grazie als Wahrnehmungsart einer Bewegung), des Bewusstseins und der Erkenntnis bzw. Wahrheit. Sie zeigten sich mir in der wiederholten Lektüre jedoch nicht als primär aufzugreifendes Thema des Dialoges.

In Hinzunahme des Wissens über die Kant - Lektüre Kleists11 und seiner sogenannten Kant - Krise im Jahre 1801, der Datierung des Dialoges auf diese Zeit, Kleists eigener Reflexion über diese Geschehnisse, seines hernach ausgebildeten literarischen Schaffens12 und der offenbar möglichen Demaskierung der einzelnen Elemente des Dialoges stellt sich mir der Inhalt des Gespräches nur als Symbol für eine parodistische, vielleicht resignierende, Rückschau Kleists auf seine eigene Weltsicht des Jahres 1801 dar, die den Gesprächspartnern zugleich feste Rollen in einem sonst nicht zu haltenden gedanklichen Konstrukt zuweist.

Unter den drei genannten unverschlüsselt zu erkennenden Motiven des Dialoges ist das Motiv der Nachahmung in diesem Zusammenhang von größerer Bedeutung als die anderen, auch wenn sich der Dialog unter dem Blickwinkel dieser beiden im Kommenden Vernachlässigten erneut und erneut anders lesen lässt.

Denn ebenso wenig wie die Parodie einer Vorlage entbehren13 kann vermag dies die Nachahmung. Die Parodie als „Gegengesang“ ist eine „bewusste Verzeichnung von Thema und Aussage in komischer oder satirischer Weise“, sie ist die „distanzierende Imitation“, die „beleuchtet“ oder „herabsetzt“.

Heinrich von Kleist tat wohl beides - er setzte seine eigene Krise des Jahres 1801 aus seiner Sicht des zehn Jahre gealterten Weltverständnisses und der inzwischen eingetretenen literarischen Produktivität herab und beleuchtete gleichermaßen die nach wie vor bestehende Ausweglosigkeit, für die weder auf Kleists illusorischem und im „Marionettentheater“ gewählten Pfad noch auf dem Wege der Zeitgenossen14, der von Kleist mittlerweile ebenfalls beschritten wurde, eine Lösung gegeben zu sein schien.

Die Figur des C. übererfüllt Kleists Vorstellungen aus dem Jahre seiner Kant - Krise, während die Erwartungen des Lesers an Logik und Schlüssigkeit untererfüllt bleiben.

Die konkreten Nennungen, die Gleichnisse, Vergleiche und Paradigma in „Über das Marionettentheater“, die biblischen Bezüge, geschichtsphilosophischen und mathematischen Exkurse dienen nur zur Untermauerung der Position der die Parodie tragenden Antagonisten, die nicht nur „H.v.K“ und „C.“ oder Erzähler und Tänzer sind, sondern darüber hinaus Elemente der Kantischen Philosophie und im Dialog diegetisch exerzierte Akteure, die in dem Erzählten in ihrem Wesen Erklärung finden und sich selber in dem Gesprochenen spiegeln.

Um mich dieser Herangehensweise zu nähern werde ich im Weiteren zunächst die Kant - Krise Kleists aus der Sicht verschiedener Autoren darlegen, in dem darauffolgenden Kapitel die Rollen und Funktionen der beiden Gesprächspartner und ihren Bezug zueinander betrachten und mich im letzten Abschnitt dem Motiv der Nachahmung in seiner Kernfunktion der Schlussfolgerung der Ausweglosigkeit und des Scheiterns, dessen Erkennen und Anerkennen Kleist womöglich zum Verfassen des „Marionettentheaters“ veranlasste, widmen.

2. Kleist und Kant

Verschiedenen Autoren, die sich mit „Über das Maionettentheater“ auseinandergesetzte haben, zufolge zählten zu Kleists Lektüren des Jahres 1801 drei Werke damals wie heute bedeutender Philosophen: Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“15, Johann Gottlieb Fichtes „Die Bestimmung des Menschen“16 und Christoph Martin Wielands „Sympathien“17.

Kleists Biographie18 verzeichnet, dass der im Jahre 1801 Vierundzwanzigjährige seit August 1800 in Berlin weilte, um sich nach einem siebenjährigen Militärdienst und drei Studiensemester in Frankfurt a. O. auf einen vom König in Aussicht gestellten Zivildienst vorzubereiten. In Berlin traf er auf einen alten Bekannten aus dem Jahre 1796, Ludwig Brockes, der ihm ein „herrlicher Freund“ werden sollte, den er in einem späteren Brief19 (31.01.1801) an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge mit diesen Worten und in schillernden Farben beschreibt. Der Aufenthalt in Berlin wurde jedoch alsbald für mehrere Wochen von einer Reise unterbrochen, deren Zweck bis heute nicht geklärt ist und offensichtlich auch von Kleist selber im Dunkeln gelassen wurde. Die Reise umfasste die Stationen Dresden, Chemnitz, Bayreuth und Würzburg und erfolgte in Begleitung von Brockes. Eine der Theorien über den Grund der Reise ist die der Operation einer Phimose durch einen Würzburger Arzt20 - eine Möglichkeit, die im Weiteren zu der Absicht, eine Anstellung zu finden und damit die Ehe vollziehen zu müssen, verstärkend hinzugezählt werden kann, wenn auch der sich damit eröffnende Interpretationsaspekt für das „Marionettentheater“ eher in den Hintergrund tritt (und die Zweifelhaftigkeit eines solchen von Erich Heller bereits zu genüge belegt wurde). Eberhard Siebert 21 vertritt die These, dass die Reise dem Zwecke der Industriespionage diente, Dirk Grathoff22 vermutet den Versuch der Aufnahme in eine Freimaurerloge, Uffe Hansen23 wiederum ebenfalls einen medizinischen Grund, jedoch den einer Behandlung Kleists mit einer „magnetischen Kur“.

Kleist, der im Jahr 1801 nach damaligem Gesetz noch nicht volljährig war, sollte nach der Rückkehr von der Reise ein gesichertes Leben nach den Gepflogenheiten der Gesellschaft beginnen:

Angefangen mit dem Antritt eines Amtes hinführend zur Ehelichung seiner Braut Wilhelmine von Zenge, wobei Letzteres das Erste voraussetzte, und dementsprechend der Gründung eines Hausstandes und einer Familie.

Dass Kleist nicht gewillt war, diesem Plan zu folgen, ist mehreren seiner Briefe an die Braut Wilhelmine und die Schwester Ulrike zu entnehmen. Für diesen Widerwillen nannte er Gründe, welche heute als Ausdruck der laut Johannes Hoffmeister24 von der Wissenschaft zu lange ernst genommenen Kant - Krise gelten.

Die Kant- Krise selber ist in Kleists Korrespondenzen belegt und umfasst nur einen Rahmen von sechs Briefen zwischen dem 31.01.1801 und dem 09.04.180125. Alle davor von Kleist beschriebenen Gefühlslagen, Überlegungen und Absichten sind nicht in direkten Zusammenhang mit der Kant- Krise zu bringen sondern stellen eine allgemeine Krise dar, die sich von den Beweggründen und Zielsetzungen der Kant- Krise vollkommen unterscheiden. Die nach dem hinteren Rahmendatum entstandenen Briefe stellen die Krise bereits selber wieder in Frage und schwächen sie ab. Auch den Brief vom 31.01.180126 fasse ich nur deswegen in den Zeitraum der Kant- Krise, da er mit dem geschilderten Fortgang und Amtsantritt Ludwig von Brockes den Stein des Anstoßes für Kommendes und statt „Krise“ „Kant - Krise“ genanntes enthalten könnte.

Da jedoch die Analyse der Briefe nicht Gegenstand dieser Arbeit sein soll, möchte ich auf vorgefundene Rezeptionen der Kant - Krise eingehen.

Die Krise kann auf drei verschiedenen Pfaden nachvollzogen werden: Man kann sie als tatsächliche, existenzielle Krise Kleists verstehen, der durch die Kantische Philosophie in eine Depression gestürzt wurde, als ein geschicktes Pokerspiel und eine berechnend geleitete Persuasion, um gegenüber Braut und Schwester seinen (Un-) Willen zu Amt und Ehe durchzusetzen oder als eine Krise, die zwar vorhanden, aber nicht durch die Kant - Lektüre gespeist war, aber dennoch der Begründung bedurfte und von Kleist diese über den Vorwand einer Kant - Krise erhielt.

Auch wenn eine derart klare Abgrenzung weder realistisch noch möglich ist, möchte ich versuchen, sie hier beizubehalten um Übersichtlichkeit zu gewähren.

Einer der größten Vertreter der Theorie einer tatsächlichen Kant - Krise Kleists ist Ernst Cassirer27. In seiner Schrift „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“ führt er über mehrere Briefe Kleists den Beweis, dass Kleists Kant- Lektüre, unterstützt und zur Eruption gebracht von Johann Gottlieb Fichtes „Bestimmung des Menschen“, den bisherigen Wahrheits- und Seinsbegriff Kleists tief erschütterte und er sich der Kantischen Lehre „mit der ganzen Kraft und Leidenschaft, mit der ganzen persönlichen Energie seines Wesens widersetzt hat“28.

Wolfgang Binder berichtet in seinem Beitrag „Ironischer Idealismus- Kleists unfreiwillige Zeitgenossenschaft“29 über Kleists Lebensphilosophie vor dem Kontakt mit den Kantischen Theorien vor allem in Bezug auf den von Kleist verfassten Aufsatz „Den sicheren Weg des Glücks zu finden und ungestört - auch unter den grössten Drangsalen des Lebens- ihn zu genießen“30. Dort definiert Kleist das „Glück der Tugend“ als in „dem erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit unseres eigenen Wesens“31 bestehend, das Erlangen „moralischer Schönheit“ also als erstrebenswert.

Ludwig Muth32 belegt zudem33 anhand von zwei Briefen Kleists aus dem Jahre 1801 (22. März und 28. Juli , an Wilhelmine von Zenge und an Adolphine von Werdeck)34, dass diesem Wielands aufklärerische Schrift „Sympathien“ aus dem Jahre 1758 sehr vertraut war35 und zu seinem Gedankengut auf Basis dieser die Überlegung zählte, dass „die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung wäre“35. Auf Ähnliches stößt man in Briefen aus den Jahren 1800 und 1801 (10. (11.) 10. und 25.11.1801 und 11. (12.) 1.1801)36 und abermals im „Aufsatz, den sicheren Weg des Glücks zu finden und ungestört- auch unter den grössten Drangsalen des Lebens- ihn zu genießen“. Diese Quellen lassen annehmen, dass Kleist in der Überzeugung lebte, der Mensch habe ein Ziel und einen Zweck, dessen Erreichen erkennbar und als Wahrheit unanfechtbar sei, beziehungsweise dass der Weg zu diesem Ziel mit Wahrheit gepflastert, also über zweifellos wahres Wissen zu erklimmen wäre. Über verschiedene Ziele und Zwecke seines Lebens äußert sich Kleist auch in seinen Briefen unverhohlen.

Nachvollziehbar ist, dass die zielorientierte Auffassung der Aufklärung, der Tugend und Vervollkommnung als objektive Begriffe galten, mit der Kantischen Philosophie nicht vereinbar waren.

Nach Ludwig Muth war es vor allem Kants „Kritik der Urteilskraft“ und von dieser der zweite Teil „Kritik der teleologischen Urteilskraft“, der von Kleist im Jahre 1801 gelesen wurde37 und in der in den Briefen an Braut und Schwester geäußerten Krise38 gipfelte.

Da Kleist schon zuvor mit anderen Schriften Kants in Berührung kam und erst zu diesem Zeitpunkt nachweislich das erste Mal die „Kritik der Urteilskraft“ studierte, bringt Muth die Krise eindeutig mit diesem einen Werk Kants in Zusammenhang.39

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Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Nachahmung als Motiv in Heinrich von Kleists "Über das Marionettentheater" unter dem Blickwinkel seiner Kant-Krise von 1801
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
25
Katalognummer
V352736
ISBN (eBook)
9783668389120
ISBN (Buch)
9783668389137
Dateigröße
513 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heinrich von Kleist, Marionettentheater, Immanuel Kant, Kant-Krise, Nachahmung
Arbeit zitieren
Ingeborg Morawetz (Autor:in), 2012, Nachahmung als Motiv in Heinrich von Kleists "Über das Marionettentheater" unter dem Blickwinkel seiner Kant-Krise von 1801, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352736

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