Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Diagnostik von Anorexia Nervosa
2.1 Verbreitung und Häufigkeit
3. Die Familie
3.1 Die soziale Beziehung: Die Eltern-Kind-Beziehung
3.2. Die Mutter-Tochter-Beziehung
3.3 Dilemmata in der Mutter-Tochter-Beziehung
4. Erziehungsstile
4.1 Zwei-Faktoren-Modell
4.2 Drei-Faktoren-Modell
5. Die Perfekte Familie: Wenn Illusion zur Realität werden soll
6. Fazit: Warum Separation und Individuation nötig ist
7. Anhänge
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Eine Diät zu halten ist in unserer westlichen Gesellschaft nichts Ungewöhnliches. Verfolgt man die Angebote der Kaufhäuser, ist der eigene Wirtschaftszweig rund um Fitness, Schönheit und Schlankheit wohl unübersehbar. Doch die Diät ist keine neumodische Erscheinung.[1] Heute scheint die Reduzierung der eigenen Nahrungsaufnahme jedoch außer Kontrolle zu geraten. Wer schön sein will, müsse leiden, heißt es. Diskussionen über magersüchtige Modells haben den Blick auf die gefährlichen Schlankheitsideale gelenkt. Gerade junge Mädchen versuchen sich während der Pubertät das erste Mal an einer Diät – schnell wird der effizienteste Weg erkannt: weniger essen. Hungern. Am Ende steht nicht selten die Magersucht. Völlig außer Acht gelassen wird jedoch, dass das Motiv junger Mädchen nicht Schönheit sein muss, denn Magersucht ist so viel mehr als der bloße Wunsch, schlank zu sein. Dabei geht es eben nicht um Schlanksein, sondern um die Kontrolle des eigenen Körpers und des Essens. Es geht um Stärke, Autonomie und Unabhängigkeit.
Jährlich sterben etwa 33-100 Menschen in Deutschland aufgrund von Essstörungen – 90% davon sind weiblich (Statistisches Bundesamt, 2014)! Bei Erstmanifestation von Anorexia Nervosa befinden sich Mädchen mit durchschnittlich 14-18 Jahren (Jacobi, F. et al., 2014) noch in ihrem Elternhaus – wie ist die Entstehung dieser lebensbedrohlichen Störung in diesem jungen Alter möglich? Wie kann ein solcher Wahn nach Schlankheit und Perfektionismus entstehen? Warum hungern junge Mädchen sich zu Tode ? Das Störungsbild muss in ihren besonderen Wirkungsmechanismen verstanden und die Motive junger Mädchen erkannt werden, bevor angemessene Hilfe geleistet werden kann. Im Folgenden soll erörtert werden, in wie Fern der familiäre Kontext zu der Erstmanifestation von Magersucht bei jungen Frauen beiträgt. Sozialpsychologische, kulturelle Einflussfaktoren oder die Rolle des Vaters sollen dabei nicht beleuchtet werden, sondern die Beziehungen innerhalb der Familie, besonders der Mutter-Tochter-Beziehung, mit dem Fokus der entwicklungsgerechten Autonomiebestrebungen der Töchter.
2. Diagnostik von Anorexia Nervosa
Wer sich in der Nahrungszufuhr im Sinne einer Diät gewollt einschränkt, widerstrebt noch keiner Norm. Doch wann wird eingeschränkte Nahrungsaufnahme – also hungern – problematisch? Wo sind die Grenzen zwischen „gesundem Diäthalten“ und „ungesundem Hungern“? Wann handelt es sich um gefahrloses Abnehmen, und wann liegt bereits eine Essstörung vor?
Scheinbar haben die Etablierung von Medizin und die Norm der Pflege des eigenen Körpers zur Erhaltung der Gesundheit überhaupt erst zur Klassifizierung einer überbordenden Nahrungsreduktion und Gewichtsabnahme als Ess störung geführt (vgl. Stahr, I., Barb-Priebe, I. & Schulz, E., 2007). Demnach entspricht es nicht dem Wunschzustand, unter einer Essstörung zu leiden, aber ebenso wenig, unter- oder übergewichtig zu sein oder auf andere Art dem aktuellen Körpertrend nicht zu entsprechen. Der Body-Mass-Index, auch Quetelet-Index genannt, liefert eine Orientierungsmöglichkeit zur Einordnung einer Person in Unter-, Normal- oder Übergewichtigkeit. Der BMI berechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch die quadrierte Körpergröße in Zentimetern. Der errechnete Quotient lässt sich dann entsprechend des Alters und des Geschlechts der betreffenden Person in eine der Kategorien „Starkes Untergewicht“, „Untergewicht“, „Normalgewicht“, „Übergewicht“ und „starkes Übergewicht“ einordnen (BZgA, 2002). Bei Erwachsenen spricht man ab einem BMI von unter 18,1 von Untergewicht, bei einem BMI von unter 16,1 von starkem Untergewicht, womit oft Anorexie assoziiert wird. Die genauen Werte für jugendliche Mädchen und Jungen sind alters- und geschlechtsspezifisch in der anhängenden Tabelle, erstellt von Frau Dr. Kromeyer-Hauschild (Abbildung 1) (BZgA, 2002), sowie in den Grafiken der Bundeszentrale Für Gesundheitliche Aufklärung nachzulesen (Abbildung 2 und 3) (BZgA, 2002). Jedoch bedeutet ein Normalgewicht nicht automatisch, dass keine Essstörung vorliegt. Denn oft sind besonders bulemische Patienten normalgewichtig. Abgesehen davon ist ein Untergewicht in der Magersucht erst das Resultat, das nach Eintritt und Aufrechterhalten des Störungsbildes eintritt; ist damit erst ab einem gewissen Stadium der Krankheit auszumachen. Man ist also zuerst magersüchtig, dann ggf. untergewichtig. Keinesfalls sind das Gewicht oder der BMI also alleinige Indikatoren für die Existenz einer Essstörung. Trotzdem können sie richtungsweisend sein. Eindeutige Diagnosekriterien für eine Anorexia Nervosa legen die Klassifizierungen nach ICD-10 (F.50.0) sowie dem DSM-IV (307.1) fest, die in etwa deckungsgleich sind.
Nach den medizinisch orientierten Kriterien des ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) liegt das Körpergewicht anorektischer Personen 15% unter dem zu erwartenden Gewicht bzw. der BMI unterhalb von 17,5 (vgl. Saß, H., Wittchen, H.-U., Zaudig, M. & Houben, I., 2003). Weiterhin haben Betroffene massive Angst, zu dick zu werden. Demnach versuchen sie, bedingt durch diese Körperschemastörung, Gewicht zu verlieren. Neben den Verzicht von hochkalorischen Nahrungsmitteln (restriktiver Typus) erbrechen Betreffende selbstinduziert, führen mit Hilfe von Abführmitteln ab, treiben übermäßig Sport oder gebrauchen Appetitzügler bzw. Diuretika (aktiver Typus) (vgl. Saß, H., Wittchen, H.-U., Zaudig, M. & Houben, I., 2003). Ein weiteres Diagnosekriterium ist eine endokrine Störung, die sich bei Frauen als Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation) und bei Männern meist als Libido- und Potenzverlust zeigt. Wenn die Magersucht bereits vor der Pubertät vorliegt, ist mit einer gestörten körperlichen Entwicklung, wie bspw. das Ausbleiben oder eine besonders späte Menarche, ein Wachstumsstopp oder eine fehlende Entwicklung der weiblichen Brust zu rechnen (vgl. Saß, H., Wittchen, H.-U., Zaudig, M. & Houben, I., 2003). Sowohl ICD-10 als auch DSM-IV bieten ein internationales Klassifikationssystem, das Statistiken vergleichbar macht. Dennoch muss berücksichtigt werden, das die psychische und körperliche Konstitution individuell ist, und somit auch die Affinität bezüglich Essstörungen. Damit ist es durchaus möglich, dass eine Person, die unter Magersucht leidet, nicht untergewichtet ist. Wie oben erwähnt ist das Untergewicht erst das Ergebnis eines langen Abnehmprozesses.
Dennoch zeigen genannte Kriterien bereits die Gefahr auf: das eigene Körperbild wird verzerrt, sodass sich Betroffene tatsächlich zu dick, oder vielmehr zu schwer finden. Doch das Ziel der Perfektion entfernt sich immer weiter, je näher man ihm zu kommen versucht, denn das Zielgewicht wird immer weiter heruntergesetzt – und deswegen darf das Abnehmen nicht aufhören. Die Abwärtsspirale lockt mit Erreichung des Wunschgewichtes; tatsächlich ist die Endstation jedoch der Hungertod mit zahlreichen vorherigen Einbüßen im sozialen, biologischen und vor Allem psychischen Bereich. In dem Wort „Magersucht“ steckt offensichtlich nicht grundlos das Wort „Sucht“.
2.1 Verbreitung und Häufigkeit
Nach den Ergebnissen der KiGGS (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) des Robert-Koch-Instituts, bei der Daten von Kindern und Jugendlichen im Alter von zwei bis 17 Jahren im Zeitraum von Mai 2003 bis Mai 2006 ausgewertet wurden, sind 7,2% aller Befragten nach dem BMI untergewichtig. Jeder Fünfte (22%) im Alter von 11-17 Jahren zeigt bereits ein auffälliges Essverhalten. (vgl. Kurth, B-M. & Schaffrath, R., 2007). Interessant ist hierbei der Geschlechtsaspekt, denn mit 11 Jahren lässt sich noch kein Unterschied in den Häufigkeiten erkennen. Mit steigendem Alter steigt jedoch auch der Anteil der Mädchen mit auffälligem Essverhalten. Rund 30% aller Mädchen im Alter von 14-17 Jahren sind auffällig; dabei aber nur jeder siebte Junge im gleichen Altersbereich. (Kurth, B-M. & Schaffrath, R., 2007). Der deutliche Überhang der Frauen wird auch durch das Ergebnis der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) von 2013 bestätigt, nach der 1,1% der Frauen, aber nur 0,3% der Männer im Alter von 18-79 Jahren magersüchtig sind (Jacobi, F. et al., 2014). In Deutschland geht man von einer Prävalenz von 0,3% für Magersucht bei Frauen im Altersbereich von 14-24 Jahren aus; dabei tritt Magersucht am häufigsten bei Frauen im Alter von 14-18 Jahren auf. Nach den Ergebnissen des DEGS1 besteht jedoch sogar jeweils eine höhere Prävalenz für Untergewicht in beiden Gruppen: bei Frauen im Alter von 18-29 Jahren etwa 4,5%, bei Männern im gleichen Altersbereich nur 2,7% (Jacobi, F. et al., 2014).
Es lässt sich eine deutlich unausgeglichene Geschlechtsrelation feststellen: Frauen sind in allen Ergebnissen öfter betroffen – von Magersucht oder Untergewicht – als Männer. In Deutschland geht man von einem Geschlechtsverhältnis von 8:1 bei Anorexia Nervosa aus (vgl. Stahr, I., Barb-Priebe, I. & Schulz, E., 2007). Die Erstmanifestation des Krankheitsbildes lässt sich anhand der Ergebnisse der Studien zwischen 14 und 18 Jahren ausmachen, wo sich auch der deutliche Überhang des Anteils der Mädchen zu manifestieren beginnt. Die Risikogruppe der Erstmanifestation besteht also aus Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren. Diese Mädchen befinden sich in der Phase der mittleren Adoleszenz des Jugendalters – eine Zeit voller Anforderungen und Stress, die zu diesem Zeitpunkt quasi erstmalig erlebt wird und somit eine umso größere Quelle für Unsicherheit und Vulnerabilität darstellt (vgl. Dreher, E & Dreher, M, 2008)[2]. Fundamental ist in dieser Zeit die Entwicklung eines akzeptablen Selbstbildes. Stress, Versagen und (äußerer oder sogar internalisierter) Leistungsdruck bedrohen dieses Selbstbild[3].
Doch Magersucht betrifft weder nur sozial schwache oder ungebildete Schichten noch nur belastete und zerrüttete Familien, bei denen man prophylaktisch mehr Stress und Belastung als Bedrohung für die psychische Gesundheit durch die Umwelt annehmen würde. Genau das Gegenteil – nämlich ein äußerlich intaktes Elternhaus in einer der Mittel- oder Oberschicht – beschreibt besonders eindrucksvoll Hilde Bruch als den „goldenen Käfig“ (vgl. Bruch, H., 2004). Bruch berichtet überwiegend von gebildeten und intelligenten jungen Mädchen in einer „heilen Familie“, die ihre eigene Welt jedoch als alles andere als „heil“ erleben. (vgl. Bruch, H., 2004). Demnach tritt Anorexia Nervosa bei Töchtern als frauenspezifische Störung mit einer Erstmanifestation im Jugendalter in aufstiegs- und leistungsorientierten Familien der Mittel- und Oberschicht mit einer äußerlich stabilen Ehe am häufigsten auf (vgl. Stahr, I., Barb-Priebe, I. & Schulz, E., 2007; Bruch, H. 2004; Kurth, B-M. & Schaffrath, R., 2007; Jacobi, F. et al., 2014). Auf die Illusion der „perfekten Familie“ und die Erklärung der Entwicklung der Magersucht in gerade diesen Elternhäusern soll im weiteren Verlauf eingegangen werden.
3. Die Familie
Wie in Kapitel 2 erläutert sind die Betroffenen bei Erstmanifestation der Krankheit also mit großer Wahrscheinlichkeit noch bei ihren Eltern wohnhaft. Die Familie stellt ein konstitutionelles Element des Krankheitsbildes dar – denn diese ist in diesem Alter noch Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung. In der mittleren Adoleszenz werden das Selbst sowie Selbstwert erst gebildet; die Jugendlichen befinden sich also in einer Phase großer Spannung, Unsicherheit und Vulnerabilität, weshalb die Familie als „sichere Basis“ funktioniert. Die Jugendlichen sind innerhalb der gesicherten Familienverhältnisse in der Rolle des Kindes aufgewachsen, nun müssen sie sich aus dieser herausentwickeln. Für diese Familienentwicklungsaufgabe (vgl. Havighurst, R. J, 1972) ist eine Zusammenarbeit der ganzen Familie nötig. Bei dieser muss der Familie der Spagat zwischen dem Bewahren der familiären Verbundenheit und gleichzeitig der Abkopplung gelingen. Die Beziehungen innerhalb der Familie müssen zwar umgestaltet, aber erhalten werden, wenn dem Jugendlichen simultan mehr Autonomie zugestanden werden muss (vgl. Hofer, M., 2002).
[...]
[1] Schon im Abendland hat das Fasten eine ebenso große religiöse Bedeutung wie später im mittelalterlichen Europa. Mit der Reduzierung und Enthaltung vom Essen wird Verbundenheit mit entsprechenden Riten im religiösen Sinn als auch Buße und Reinigung von allen Sünden durch die Bezwingung des Leibes im asketisch-mystischen Sinn symbolisiert. Eine Besonderheit hat die Frau im asketisch-mystischen Fasten des Mittelalters dahingehend, als dass sie sich vom eigenen weiblichen, d.h. sündhaften, Körper zu befreien versuchte, während Männer – insb. Mönche – fasteten, um die Sünde außerhalb ihres eigenen Körpers zu bekämpfen (vgl. Stahr, I., Barb-Priebe, I. & Schulz, E., 2007).
[2] Neben körperlichen Veränderungen müssen sie sich fundamentalen Entwicklungs- und Alltagsaufgaben stellen. U. A. gehören die Übernahme der Geschlechtsrolle, das Akzeptieren der eigenen Erscheinung, die Entwicklung einer persönlichen und sexuellen Identität und eines Wertesystems, und schließlich die Vorbereitung auf Familie und Beruf dazu. Neben diesen Entwicklungsaufgaben stellt die Umwelt zusätzlich Anforderungen (vgl. Dreher, E & Dreher, M, 2008).
[3] Zum Selbstschutz entwickeln Kinder schon früh Abwehrstrategien, zu denen u. A. die Strategie des Fluchtverhaltens und der Isolation bzw. der emotionalen Abgrenzung gehören. Besonders Letztere, welche sich durch das Senken der eigenen Bedürfnisse, Passivität, Resignation und Zynismus zeigt, hat eine Relation zum Störungsbild der Magersucht. Doch auch die Abwehrstrategie des Fluchtverhaltens, bei der die Realität verleugnet wird und die Entwicklungsaufgaben im schlimmsten Fall aufgegeben werden, kann im Zusammenhang mit Magersucht betrachtet werden. Der Jugendliche flieht aus der Realität, indem er sich schlichtweg weigert, diese anzuerkennen (vgl. Hebert, M., 1989). Probleme „verschwinden“ durch strategischen Rückzug scheinbar, doch tatsächlich erwachsen dadurch nur noch Größere. Die Magersucht, bei der Erfolg in der Kontrolle des eigenen Körpers und dessen Bedürfnisse erlebt werden kann, stellt eine Flucht in scheinbare Sicherheit und Autonomie dar, wenn andere Anforderungen der Umwelt und Entwicklungsaufgaben nicht überwunden werden.