Das Erlabrunner Konzept der Regulativen Musiktherapie nach Schwabe


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2017

25 Seiten


Leseprobe


MR Dr. med. Helmut Röhrborn begann seine internistische Facharztausbildung am 04.11.1968 in den Medizinischen Kliniken des Bergarbeiterkrankenhauses Erlabrunn. Ab 01.12.1975 wurde er von der Abteilung Innere Medizin in die Abteilung Psychotherapie des Bergarbeiterkrankenhauses versetzt. Am 01.01.1979 übernahm er die Leitung der „Klinik für funktionelle Erkrankungen“ als Chefarzt. Am 04.12.1980 absolvierte er die zweite Facharztprüfung zum Facharzt für Psychotherapie. Er war bis 31.07.2007 Chefarzt der „Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik“ der Kliniken Erlabrunn gGmbH.

Gemeinsam mit Christoph Schwabe und dem Team der Klinik entwickelte Helmut Röhrborn vorwiegend in den 1980er- / 1990er-Jahren ein in Fachkreisen hoch akzeptiertes, geschlossenes Gruppenkonzept der Regulativen Musiktherapie, welches bis heute in der „Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik“ Anwendung findet.

Inhaltsverzeichnis

1. Implementierung der Regulativen Musiktherapie (RMT) nach Schwabe in der „Klinik für Funktionelle Erkrankungen“ des Bergarbeiterkrankenhauses Erlabrunn.. 4

2. Erlabrunner Psychotherapie - Historisches.. 7

3. RMT - Konzept und methodologische Fragen der Psychotherapie.. 10

3.1 RMT und der „Zugang zum Patienten“.. 12

3.2 Regulieren im musikalischen Wahrnehmungsraum und die Technik des „akzeptierenden Wahrnehmens“.. 13

3.3. Didaktik und Methode der Erlabrunner RMT- Konzeption.. 15

4. Erlabrunner RMT- Konzept / Quo vadis?.. 19

5. Perspektiven – Tempus fugit.. 21

6. Literatur.. 24

Autor.. 25

1. Implementierung der Regulativen Musiktherapie (RMT) nach Schwabe in der „Klinik für Funktionelle Erkrankungen“ des Bergarbeiterkrankenhauses Erlabrunn

Musiktherapie in Ostdeutschland war und ist verbunden mit dem Namen Doz. Dr. phil. habil. Christoph Schwabe. Seine genialen Ideen und seine umfassende konzeptionelle Arbeit zur Musiktherapie finden seit Ende der 1950er-Jahre in vielen Feldern der Psychotherapie bis in die heutige Zeit hinein ihre Anwendung.

Die Wurzeln der RMT gehen bis Anfang der 1960er-Jahre zurück. 1969 benannte Christoph Schwabe den in der Leipziger Psychotherapieklinik entwickelten rezeptiv-wahrnehmungsorientierten therapeutischen Zugang in Anwendung von Musik in der Psychotherapie „Regulative Musiktherapie“. Anfang der 1970er-Jahre wurde in der Methodenausdifferenzierung die RMT auch schon in der Dyade und als Gruppentherapie angewandt (Geyer, 2011, S. 539). Das Missverständliche in der Begrifflichkeit der „Regulation“ sollte diese Therapiemethoden seit Konzipierung über die gesamte Zeit begleiten. Der Kern der RMT besteht nicht im „Regulieren“, sondern in einer spezifischen, übenden Wahrnehmungshaltung, mit der psychophysische Prozesse angeregt werden sollten (Geyer, ebenda).

Musiktherapie, auch die RMT, wurde so in ihren Anfängen im Grunde als Zusatz- oder Ergänzungstherapie zu den legitimierten Konzepten der psychotherapeutischen Gruppen- oder Einzeltherapie in Ostdeutschland verstanden. Die Vorläuferstadien der RMT im Speziellen waren auf das „Regulative“ im engeren Sinne, dem harmonisierenden Ausgleich der seelischen Befindlichkeiten orientiert. So befanden sich die Vorläufer der RMT auf einem Niveau, gemeinsam mit der künstlerischen Gestaltung, der Bewegungs- und Entspannungstherapie usw. Sie hatten das Ziel, mit der Entwicklung von Kreativität, der sensorischen und Körpererfahrung, der Entspannungsfähigkeit usw. psychotherapeutische Prozesse zu unterstützen und zu ergänzen.

Die Zusammenarbeit von Christoph Schwabe mit Helmut Röhrborn mündete Anfang der 1980er-Jahre beginnend in ein tiefenpsychologisch fundiertes Konzept der RMT als Gruppenpsychotherapie . Dieses Konzept wurde dann ab Anfang der 1980er-Jahre eine wesentliche Säule der psychotherapeutischen Arbeit der Klinik.

Viele MitarbeiterInnen der Klinik waren in die Entwicklung dieses Erlabrunner RMT-Konzeptes involviert. Stellvertretend benannt vor allem Frau Christl Berger (Fachärztin für Innere Medizin/Psychotherapie), Frau Maria Kunz (Physio- und Bewegungstherapeutin), später dann Frau Diplom-Psychologin Sylvia Blühm (1996 verstorben) u.a. Der Verfasser selbst hatte die Gelegenheit von 1983 bis 1990, anfangs noch als Student, ab 1985 als Diplom-Psychologe in der Klinik, an der Konzeptentwicklung der RMT hauptsächlich zur Effekt- und Verlaufsforschung mitzuwirken. Der strukturierte Gruppenverlauf, das Phasenmodell, die wahrnehmungsorientierte Arbeit, hauptsächlich mit psychosomatischen, in der Regel aber konflikt- und psychogeneseabwehrenden Patienten, war faszinierend und effektvoll, wie die katamnestischen Untersuchungen in dieser Zeit zeigten.

Helmut Röhrborn war immer Förderer und Ideengeber zugleich, dies immer auch vor dem Hintergrund der Leitung des „Alltagsgeschäftes“ einer Klinik im Grundversorgungsmodus für die Bergarbeiter und die Patienten des Einzugsgebietes.

Die - wie bereits mehrfach benannt - ursprünglich eher rezeptive Arbeit mit Musik wurde in diesem Erlabrunner Konzept der RMT mit einem strukturierten sechsstufigen Wahrnehmungstraining zu einem eigenständigen wahrnehmungsorientierten Zugang zur Behandlung verschiedenster psychischer Störungen im geschlossenen Gruppensetting entwickelt. Historisch betrachtet, entwickelte sich diese Konzeption der RMT klinikintern immer im Widerstreit zu einer weiteren, hier bereits etablierten tiefenpsychologisch fundierten gruppenpsychotherapeutischen Konzeption der „Intendiert Dynamischen Gruppenpsychotherapie“ (IDG), einer psychodynamischen DDR-Adaption nach Kurt Höck (1920 - 2008).

Die Anfänge dieses Gruppentherapieansatzes der IDG fallen auf das Jahr 1956. In den Anfangsjahren der 1980er-Jahre war diese Konzeption der IDG ausgereifter als die RMT, ein gut organisiertes Ausbildungssystem mit Kommunitäten war bereits etabliert. Gruppendynamik war der „Boom“ der damaligen Zeit, im elitären Selbstverständnis deren Vertreter. Die Konzeption der RMT als tiefenpsychologisch orientierte Gruppenpsychotherapie hatte es in den Anfängen insofern nicht leicht.

Es war das Verdienst von Helmut Röhrborn, der selbst im Verfahren der IDG als Therapeut ausgebildet war, auch Kraft seiner positionellen Strukturwirkung, diesen aus meiner Sicht schöpferischen, klinikinternen Widerstreit, welcher die Rivalität beider Konzepte im Mikroklima widerspiegelte, durch eine klare Systematik der Indikation und Intervention zu strukturieren. Die Gruppendynamik einerseits, das wahrnehmungsorientierte Trainieren andererseits eröffnete ein breites, zugleich störungsspezifisches Gruppentherapieangebot. Mit einem von ihm so bezeichneten übergeordneten psychotherapeutischen Konzept und einem Methodensystem [„Kausalitätsbedingungen psychotherapeutischen Handelns“ (Schwabe & Röhrborn, 1986)] wurde das Kausalitätsprinzip der Gruppenpsychotherapie von Christoph Schwabe (1983) modifiziert.

Diese beiden tiefenpsychologisch fundierten, gruppenpsychotherapeutischen Konzepte und ihre Methodik boten die Möglichkeit, den Therapiezugang für die Patienten anhand konkreter ätiopsychopathogenetischer Diagnosekriterien, insofern nach differenzierten Indikationen bzw. dann Interventionsmethoden: beziehungsorientierter Zugang (IDG) und wahrnehmungsorientierter Zugang (RMT) umzusetzen.

Insofern war die RMT von Anfang an eine von mehreren psychotherapeutischen Methoden der Klinikarbeit. Die Erlabrunner Psychotherapie-Klinik wartete unter der Leitung Helmut Röhrborns bis zu seinem Ruhestand 2007 mit einem breiten und differenzierten, hochqualitativen Psychotherapieangebot auf. Nicht nur die beiden Gruppenpsychotherapien, sondern auch vielfältige andere Methoden tiefenpsychologischer und verhaltenstherapeutischer Einzeltherapien, Katathymes Bilderleben, Kommunikative Bewegungstherapie (nach Wilda-Kiesel), psychotherapeutisch orientierte Physiotherapie, suggestive Methoden, Hypnose, Entspannungstherapien (Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation), selbstreflexive Arbeit in der sogenannten und von Helmut Röhrborn installierten „Besinnlichen Stunde“ (basierend auf Harro Wendt, Leipzig) oder den weiteren praktizierten rezeptiven und aktiven musiktherapeutischen Techniken, kamen zur Anwendung.

Der Psychotherapiebedarf war auch in Ostdeutschland enorm, längere Wartezeiten gehörten hochwahrscheinlich zum Bild der psychotherapeutischen Versorgung. Die zuerst 22 Betten der sogenannten „Station 22“ (Klinik für Funktionelle Erkrankungen) wurden dann auf 27 Betten erweitert, mit Stand 2006 (50. Jubiläum der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik) dann auf mehrere Stationen und 63 Betten unter der Leitung von Helmut Röhrborn ausgebaut.

Nicht zuletzt waren zwei weitere Faktoren wesentlich für die hervorragende Qualität psychotherapeutischer Arbeit der Klinik:

- die Einbindung der Klinik in ein Grundversorgungskrankenhaus, der kooperative Zugang zu somatischer Diagnostik und Therapie in einem weitläufigen und im Grunde naturbelassenem Krankenhausgelände, jenseits von einengendem Beton und langen Krankenhausfluren;

- die relative personelle Konstanz, die „Sesshaftigkeit“ der Psychotherapeut­Innen, die damit im Zeitverlauf auf eine langjährige, insbesondere für die Gruppenpsychotherapie unerlässliche Erfahrung und intuitive Abstimmung der Therapeutenrollen im Gruppenprozess zurückgreifen konnten.

2. Erlabrunner Psychotherapie - Historisches

(ergänzte Zusammenfassung der Festschrift zum 50. Jubiläum)

Wir Menschen neigen oft dazu, die Vergangenheit zu idealisieren. Idealisierung ist psychologisch betrachtet eine Form der Attribution. Attributionen, sehr verallgemeinert, beschreiben, wie Menschen rational Informationen gewinnen und bewerten, um sich Zusammenhänge in der Interaktion mit der Umwelt zu erklären. Idealisierungen dienen in der Regel dazu, Verhalten, Erinnerungen von und an Personen, Situationen u. ä. oft bis ins Unrealistische zu überhöhen.

Behauptet wird, dass man die Vergangenheit umso mehr idealisiert, je negativer man die Gegenwart erlebt. Die „gute alte Zeit“ gerät damit häufig in einen melancholisch verklärten Blick. „Früher war alles anders, besser“ impliziert oft auch die Neigung, auf Altem zu verharren, die Unwilligkeit für Veränderungen.

Insofern ist das Konstrukt der Idealisierung der Vergangenheit meist mit einer negativen Tonation behaftet. Inwieweit die Idealisierung der Vergangenheit auch realistisch sein kann, wird immer nur am konkreten Beispiel nachvollziehbar und beweisbar sein.

Ein solches Beispiel ist die psychotherapeutische Innovationskraft der Erlabrunner Psychotherapie-Klinik beginnend in den 1950er-Jahren des vorigen Jahrhunderts bis in die erste Dekade der 2000er-Jahre hinein:

Die Erlabrunner Psychotherapie-Klinik schreibt insofern Geschichte, da sie zu einer der ersten stationären Psychotherapieeinrichtungen Deutschlands zählte. Die Psychotherapieabteilung am Alexanderplatz (später Haus der Gesundheit, Berlin) wurde 1949 gegründet. In Tiefenbrunn bei Göttingen entstand 1949 das Krankenhaus für Psychotherapie und Psychosomatik. Die Klinik Wittgenstein in Bad Berleburg konstituierte sich 1950 als Krankenhaus für psychosomatische, psychoanalytische und sozialpsychiatrische Medizin (Zaudig, 2004). In Sachsen war es 1953 die Psychotherapie-Abteilung der Universitätsnervenklinik Leipzig.

Das Bergarbeiterkrankenhaus wurde 1951 als erster Krankenhausneubau in der damaligen DDR gegründet. Ein „Vorläuferkrankenausbau“ bestand schon seit 1949. Der Neubau diente in erster Linie dem wachsenden Versorgungsbedarf der Bergarbeiter und deren Familien, welche für die Wismut AG arbeiteten. In der Wismut AG, ab 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone, später dann in Ostdeutschland als Folge des 2. Weltkrieges, deutscher Reparationsleistungen und des atomaren Wettstreites, erfolgte der systematische Raubabbau vorwiegend radioaktiver Bodenschätze des Erzgebirges. Tausende Menschen waren damals in der Wismut AG beschäftigt und folgten unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg zum Teil zwangsverpflichtet, dem sogenannten „Berggeschrey“.

1955 entstand in diesem Bergarbeiterkrankenhaus Erlabrunn, mitten im beschaulichen Erzgebirge, eine kleine Psychotherapieabteilung innerhalb der 1. Medizinischen Klinik. Der damalige Chefarzt OMR Dr. med. W. Mährlein hatte, für die spätere Psychotherapie vor Ort maßgeblich, die Weitsicht, eine Pawlow-Station zu eröffnen.

Die Psychotherapie, damals als „noch junge Disziplin“ im engen Netz biomedizinischer Perspektiven, basierte in Ostdeutschland auf Ideen des russischen Mediziners, Physiologen und Verhaltensforschers I. P. Pawlow. Mit der Pawlow-Konferenz 1950 in Moskau begann die sogenannte Pawlow-Welle in Ostdeutschland. Die Pawlow-Konferenz 1954 besiegelte fast den Untergang tiefenpsychologisch-psychoanalytischer Ansätze in Ostdeutschland. Sogenannte „Pawlow-Kliniken“ gab es auch später an anderen Standorten, zum Beispiel, nicht weit von Erlabrunn entfernt, in Augustusburg, in der Nähe des damaligen Karl-Marx-Stadt. Ein besonders durch politische Ressentiments reduziertes Verständnis von Psychopathologie und Psychotherapie auf naiv-organologische, reflexfixierte Konzepte beeinflusste die Arbeit. Noch heute ist für viele Menschen in Erlabrunn die „Schlaftherapie“, quasi die „Entspannungszentrale“, wo durch Autogenes Training, Hypnose usw. „Heilung“ erfolgt. Tiefenpsychologische, also retrospektiv-psychodynamisch arbeitende Methoden, weil der verpönten Psychoanalyse nahe, waren im marxistischen Denkduktus zu idealistisch, zu kapitalistisch. Man folgte anfangs insofern zwangsläufig eher dem sowjetischen Bruderverständnis von behavioralen Konditionierungsmodellen. Erste Anfänge der Gruppenpsychotherapie jenseits des Pawlow-Mythos gehen ab ca. 1956 auf Kurt Höck (siehe oben) in Berlin und Harro Wendt (1918 - 2006), damals in Leipzig tätig, zurück. Mit der Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR 1960 begann in Ostdeutschland auch die Tiefenpsychologie wieder zu leben.

Schon damals war der Trend der Psychotherapie in Ostdeutschland auf „Deck- oder Tarnbezeichnungen“ ausgerichtet, welche dann aber nach der politischen Wende 1990 insbesondere für tiefenpsychologische/psychodynamische Ansätze zu desaströsen Folgen führten, dies bezogen auf die Verwehrung der Anerkennung ostdeutscher Therapiemethoden als sogenannte Richtlinienverfahren westlicher Kassenversorgung.

Da die o. g. Erlabrunner Innovationskraft zuvorderst an Personen gebunden war, verband sich die Gründung der Psychotherapie in Erlabrunn mit dem Namen Dr. phil. habil. Siegfried Schnabl (als Psychologe bis 1972 in Erlabrunn tätig; Sexualforscher, Aufklärer und Verfasser vieler wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Artikel und Schriften, verstorben 2015). Siegfried Schnabl übernahm am01.01.1956 die Leitung dieser Station. Dr. rer. nat. Horst Schirbock (Fachpsychologe der Medizin) begründete ab 1963 als Stellvertreter von Siegfried Schnabl die Psychotherapie in Erlabrunn grundlegend mit. Ab 1972 war er als Leitender Psychologe tätig. Er arbeitete bis 2003 in der Klinik. Siegfried Schnabl und Horst Schirbock gelten insofern als „Pioniere“ der Psychotherapie in Erlabrunn.

Soweit recherchierbar, arbeiteten Siegfried Schnabl und Horst Schirbock bis 1972 im Schutz der Medizinischen Klinik „in aller Stille“ (Röhrborn, 2006) und entwickelten nach und nach ein eigenständiges Psychotherapiekonzept. Verbunden mit der Medizinischen Klinik, insbesondere in Zusammenarbeit mit jungen Ärztinnen und Ärzten, die dann später in die psychotherapeutische Arbeit wechselten, wurde dieses Konzept weiter ausgebaut.

1972 kam es dann zur Gründung einer eigenständigen psychotherapeutischen Abteilung im Bergarbeiterkrankenhaus Erlabrunn unter der ersten Chefärztin Frau MR Dr. med. Margita Janke (bis 1979 in der Klinik). Den Berichten nach, erfolgte diese Gründung unter besonderen Umständen. Frau Margita Janke dazu in ihrem Grußwort in der Festschrift zum 50. Jubiläum der Klinik 2006 auf Seite 8: „Die Generaldirektion der Sowjetisch Deutschen Aktiengesellschaft und die Sozialversicherung der Industriegewerkschaft beabsichtigten die Liquidation der Station, da die ausgeübte „Schlaftherapie“, aber auch die vom leitenden Psychologen Dr. Schnabl für die DDR bedeutende wissenschaftlich begründete sexuelle Aufklärung, nicht für die gesundheitlichen Betreuung der Bergarbeiter notwendig sei. Der Leitung des Krankenhauses war die wachsende Bedeutung der Psychotherapie klar. Sie setzte sich bei ihrer übergeordneten Leitung der Wismutdirektion des Gesundheitswesens Wismut für den Erhalt ein. Diese forderte daraufhin einen klinischen Bereich, der ärztlich geleitet, nach neuesten Erkenntnissen der Psychotherapie arbeitet und der Grundversorgung der Bergarbeiter und der Bevölkerung im Einzugsgebiet gerecht wird.“ Hochwahrscheinlich auch politisch motiviert war die folgende Notwendigkeit zur „Tarnbezeichnung“. Diese Psychotherapieabteilung wurde nicht, wie dann später nach der Wende 1991, als „Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik“ benannt, sondern als „Klinik für funktionelle Erkrankungen“. Man umschiffte quasi nicht nur die im biomedizinischen Spektrum damals abgelehnte Begrifflichkeit der „Psychosomatik“, sondern auch die für Menschen stigmatisierte Begrifflichkeit der „Psychotherapie“ in ihrer vermeintlichen Nähe zur Psychiatrie. Zudem waren „funktionelle Erkrankungen“ in damaligem Verständnis nach dem reflexiologischen Konzept von Pawlow nachvollziehbarer. Das passte dann wohl besser in die Wismut-Ideologie.

Mit der Gründung der eigenständigen psychotherapeutischen Abteilung kam es dann zu einer rasanten Entwicklung der psychotherapeutischen Arbeit, was sich auch im personellen Ausbau widerspiegelte: Mitte der 1970er- bis Mitte der 1990er-Jahre war Frau OÄ Dr. med. Elke Kuhfahl (Fachärztin für Innere Medizin und Fachärztin für Psychotherapie) tätig. Sie war anfangs die erste Oberärztin der Abteilung. Als Frau Elke Kuhfahl dann in den Schwangerschaftsurlaub ging, übernahm 1975 Helmut Röhrborn die Stelle als erster Oberarzt.

Ab 1979 bis zum Ruhestand im Jahr 2013 arbeitete Frau Christl Berger (Fachärztin für Innere Medizin/Psychotherapie) in der Klinik. Später dann ab Mitte der 1990er-Jahre, als Elke Kuhfahl nach Dresden wechselte, war sie die erste Oberärztin.

Federführend unter Horst Schirbock wurde mit den sogenannten „Diagnostikschwestern“ Ursula Hoffmann und Helena Tuchscherer das Psychodiagnostische Labor aufgebaut, was eine große Bandbreite an differenzierter psychologischer Diagnostik ermöglichte.

Die personellen Therapeutenbesetzungen der beiden o. g. Gruppenpsychotherapien erfolgte in diesen Jahren wechselnd und in der Regel bedarfsorientiert, jedoch etablierten sich Horst Schirbock und Elke Kuhfahl über die Jahre vorwiegend in der Intendiert Dynamischen Gruppenpsychotherapie und entwickelten sie in der Klinik maßgeblich weiter.

Ab 1990, also mit der politischen Wende, gab es dann in Folge auch mit dem Bettenausbau viele personelle Zu- und Abgänge sowohl psychologischer TherapeutInnen als auch ärztlicher TherapeutInnen. Das Team der, wie heute bezeichnet, Gesundheits- und KrankenpflegerInnen blieb in Relation dazu über die Jahre konstanter, da sie mit ihren Familien in der Umgebung wohnten.

3. RMT - Konzept und methodologische Fragen der Psychotherapie

Helmut Röhrborn war ein Chefarzt, der die Klinik nicht nur verwaltete. Da der psychotherapeutische Versorgungsbedarf heute, wie gestern groß ist, fehlte und fehlt es nie an Patienten. Die Abarbeitung von Behandlungsfällen, bei dem „Überangebot“ an Patienten, war aber nicht der Maßstab psychotherapeutischer Arbeit. Der Verdienst von Helmut Röhrborn und des Teams war es besonders, die Klinik konzeptionell weitergebracht zu haben, neue Ideen entwickelt, umgesetzt und installiert zu haben.

Mit dieser Schrift als Nachtrag zum 60. Jubiläum der Klinik steht die Würdigung der Arbeit vom Helmut Röhrborn im Mittelpunkt, der 32 Jahre die Qualität, Professionalität bestimmte und so den „guten Ruf“ der Klinik prägte. Besonders hervorhebenswert waren seine innovativen Leistungen und sein wissenschaftliches Engagement, zum Beispiel:

- in der Konzipierung der RMT als tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie,

- in der Konzeptentwicklung der „Kausalitätsbedingungen psychotherapeutischen Handelns“ (Röhrborn & Schwabe, 1986),

- in der Entwicklung der Methodologie der Psychotherapie, welche die RMT als symptomzentriertes Psychotherapiekonzept impliziert.

Die Entwicklung der RMT in Erlabrunn war von Beginn an mit der Arbeit zur konzeptionellen und methodischen Verortung dieser Therapiemethode in der Klinik, der Richtungssuche in der Behandlung psychosomatischer Störungen verquickt. Christoph Schwabe hatte mit dem Kausalitätsprinzip der Gruppenpsychotherapie (Schwabe, 1983) die Grundlagen für die theoretische und methodologische Herangehensweise gelegt. Die strukturelle und methodologische Ordnung von Handlungsansatz und Handlungsziel, dem Handlungsprinzip und den Handlungsmitteln für die Bestimmung und Ausdifferenzierung gruppentherapeutischer Methoden ging einher mit der Etablierung und Weiterentwicklung der RMT als Gruppenpsychotherapie (Schwabe S. 29, in Schwabe & Röhrborn, 1996). Der bereits oben genannte, vorwiegend gruppendynamisch ausgelegte „Gruppenpsychotherapieboom“ verlangte demnach eine konzeptionelle und methodische Ordnung der Gruppenpsychotherapie, die Christoph Schwabe entwickelte. Die RMT als Gruppenpsychotherapie orientierte sich, diesem Kausalitätsprinzip folgend, zuvorderst am wahrnehmungsorientierten Trainingsprinzip der RMT. Gruppendynamische Prozesse wurden nicht außen vor gelassen, jedoch im Interesse der Umsetzung des Trainingsprinzips für den einzelnen Patienten im Gruppenprozess gesteuert. Die Zielstellung der RMT als Gruppenmethode in der Psychotherapieklinik der Universität Leipzig, später dann auch in der Klinik Erlabrunn war in dieser Zeit der späten 1970er im Schwerpunkt immer noch die „psychophysische Regulierung“, jedoch begann man bereits schon konfliktbesetzte Wahrnehmungsbereiche zu bearbeiten (Schwabe S. 28, in Schwabe & Röhrborn, 1996).

1978 lernte Helmut Röhrborn Christoph Schwabe auf einer Tagung in Dresden kennen. Ab dieser Zeit begannen Christoph Schwabe und Helmut Röhrborn zusammenzuarbeiten. Es muss wohl die intensive Beschäftigung mit der Emotionalität im Zusammenhang mit psychischen, insbesondere psychosomatischen Krankheiten ohne die sofortige psychodynamische Auseinandersetzung in der Gruppe gewesen sein, die Helmut Röhrborn an der RMT faszinierte (Geyer 2011, S.538). Es war sicher auch der Kontrast zur IDG nach Höck, die allein über psychodynamische Gruppenarbeit, insbesondere neurotisch und strukturell bedingte Selbst- und Beziehungsregulationsstörungen bearbeitete. Der Behandlungsbedarf der „Klinik für funktionelle Erkrankungen“ lag aber damals hochprozentig vorwiegend im Bereich der psychosomatischen Erkrankungen (Röhrborn & Hofmann, 1989).

Es handelte sich also um Patienten mit einer hohen Konfliktabwehr, einer starken Fixierung auf ihre Symptome und auf organische Ursachen ihrer Erkrankung. Eine psychodynamische Bearbeitung, dies zudem im Gruppensetting, war für diese Patienten per se nicht möglich. Jede Psychotherapeutin und jeder Psychotherapeut kennt das Phänomen, dass, wenn auch seelische Konflikte quasi noch so eindeutig scheinend im Zusammenhang mit somatoformen Störungen stehen, kein Argument, keine Überredung und selten Suggestion, auch wenn noch so überzeugend, die Patienten zur erhofften „Einsicht“ in Zusammenhänge der Symptomauslösung und Symptomunterhaltung befördern kann.

Helmut Röhrborn sah hochwahrscheinlich in der RMT und in ihr auch mit dem Schwabe´schen Kausalitätsprinzip im methodischem Herangehen einen Zugang zu diesen Patienten und die Etablierungsmöglichkeit in der Klinik. Dazu war aber eine Art Modifizierung der RMT vom allein regulierenden Verständnis hin zu einem Vorgehen notwendig, das nicht allein auf Entspannungs- und Harmonisierungseffekte abzielte, wie es die RMT bis dahin vorwiegend anstrebte, sondern den Prozess, welcher die „Einsicht“ in die Ursachen und die Bedingungsfaktoren der Symptome (der Krankheit) zur Zielstellung hatte.

Der Patient muss dadurch einen Weg vom Erleben des Symptoms, dem Erleben der körperlichen Beeinträchtigung, zum Erkennen seiner seelischen Probleme finden (Röhrborn S. 37, in Schwabe & Röhrborn, 1996).

Wann immer auch Helmut Röhrborn dieser Gedanke kam, und inwieweit dies im Austausch mit Christoph Schwabe erfolgte, ist dem Verfasser unbekannt.

Es war der Beginn der Konzipierung der Erlabrunner RMT als tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie.

Parallel zum tiefenpsychologisch fundierten Konzept der RMT war es aber auch notwendig, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch beschleunigt durch den klinikinternen Widerstreit im Mikroklima mit der IDG, der Verfasser nannte ihn weiter oben „schöpferisch“, insbesondere in den Gründerjahren für diese tiefenpsychologisch fundierte RMT-Konzeption, eine klare Indikationslinie für die Klinikarbeit zu entwickeln. Dies war für Helmut Röhrborn anfangs möglicherweise rein pragmatisch motiviert.

Auch wenn Indikation manchmal als (Vor-) Selektion gesehen wird, ist der klinisch-diagnostisch orientierte Erkenntnisprozess zweifelsfrei der erste Schritt zur psychotherapeutischen Interventionsplanung.

Helmut Röhrborn setzte sich mit den gängigen Interventionskonzepten, insbesondere methodologisch mit den Zielstellungen der Interventionsklassifizierung in dieser Zeit auseinander (Röhrborn S. 37 f, in Schwabe & Röhrborn, 1996). Aus der somatischen Medizin waren die Begrifflichkeiten „kausal“ und „ symptomatisch“ bekannt, insofern die Therapie der Ursachen und/oder die Linderung der Symptome, ohne die Ursachen zu bekämpfen, gemeint war, wurde diese Begrifflichkeit auch auf die Psychotherapie transferiert. In einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis ist diese Herangehensweise aber obsolet. Mit dem Verständnis der Paradigmen der Äquifinalität und Äquikausalität (Scroufe & Rutter, 1984), insofern der Unspezifität der Symptome, kann von einer linearen und wohl definierten Ursache-Wirkungslinie psychischer und psychosomatischen Störungen nicht ausgegangen werden. Die psychoanalytisch geprägte Begrifflichkeit der „aufdeckenden“ (kausal) und „zudeckenden“ (symptomunterdrückenden) Psychotherapie ändern, an diesen Paradigmen gemessen, wenig. Durch Höck (1981) waren in Ostdeutschland die kategorisierenden Begrifflichkeiten der „persönlichkeitszentrierten“ und „symptomzentrierten“ Psychotherapie bekannt. Die persönlichkeitszentrierten Psychotherapien waren auf die Veränderung von Persönlichkeitsfaktoren ausgerichtet, insofern auch mit einem „aufdeckenden“ Verständnis versehen. Die symptomzentrierte Psychotherapie war in diesem Verständnis auf die unmittelbare Veränderung der Symptome ausgerichtet, meist mit der „symptomunterdrückenden“ Assoziation, ohne die „dahinterstehenden“ Persönlichkeitsfaktoren maßgeblich zu beachten. Diese bikategoriale Systematik führte damals zu einer subtilen Abwertung der symptomzentrierten Verfahren gegenüber den „richtigen“ persönlichkeitszentrierten Psychotherapien und unterstützte diese bereits oben benannte elitäre Befindlichkeit der IDG-Therapeuten.

3.1 RMT und der „Zugang zum Patienten“

Helmut Röhrborn beschreibt die RMT im Kanongrundlegender psychotherapeutischer Grundkonzepte als symptomzentriertes Psychotherapiekonzept. Dabei differenziert er in seinem Modell der Grundkonzepte, neben der symptomzentrierten Psychotherapie, noch in die persönlichkeitszentrierte Psychotherapie und die systemzentrierte Psychotherapie. Die Anlehnung an das damals gängige Psychotherapiemuster „persönlichkeitszentriert“ und „symptomzentriert“ wird deutlich. Nach der politischen Wende war im gesamtdeutschen Psychotherapiepool eine begriffliche Korrektur notwendig. Allein nur die Propagierung der vom Pool abweichenden Denkstruktur und des inversiven Begriffsverständnisses reichte demnach offenbar für einen lang anhaltenden Bestand dieser Theoriebildung nicht aus.

Das Geniale, gleichwohl Tragische an dieser hermeneutischen Theoriebildung ist, dass nicht die Person, das Symptom und das System das Ziel der psychotherapeutischen Intervention sind, sondern der Zugang (!), über welchen die Psychotherapie in ihrer Methodenwahl hin zum Ziel, zur wie auch immer gearteten „Heilung“ führt. Nach Schwabe´s Kausalitätsprinzip handelt es sich bei dem symptomzentrierten Psychotherapiekonzept der RMT um den „ Handlungsansatz“, den therapeutischen Ansatz am Symptomerleben:

„Gerade dann, wenn sich ein Patient (der Verfasser) der Wahrnehmung seiner Symptome öffnen kann, werden auch die mit den Symptomen in Zusammenhang stehenden Gefühle, Erinnerungen, Abwehrvorgänge deutlich (Röhrborn S. 37, in Schwabe & Röhrborn, 1996).

Dieser in den „Kausalitätsbedingungen psychotherapeutischen Handelns“ (Röhrborn & Schwabe, 1986) implementierte Paradigmenwechsel des Handlungsansatzes vom Ziel zum Zugang hin wurde wahrscheinlich von vielen zwar verstanden, aufgrund der stereotypen Begriffsbelastung „symptomzentriert“ aber nicht hinreichend verwendet und hinterfragt, so dass dieser Ansatz immer wieder auch zu Missverständnissen führte.

Die Methodologie der Psychotherapie (u. a. Röhrborn & Schwabe, 1986) beschreibt die methodenspezifischen Handlungen und Operationen im Rahmen des symptomzentrierten Handlungsansatzes. Das wahrnehmungsorientierte Handlungsprinzip ist das führende in der RMT. Der Wahrnehmungsraum ist das „Innen“ und „Außen“ des Patienten, u. a. auch die Musik als äußerer Wahrnehmungsraum.

3.2 Regulieren im musikalischen Wahrnehmungsraum und die Technik des „akzeptierenden Wahrnehmens“

Die Anwendung von Musik in der Psychotherapie, in Leipzig von Christoph Schwabe seit den 1960er-Jahren praktiziert, durchlief nach Geyer (2011, S. 538) unterschiedliche Entwicklungsstadien. Basierend auf H. R. Teirich (Musik in der Medizin, 1958) waren zwei Ansätze bekannt: der eher kathartische Ansatz, also das Auslösen starker Affekte durch Musik und ein zweiter Pfad der Anwendung der Musik in der Medizin, dem der regulativ-mediativen Entspannung. Bereits H. R. Teirich praktizierte die Kombination von Autogenem Training mit Musikrezeption. Da die Praxisarbeit in Leipzig den erhofften Effekt dieser Kombination aber nicht bestätigte, insbesondere nicht die erwartete aktive, innere Beteiligung der Patienten angeregt wurde, versuchte man bereits vor 1960 regelmäßig mit abendlichen Musiksendungen die Selbstreflexion der Patienten zu aktivieren (Geyer, ebenda). Besonders bei rational ausgerichteten Patienten wurde so über die Musikrezeption im Liegen, das Reflektieren über die eigene Lebenssituation fokussiert. Man habe für dieses Vorgehen damals keinen Namen gehabt. Geyer (ebenda) sieht darin aber die eigentliche Geburtsstunde der Regulativen Musiktherapie.

Zudem habe Christoph Schwabe ca. 1964 einen „blitzartigen Einfall gehabt, der fast einer Erleuchtung nahe kam“ (Geyer, ebenda). Der Gedanke war demnach ein „gewisses Loslassen, am ehesten durch die Ausrichtung auf voneinander unabhängige Aufmerksamkeitsbereiche einzustellen“, einem „Hin und Her“, einem „Hier und Dort“ der Wahrnehmung. Insofern sich dann daraus die Wahrnehmung auf drei Ebenen bezog: Musik - körperliche Empfindungen - Gefühle und Gedanken. Dieses Herangehen war die methodisch-diataktische Ausrichtung der RMT, „an deren Wesenskern sich bis heute nichts geändert hat“ (Geyer, ebenda).

Aus diesem „freien Wahrnehmungspendel“ auf den drei Ebenen entwickelte sich das Konstrukt des „akzeptierenden Wahrnehmens“, welches in der RMT methodisch instruiert, schlussendlich trainiert wird und die Grundlage für den Zugang zu den Symptomursachen darstellt. Wahrnehmung oder Perzeption dient als primär kognitiver Prozess im allgemeinen Verständnis (ohne an dieser Stelle die unterschiedlichsten Theorien der Wahrnehmung darzustellen) der Reiz- oder Informationsgewinnung und -verarbeitung. Nach Wilson (2002) nehmen unsere fünf Sinne pro Sekunde 11.000.000 Bits an Information auf, davon werden uns jedoch nur 40 Bits bewusst. Das heißt, sie werden kortikal verarbeitet. Interessant scheinen dabei die verbleibenden 10.999.960 Bits, von denen wir intuitiv durchaus „Gebrauch“ machen, die subkortikal verarbeitet werden und unsere Handlung und Befinden nachweislich beeinflussen.

Das „akzeptierende Wahrnehmen“, als Vorgang des regulativen Geschehens, besteht nach dem Konzept der RMT im bewussten und aktiven „sich Überlassen“ gegenüber Wahrnehmungsinhalten. Insofern handelt es sich bei genauerer Betrachtung eigentlich um eine Regulation der Aufmerksamkeit, insbesondere wie wahrgenommen wird, nämlich ohne konzentrierte Willensanstrengung, eher einem „Sich-gehen-Lassen“. Aufmerksamkeit (auch hier ohne auf weitere Theorien der Aufmerksamkeit einzugehen) formt das Zustandekommen von Wahrnehmung, zum Beispiel durch selektive Wahrnehmung aufgrund von Voreinstellungen, Erwartungen, emotionalen und/oder körperlichen Befindlichkeiten (wie zum Beispiel psychopathologische Bewertungs- und Wahrnehmungsbesonderheiten). Es konstruiert sich (als Theoriemodell Konstruktivismus) immer eine subjektive Ausgangsposition des Wahrnehmenden.

Der Musikraum, als eine der Wahrnehmungsebenen, ist als psychotherapeutisches Zugangsmedium geeignet, weil es im Wahrnehmungsprozess innerpsychische und subjektbezogene Bewegungsvollzüge in Gang bringt und der Wahrnehmungserweiterung dienen kann. Musikalische Strukturen sind besonders prädestiniert für bestimmte Erlebnis- und Vorstellungsbereiche mit außermusikalischen Bedeutungsgehalten (Schwabe, S. 48/49, in Schwabe & Röhrborn, 1996). Diesen Feststellungen kann man in keiner Weise widersprechen, jedoch hat jedes Individuum seinen eigenen musikalischen und außermusikalischen Bedeutungsgehalt und seine eigenen damit verbundenen Assoziationen, was meint, dass eine intentionale Musikzuweisung zum Beispiel zu einzelnen Gruppenstunden in unterschiedlichen Stufen der RMT nicht zwangsläufig zu den erwarteten Effekten führen muss.

Das rezeptive Musikangebot in der RMT, verbunden mit der Trainingsaufforderung in jeder Trainingsstunde in verschiedenen Wahrnehmungsebenen Musik - Körper -Gefühle und Gedanken akzeptierend zu spüren, ist primär als nonverbal/sinnlicher Zugang zu verstehen. Dieser bietet besonders Patienten mit psychosomatischen Störungen und unter gewissen Umständen auch Patienten mit sogenannten Strukturstörungen die Möglichkeit, entsprechende Wahrnehmungsressourcen (nach) zu entwickeln. Entwicklungsursachen dieser Störungen werden in der präödipalen bzw. präverbalen Entwicklungszeit vermutet und sind von hoher psychogener Affekt- und Symptomabwehr begleitet.

Die sich anschließende Gesprächsrunde an das Wahrnehmungstraining ermöglicht den Patienten, die nonverbalen Wahrnehmungserfahrungen auf ein verbales (bewusst verarbeitendes) Niveau zu transportieren, Zusammenhänge zu erkennen, Erkenntnisse zu gewinnen und gewünschterweise ein biographisches Narrativ zu entwickeln. Vergleicht man dies mit mentalisierungsbasierten Therapieverfahren, zum Beispiel von Luyten et al. (2012), so kann man Ähnlichkeiten im Konzept erkennen. Die Methode ist zweifelsfrei anders.

3.3. Didaktik und Methode der Erlabrunner RMT- Konzeption

Das wahrnehmungsorientierte Handlungsprinzip der RMT wurde von Helmut Röhrborn für das Erlabrunner RMT-Konzept in verschiedenen Ebenen dezidiert erarbeitet, strukturiert und methodologisch aufgearbeitet.

Es beinhaltet das strategische Vorgehen mithilfe des Wahrnehmungstrainings in sechs Stufen mit dem basalen Ziel vom Symptomerleben hin zu deren Ursachen zu führen. Es handelt sich für jeden Patienten um einen sehr individuellen Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess, den er oder sie gemeinsam mit den anderen GruppenteilnehmerInnen erleben und austauschen kann.

Es beinhaltet weiterhin eine Beschreibung der Verhaltenskodizes der TherapeutInnen und der Beschreibung des Gruppenprozesses. Mit letzterem möchte ich in kurzer Übersicht beginnen:

RMT - als spezifische geschlossene Gruppenpsychotherapie

Das therapeutische Instrument ist nicht die Bearbeitung der Beziehungsproblematik, sondern das Wahrnehmungstraining. RMT-TherapeutInnen müssen über ein fundiertes gruppendynamisches Wissen und genügend Praxiserfahrung verfügen, weil die Gruppendynamik zur Unterstützung der Wahrnehmungsarbeit im Selbstreflexionsprozess der Patienten vom Symptom zu deren individuellen Ursachen notwendig ist. Insofern kann Gruppendynamik genutzt werden, um im interindividuellen Austausch, durchaus auch auf dem Boden von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen, Wahrnehmungsprozesse zu fördern und sogenannte Abwehrmechanismen zu verdeutlichen und zu bearbeiten. Die Bearbeitung von Beziehungsproblemen wird auch dann erforderlich, wenn das Wahrnehmungstraining verhindert wird. Hierfür ist eine klare Indikation erforderlich. Diese Methode favorisiert Patienten, bei denen psychosomatische Mechanismen (beispielhaft genannt sei hier das Konzept der Alexithymie als Spezialfall der Mentalisierungsstörung) im Vordergrund stehen, welche nach diesem Konstrukt psychogenetische Zusammenhänge nicht fühlen und erkennen sowie nicht verstehen können. Im wissenschaftlichen Diskurs sind die empirisch gewonnenen Befunde des alexithymen Erlebens und Wahrnehmens nicht eindeutig, jedoch werden sie pragmatisch angenommen (Leweke & Bausch, 2009). Auch für sogenannte „strukturgestörte“ Patienten, bei denen ähnliche Mentalisierungsdefizite angenommen werden, ist dieser Ansatz in der Regel als erster Schritt einer mehrphasigen Psychotherapie geeignet.

Es ergibt sich bei dieser Qualität der Beziehungsarbeit auch eine klare Kontraindikation, die insbesondere Patienten, bei denen ein neurotisches Beziehungsmuster, eine neurotische interindividuelle Problematik im Vordergrund stehen, betrifft.

Helmut Röhrborn beschreibt den Gruppenprozess (Röhrborn S. 73, in Schwabe & Röhrborn, 1996) in drei Phasen, in der Spezifik des Verhaltens der Therapeuten und des Verhaltens, der Befindlichkeiten der Patienten im wahrnehmungsspezifischen Erkenntnisgewinn des gestuften Trainings sowie in der Beziehung zueinander.

RMT - Therapeutenverhalten

Die RMT in der geschlossenen Gruppe wird im Konzept der Klinik nach Helmut Röhrborn mit zwei Therapeuten durchgeführt, die als TherapeutIn und Ko-TherapeutIn unterschiedliche „Rollen“ und Funktionen übernehmen. Die Praxis zeigt, dass ein durchgängiges Muster eines starren Rollenverständnisses der TherapeutIn, genauso wie ein starres Verständnis des sechsstufigen Trainierens natürlich nicht funktioniert und nicht möglich ist. Dies wird insbesondere auch von der Zusammensetzung der Personen, deren personellen Besonderheiten, den praktischen Erfahrungen und der intuitiven Abstimmungsqualität sowie der Gruppenzusammensetzung abhängig sein. Die Rolle der/des TherapeutIn orientiert sich im Grunde didaktisch am sechsstufigen Modell der Erlabrunner RMT-Konzeption, insofern der Instruktion der Patienten für das Wahrnehmungstraining, der Aufgabenstellung zu Beginn jeder Gruppensitzung, die mit einer Musiksequenz eingeleitet wird.

Der/die TherapeutIn leitet auch das einschließende Gespräch, den Austausch der Patienten über die Wahrnehmungsinhalte und der individuellen Wahrnehmungserlebnisse der Patienten. Im Grunde initiiert und stimuliert der/die TherapeutIn die Intensität und Qualität der in den jeweiligen Stufen verankerten Trainingsziele zur Wahrnehmungsförderung vom Symptomerleben hin zu den möglich kausalen Zusammenhängen.

Die/der Ko-TherapeutIn stützt und schützt die Patienten in ihrem individuellen Prozess des Wahrnehmungs- und Erkenntnisgewinns, verbalisiert individuelle Befindlichkeiten der Patienten, verdeutlicht gegebenenfalls das Trainingsziel, verbalisiert Beziehungsbefindlichkeiten der Patienten und weist die/den TherapeutIn auf Befindlichkeiten der Patienten hin.

RMT - die Didaktik des Handlungsverlaufes

Das didaktische Konzept der RMT ist die Realisierung einer weitgehend abwehrfreien Beobachtungshaltung, dem „akzeptierenden Wahrnehmen“ in einer Trainingssituation (Röhrborn, S. 51, in Schwabe & Röhrborn, 1996).

Das „freie pendelnde Wahrnehmen“, folgt man Schwabe, das „Hin und Her“ der Wahrnehmung, das „Regulative“ aus den 1960er-Jahren bedeutet in diesem Sinne, sich auch in der Aufmerksamkeit jedweden Wahrnehmungen offen zuwenden zu können, eine „innere Haltung“ zu trainieren.

Eine ähnliche „innere Haltungskonzeption“ wird Jahre später in der Therapie und Praxis des buddhistisch inspirierten „Achtsamkeitskonzeptes“ (Mindfulness-Based Stress Reduction, Stressbewältigung durch Achtsamkeit, Jon Kabat Zinn, 1979) beschrieben, allerdings in einer anderen Theorieverpackung und in einer anderen Praxisumsetzung.

Die wahrnehmungsorientierte trainierende Kompetenzentwicklung der RMT beschreibt gleichwohl den Weg, vor allem aber das Ziel. Mit diesem Vorgehen wird zweifelsfrei am Ende die psychophysische Entspannung, fast wie in der Entwicklungszeit der RMT in den 1960er-Jahren, erreicht, auch angestrebt. Bis es soweit ist, wird der psychosomatische oder/und aus anderen Gründen abwehrende Patient viele Hürden nichtakzeptierter Wahrnehmungen überwinden müssen. Die psychophysische Entspannung wird dem Patienten auch erst dann möglich werden, wenn ihm die Zusammenhänge seiner Symptome in wahrgenommener Weise klargeworden sind, wenn die Kompetenz der Selbstreflexion (die Mentalisierungsqualität der Selbststruktur) entwickelt werden kann.

Das Training der Wahrnehmung erfolgt in der RMT in einem sechsstufigen Differenzierungsprozess, der mit entsprechenden Aufgabenstellungen instruiert, mit einer Musiksequenz als Trainingsrahmen eingeleitet und dann im folgenden Gruppengespräch ausgetauscht wird. Für das Training steht ein Wahrnehmungsraum auf folgenden Ebenen zur Verfügung:

Außen - Musik und andere akustische Wahrnehmungen,

Innen - Körper, Gefühle und Gedanken.

Mit folgendem didaktischen Vorgehen wird über das Wahrnehmungstraining der kausale Zusammenhang von Symptomen und deren Verursachung hergestellt (Röhrborn, S. 59 f, in Schwabe & Röhrborn, 1996):

1. Training der Wahrnehmung in die Breite:

Anregung zum Wahrnehmen von Erlebnisinhalten in aller Vielfalt ohne Wertung und Konzentration, Abwehrphänomen.

2. Training der Wahrnehmung in die Tiefe:

Zunehmende Differenzierung der Wahrnehmung und Wahrnehmungsbeschreibung an einzelnen Wahrnehmungsausschnitten.

3. Erfassung der Gefühlsreaktionen auf Wahrgenommenes:

Anregung zur Beschreibung von Gefühlsreaktionen auf eine Wahrnehmung, Erkennen innerer, emotionaler und physiologischer Reaktionen gegenüber Wahrnehmung, Verhaltensweisen, wie Angst, Flucht, Abwehr und Kampf.

4. Unterscheiden von akzeptierten und nicht akzeptierten Wahrnehmungen:

Differenzierung und Beschreibung von akzeptierten und nicht akzeptierbaren Wahrnehmungen.

Strategie I (Schwabe 1979)

Die Strategie des akzeptierenden Wahrnehmens mit der Technik des akzeptierenden Regulierens basiert im Grunde auf einer paradoxen Intention (Frankl 1956) und der Paradoxalen Therapie von Watzlawick (1974), der Symptomverschreibung.

Strategie II (Schwabe 1979)

Erweiterung des Wahrnehmungsbereiches auf der Basis des Akzeptierens störender Wahrnehmung „Was gibt es noch?“.

5. Bewusstes Zuwenden zu den nichtakzeptierten Wahrnehmungen:

Die trainierende Anwendung der Strategien, insbesondere der Strategie II.

6. Zeit der Ernte:

Aufforderung zum bewussten Einsatz von Trainingsstrategien I und II und die Anwendung auf persönliche und symptomauslösende Konfliktlagen in der Gruppe, aber auch außerhalb des Gruppenprozesses. Wesentlich ist, dass bei einer gelingenden Realisierung dieser Strategien, insbesondere Entspannung (Stressbewältigung im weitesten Sinne) eintreten kann.

Ziel und Therapieerfolg ist es aber vor allen Dingen, dass die Fähigkeit zum Erkennen (wahrnehmen) von Symptomen dazu führt, zu lernen, mit diesen im Alltag in wahrnehmungsspezifischer akzeptierender Art und Weise umgehen zu können (Hofmann & Röhrborn; S.113, in Schwabe & Röhrborn, 1996).

4. Erlabrunner RMT- Konzept / Quo vadis?

Das Prozedere der Ab- und Aufwertung unterschiedlicher Psychotherapiemethoden anhand einer kategorialen Differenzierung, wie oben benannt, in ostdeutschen Zeiten „persönlichkeitszentriert“ und „symptomzentriert“, wiederholt sich in der krankenkassen- und standesstimulierten gesamtdeutschen Psychotherapielandschaft. Nunmehr sind es die klassischen Psychotherapieschulen, auf denen die sogenannten Richtlinienverfahren der Psychotherapie basieren.

Das Denken der Ordnung einer Psychotherapie vom Kausalitätsprinzip aus, wich quasi „mit einem Schlag“ dem tradierten schulengebundenen Richtlinienkonzept des gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (über die Durchführung der Psychotherapie, aktuell letzte Fassung vom 16.06.2016). Das Erlabrunner RMT-Konzept, als „Musiktherapie“ klassifiziert, fand, obwohl Effektforschung vorlag, keine Anerkennung als Richtlinienverfahren.

Helmut Röhrborn setzte sich mit dieser Problematik 1996 auseinander (in Schwabe & Röhrborn, S. 144): Aus Verständigungsgründen, insbesondere den Vertretern der Krankenkassen gegenüber, habe man für die RMT die akzeptable Bezeichnung tiefenpsychologisch orientierte Gruppenpsychotherapie mit symptomzentrierten Ansatz gefunden und sie als individuumzentrierte, symptomorientierte Methode mit wahrnehmungsorientierten Handlungsprinzip dargestellt. Der Arbeitsausschuss „Psychotherapie-Richtlinien“ des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen habe 1991 dieses Konzept aber lediglich als „Vorverfahren für spezifische Psychotherapie“ (Röhrborn, 1996) bewertet.

Die Begründung dafür, wird von Helmut Röhrborn nicht im Einzelnen ausgeführt. Vermutbar ist, dass die RMT im Stereotyp der Methodenauffassung der Musiktherapie und der Symptomzentrierung in der Ursprungsbedeutung der symptomatischen Behandlung zurückgestuft wurde. Die Stereotypenbildung, ähnlich der eingangs genannten Idealisierung, ist ein psychologischer Attributionsmechanismus der reduktionistischen Vorurteilsbildung (heißt vereinfacht, ohne reale Daten und Vernunft auf Tradiertes zurückzugreifen). Die RMT war in ihren Ursprüngen eine Methode der „regulierenden Harmonisierung“, insofern dies lediglich Entspannung als Ziel assoziiert. Gelang es Christoph Schwabe und Helmut Röhrborn bis zu Beginn der politischen Wende, diesem Stereotyp durch maximale Publikations- und Referententätigkeit des Kausalitätsprinzips und der RMT als tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie entgegenzutreten, war nach der politischen Wende der RMT im Erlabrunner Gruppenkonzept mit der Einstufung als Vorverfahren einer spezifischen Psychotherapie der inspirative Aufwind genommen.

Recherchiert man in der maßgebenden klinischen Fachliteratur der neueren Zeit nach der RMT und dem Kausalitätsprinzip, dann findet man meines Erachtens nirgendwo diese kluge systematisierende Konzeption der Psychotherapie angemessen wieder. Es ergibt sich die Frage: Wie wird aber die Psychotherapie klassifiziert? – natürlich schulengebunden und bestenfalls als eine nennende Aneinanderreihung von Therapiemethoden ohne vergleichbare systematische Methodologie. Musiktherapie wird als Zusatztherapie bestenfalls „benannt“.

In tiefenpsychologischen Standard- oder Lehrbüchern, zum Beispiel Wöller, W. & Kruse J. (2015) findet man neben der klassischen Systematik nach psychoanalytischen oder behavioralen Psychotherapiekonzepten und -methoden etc., eher störungsspezifische Systeme der Psychotherapieklassifikation. Die Musiktherapie wird auch hier als Zusatztherapie im komplexen strukturell-tiefenpsychologischen Setting von Standardtherapien beschrieben (Bauer & Ido, S. 486, in Wöller & Krise 2015).

Im psychosomatischen Standardwerk: Uexküll - Psychosomatische Medizin (2017) führen Hans Ulrich Schmidt und Horst Kächele (Kapitel 40.2) die RMT unter „Kreativtherapien“ in einer Auflistung musiktherapeutischer Verfahren neben anderen Musiktherapien auf. Die RMT wird nicht als „tiefenpsychologische Musiktherapie“ dargestellt.

Also wird ein tiefenpsychologischer Zusammenhang überhaupt nicht erkannt oder nicht akzeptiert (?).

Es waren Anfang der 1990er-Jahre gerade die Personen Hans Ulrich Schmidt und Horst Kächele, denen Helmut Röhrborn und der Verfasser in mehreren Veranstaltungen die RMT als tiefenpsychologischen Ansatz verdeutlichten (Röhrborn & Hofmann, 1992). Schmidt & Kächele (weiter Kapitel 40.2) ordnen die RMT, was immer das auch ausdrücken mag, als Therapie „hauptsächlich in den neuen Bundesländern“ ein. Weder das Kausalitätsprinzip noch der tiefenpsychologische Ansatz werden genannt. Nachlesbar ist in diesem Kapitel 40.2 in Uexküll, dass die Musiktherapie im Allgemeinen auch als tiefenpsychologische Therapie in vielen Kliniken praktiziert werde. Substanzielle Angaben, was die Konzeption und die Methode in den vielen Kliniken dazu sei, werden nicht getätigt.

Die Musiktherapie habe sich nach Schmidt & Kächele (2017, ebenda), summarisch betrachtet, in den letzten drei Dezennien mit großer Vielfalt unterschiedlich nebeneinanderstehender Ansätze und Konzepte zu einer eigenständigen Therapierichtung entwickelt.

Der Forschungsstand, der notwendig wäre, um die Musiktherapie insbesondere innerhalb der Disziplinen der Medizin und klinischen Psychologie substanziell zu verankern, sei nach Schmidt & Kächele jedoch nicht gegeben.

5. Perspektiven – Tempus fugit

Wie stellt sich die Sachlage also dar? Eine durchdachte, konzeptionell und methodisch ausgefeilte Gruppentherapieform, welche bis zum Ruhestand von Helmut Röhrborn ca. 25 Jahre lang in der Klinik erfolgreich praktiziert wurde und nachweislich Therapieerfolg erreicht wurde (82 Prozent der untersuchten Patienten gaben das subjektive Erleben von Behandlungserfolg an, dazu Hofmann, S. 105 und Röhrborn 1996, in Schwabe & Röhrborn), wird in der führenden Fachliteratur „als innerhalb der Disziplinen der Medizin und klinischen Psychologie substanziell nicht verankert“ (Schmidt & Kächele, Kap. 40.2, 2017) beurteilt und bestenfalls als „ostdeutsche Therapiemethode“ erkannt.

Leider gab es nach 1989 (Dissertation Hofmann, 1989) zum Erlabrunner RMT-Konzept keine weiteren substanziellen Verlaufs- und Effektuntersuchungen mehr. Statistiken der Behandlungsfälle der Kliniken Erlabrunn gGmbH liegen dem Verfasser nicht vor. Insofern kann in dieser kurzen würdigenden Darstellung die Gesamtzahl der Patienten, die mit der RMT-Gruppenpsychotherapie pro Jahr behandelt wurden, nur aus älteren Daten geschätzt werden. Im Beispielzeitraum 1985/86 (dazu Röhrborn S. 130, in Schwabe & Röhrborn, 1996) lag die Bettenkapazität bei 27 Betten. Mit der RMT-Gruppentherapie wurden in dem benannten Zeitraum ca. 100 Patienten behandelt (Röhrborn, ebenda). Für den gesamten Zeitraum der Anwendung der RMT-Gruppentherapie von ca. 25 Jahren könnten geschätzte 2500 bis 3000 Patienten behandelt worden sein.

Ohne an dieser Stelle eine genauere Differenzierung der Störungsbilder darzustellen (Indikation - Hofmann, S. 105, in Schwabe & Röhrborn, 1996), wurden nachweislich Patienten behandelt, bei denen eine „pathogenetisch bedeutsame Einengung der Wahrnehmungsfähigkeit für körperliche und seelische Vorgänge“ (Röhrborn S. 144, in Schwabe & Röhrborn, 1996) vorgelegen hat. Diese Wahrnehmungsstörung tritt „gehäuft bei Patienten mit funktioneller Organsymptomatik und organbezogenem Krankheitserleben in Zusammenhang mit neurotischen und psychosomatischen Erkrankungen auf, ... bei Patienten mit ungenügender Krankheitsbewältigung bei körperlichen Erkrankungen sowie bei frühen Persönlichkeitsstörungen“ (Röhrborn, ebenda).

Zusammengefasst betrachtet, handelt es sich vorwiegend um Diagnosen nach ICD-10 Kapitel V mit dem Diagnoseschlüsseln F45 (somatoforme Störungen) und F54 (psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten). Für Strukturstörungen, insofern „frühe Persönlichkeitsstörungen“ so verstanden werden, würde dies für Patienten (ICD-10, F60) in Frage kommen, bei denen im ersten Schritt der Psychotherapie die Einsicht in die Psychogenese für weitere psychodynamische Behandlungsmaßnahmen „geöffnet“ werden müsste.

Aus dieser kurzen Bedarfs- und Erfolgsdarstellung sowie der Darstellung der spezifischen Indikationslage für die tiefenpsychologisch fundierte Behandlung mit der RMT als Gruppentherapie ergibt sich für den Verfasser schon die Frage, was getan werden könnte, um den Effekt des „Vergessenwerdens“ dieser Erlabrunner Therapiemethode entgegenzuwirken und schlussendlich die innovativen Leistungen von Helmut Röhrborn und Christoph Schwabe im klinischen Therapiebereich in dieser Qualität „am Leben zu erhalten“.

Abschließend einige Gedanken des Verfassers dazu:

1.

Wenn zum 60. Jubiläum der „Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik“ im November 2016 das Thema „Gruppenpsychotherapie in der Klinik“ gewählt wird und nur die Intendiert Dynamische Gruppenpsychotherapie dargestellt wird, stellt sich die Frage, welcher Stellenwert der RMT als symptomzentrierter Handlungsansatz der Gruppenpsychotherapie in der Klinik beigemessen wird und wie das Konzept, basierend auf dem Kausalitätsprinzip, neun Jahre nach Helmut Röhrborn überhaupt verstanden wird?

2.

Es bedarf, um besonders im klinischen Bereich „eine substanzielle Verankerung“ zu erreichen, einer weiteren vergleichenden Prozess- und Effektdiagnostik und der Publizierung dieser Ergebnisse zur Konzeption und Methodologie der Erlabrunner RMT, um den tiefenpsychologischen Ansatz in Bezug zum Dogma der Psychotherapie-Richtlinien darzustellen.

3.

Es bedarf aber insbesondere eines „Anpassungsprozesses“ dieser Konzeption und Methodologie gemäß neuer klinischer, insbesondere psychopathologischer Konzepte. Wie bereits im Kapitel 3. dieser Würdigungsschrift kurz dargestellt, bietet sich hierzu zum Beispiel das Konzept der Mentalisierung (Fonagy, 2002) an. Die Mentalisierung als basale, psychische Struktur bezieht sich nicht nur auf das Verstehen und Einfühlen bezogen auf andere Personen, sondern insbesondere auch auf die Integration von Fühlen und Wissen, die Einfühlungsfähigkeit auf die eigene Person insbesondere in der Interaktion. Sich selbst wahrnehmen und verstehen zu können, sein Selbst wahrzunehmen, ein kohärentes Selbstbild zu entwickeln und zu integrieren (Kap. 13.4 in Uexküll, 2017), ist Bestandteil der Mentalisierung. Diese Hypothesenbildung findet sich auch weiterführend bei A. Antonovsky (1923 - 1994) mit seinem salutogenetischen Konzept der „Sense of Coherence“ (Sinn für Kohärenz) als ein Konzept globaler Selbstorientierung (Gefühl der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit) wieder, welches insbesondere in der Resilienzforschung Verwendung findet (Antonovsky, 1997).

Wenn man sich den sechsstufigen Aufbau der RMT der Aufmerksamkeitsentwicklung genauer ansieht, sich das Training des „akzeptierenden Wahrnehmens“ als Methode gut durchdenkt und im theoretischen psychopathologischen Zugang erweitert definiert, dann findet man zwangsläufig und sofort übereinstimmende Aspekte mit modernen Mentalisierungskonzepten und -therapien.

Für die Borderline-Störung liegt das mentalisierungsbasierte Therapiekonzept „ausgefeilt“ bereits vor. Für die psychosomatischen Störungen befindet sich der mentalisierungsbasierte Therapiestand (Luyten et al., 2012) aber noch in den „Kinderschuhen“.

Apropos „Kinderschuhe“!

Um auf den Anfang dieser Würdigungsschrift zurückzukommen.

Wir Menschen neigen oft dazu, die Vergangenheit zu idealisieren. Idealisierung kann am konkreten Beispiel das Positive hervorbringen.

Ein Beispiel kann auch heute, wie seit den 1950er-Jahren die psychotherapeutische Innovationskraft der Erlabrunner Psychotherapie-Klinik sein. Menschen, die das getan haben, gab es:

Vielen Dank Helmut Röhrborn!

6. Literatur

Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen. dgvt.

Geyer, M. (2011). (Hrsg.). Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945 - 1995. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht.

Köhle, K. et al. (2017). (Hrsg.). Uexküll – Psychosomatische Medizin. München. Elsevier.

Leweke, F. & Bausch, S. (2009). In: Grabe, H. J. & Rufer, M. (Hrsg.). Alexithymie: Eine Störung der Affektregulation. Bern. Huber, Kap. 7.

Luyten, P., van Houdenhove, B., Lemma, A. et al. A mentalization-based approach to the understanding and treatment of functional somatic disorders. Psychoanalytic Psychotherapy. 2012, 26. 121-140.

Röhrborn, H. (2006). Festschrift anlässlich des 50. Jahrestages der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik. Erlabrunn. Kliniken Erlabrunn gGmbH.

Röhrborn, H. & Hofmann, R. (1989). Zu Profilen und Arbeitsweisen einer psychotherapeutischen Klinik im Versorgungskrankenhaus. Zeitschrift Klinische Medizin. 44(25), S. 221 - 223.

Röhrborn, H. & Hofmann, R. (1992). Verlaufsdiagnostik bei Musiktherapie am Beispiel des Erlabrunner Beurteilungsbogens (EBS) für die RMT nach Schwabe. In: Vortragssammlung 4. Ulmer Workshop für Musiktherapeutische Grundlagenforschung 14.02. - 15.02.1992. Ulm, Universität, Abteilung Psychotherapie (Leitung Horst Kächele).

Röhrborn, H. & Schwabe, Ch. (1986). Wesen und theoretischer Kontext des symptomzentrierten Handlungsansatzes. Arbeitsmaterial zur 2. Arbeitstagung der Sektion Musik, Bewegung und Gestaltung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, 04.03. - 05.03.1986. Dresden.

Schwabe, Ch. & Röhrborn, H. (1996). Regulative Musiktherapie. Jena. Gustav Fischer.

Wöller, W. & Kruse J. (2015). (Hrsg.). Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Basisbuch und Praxisleitfaden. Stuttgart. Schattauer.

Zaudig, M. (2004). „Fünfzig Jahre psychosomatische Krankenhausbehandlung“.

Zeitschrift Psychosomatische Medizin Psychotherapie 50, S. 355 - 375.

Autor

Prof. Dr. rer. nat. habil. Ronald Hofmann

Fachpsychologe der Medizin

Lehrgebiet Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie

Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften

Fachhochschule Erfurt

Erfurt im Januar 2017

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Das Erlabrunner Konzept der Regulativen Musiktherapie nach Schwabe
Hochschule
Fachhochschule Erfurt  (Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaft)
Autor
Jahr
2017
Seiten
25
Katalognummer
V353169
ISBN (eBook)
9783668396067
ISBN (Buch)
9783668396074
Dateigröße
1550 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Musiktherapie, Psychosomatische Medizin, Erlabrunner Konzept, regulative musiktherapie, Christoph Schwabe, Helmut Röhrborn, RMT, gruppentherapie, psychotherapie, tiefenpsychologie, gruppenpsychotherapie, Mentalisierung, Kausalitätsprinzip
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Ronald Hofmann (Autor:in), 2017, Das Erlabrunner Konzept der Regulativen Musiktherapie nach Schwabe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353169

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