Willkürherrschaft und verlorene Tugendideale in G.E. Lessings „Emilia Galotti“


Hausarbeit, 2016

19 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Hettore Gonzagas, Souverän und Liebhaber
2.2 Die Unvereinbarkeit von fürstlicher Macht und Empfindsamkeit
2.3 Tugendheld Odoardo als Oberhaupt der Familie Galotti und als sorgender Vater
2.4 Rachephantasien, erzwungene Ruhe und Machtlosigkeit eines tugendhaften Helden

3. Die Schuldfrage an Emilias Freitod

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im fünften und letzten Akt des von Gotthold Ephraim Lessing verfassten bürgerlichen Trauerspiels Emilia Galotti heißt es in der Unterredung der gleichnamigen Protagonistin mit ihrem Vater: „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert“1. Metaphorisch wird hier der Freitod einer tugendhaften Tochter vorweggenommen, die sich den reißenden Geschicken leidenschaftlicher Intrigen und abwartendem Zögern mehrerer Figuren hingeben muss, „mit einem Endergebnis, daß keine der Personen gewollt hat“2. Doch wie konnte es dazu führen, dass die junge Emilia, welche wenige Augenblicke zuvor noch von ihrer eigenen Hochzeit zu träumen vermag, sich schließlich für den eigenen Tod entscheidet? Wer trägt an der aussichtslosen Situation, in der sich die junge Frau wiederzufinden weiß, letztlich die Schuld?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich die vorliegende Hausarbeit, deren Basis das am 13. März 1772 im Herzoglichen Opernhaus in Braunschweig uraufgeführte bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti darstellt, welches auf den Vergina-Stoff der römischen Geschichte des Titus Livius zurückzuführen ist3 und erstmals den Ständekonflikt im Kontext der bürgerlichen Mentalität konkret thematisiert.4 Im Fokus der Arbeit des weiblich titulierten Trauerspiels stehen jedoch die vorherrschend männlichen Protagonisten: Hettore Gonzaga, Prinz von Gustalla sowie Familienoberhaupt Odoardo Galotti. Mittels ausgewählter Textpassagen sollen zunächst grundsätzliche Charaktereigenschaften anhand ihrer Taten, Einstellungen und Personeninteraktionen herausgestellt und beschrieben werden, um dann ihre Auswirkungen in Abhängigkeit ihres gesellschaftlichen Ranges darzulegen.

Durch die Handlungsweisen Odoardos und Hettores wird somit geklärt, ob ihnen eine Mitschuld hinsichtlich der Selbstentleibung des Mädchens zuzuweisen wäre und diese schlussendlich zu einer möglichen Beantwortung der Frage „Warum musste Emilia Galotti sterben?“ beiträgt.

2.1 Hettore Gonzagas, Souverän und Liebhaber

Mit dem Prinzen Hettore Gonzagas stellt Lessing einen Herrscher auf die Bühne, der damals prinzipiell in seiner gesellschaftlichen Funktion sowohl in Italien als auch Deutschland existierte.5 Er markiert „eine[n] der zahlreichen Gebieter von kleinen Fürstentümern“6, welche die politische Wirklichkeit zur Zeit Lessings dominierten und wird in dem real existierenden, winzigen Herzogtum Gustalla in Oberitalien angesiedelt.7 Als Grundlage seines uneingeschränkten Waltens dient die ihm legitimierende Macht und deren höchst ungleiche, durch Stände normierte Verteilung. Schon die Struktur des Stückes offenbart die feudale Dominanz des Prinzen: Er hat das erste und das letzte Wort, in seiner Residenz spielen vier der fünf Aufzüge.

Doch zunächst nimmt das Trauerspiel seine Anfänge im höfischen Umfeld und beginnt durch Hettores Eingeständnis, er habe zu früh Tag gemacht.8 Sein Verhalten wird als „von der Regel abweichend beschrieben“9, wofür seine innerliche Unruhe und aufbrausenden Gefühle angesichts der Gedanken an Emilia verantwortlich gemacht werden. Erinnerungen an sie hindern den Herrscher daran, sachgerechte Entscheidungen zu tätigen. Denn was Hettore an diesem Morgen vorgetragen wird, sind „Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften!“10, über die er allein in letzter Kompetenz entscheiden darf.11 Dass der Prinz sich dieser Kompetenz jedoch keinesfalls pflichtbewusst zuwendet, belegt der erste Aufzug mehrmals: Der gleiche Vorname einer Bittstellerin wie der seiner Herzensdame bewegt ihn dazu, „ihr Gesuch zu bewilligen, obwohl es sich um eine hohe Forderung handelt.“12 Er übergibt sich seiner Stimmung, entscheidet „nach Gutdünken, und sein Entschluss erweist sich als Willkür.“13 Der Prinz als Souverän dieses Staates ist nicht mehr Souverän über sich selbst. Er steht „nicht mehr absolut über den ‚traurigen Geschäften‘“14, sondern wird bei der Ausübung seiner, an sein Amt gekleidete

Herrschaftsaufgaben von den leidenschaftlichen Gedanken an Emilia beeinflusst:

„Ich kann doch nicht mehr arbeiten. - Ich war so ruhig, bild‘ ich mir ein, so ruhig Auf einmal muß eine Bruneschi, Emilia heißen: - weg ist meine Ruhe und alles!“15 Den Kontrast dazu schildert seine nüchterne Reaktion auf den Brief der ehemaligen Geliebten Orsina: „nun alles? Kann sein, ich habe sie auch wirklich geliebt. Aber ich habe!“ Anders als Orsina, die wie andere Frauen das Leben des Prinzen nur kurzzeitig berührt zu haben scheint, muss es Emilia ihm sehr innig und gerade „in ihrer Andersartigkeit gegenüber den Damen des Hofes angetan“16 haben. Die Liebe hat ihn ergriffen, er ist ihr preisgegeben und „[…] komme von Sinnen.“17 Er gesteht sich sogar ein: „Nun ja, ich liebe sie, ich bete sie an.“18

Die anschließende Unterredung mit dem Maler Conti veranschaulicht die Gegensätze, die in den Beziehungen Hettores zu Orsina und Emilia bestehen. Weil der Prinz Orsina nicht mehr mit derselben stürmischen Liebe wie für Emilia begegnet, vermag er umso mehr Contis künstlerische Fertigkeiten zu bewundern. Dabei kritisiert er trotz seiner künstlerischen Bewunderung für das Werk dessen „Augen der Liebe“19, die er zu diesem Zeitpunkt eben nicht mehr besitzt. Anders verhält er sich beim Erblicken von Emilias Porträt. Nun sieht er wieder aus eben getadelten „Augen der Liebe“ und vergisst über dem Bild dessen Künstlichkeit. Während Conti über die „notwendige Unvollkommenheit seines Werkes“20 reflektiert, interessiert der Prinz sich nur für das in seinen Augen vollkommendes Gemälde. Der Maler, von Hettores plötzlicher Aufruhe verwirrt, irrt sich, „wenn er des Prinzen Seele in dessen Augen vermutet.“21 Vielmehr wirkt das Bild auf den Herrscher nicht als „Studium der weiblichen Schönheit […], sondern als Stimulanz der Liebesaneignung“: Nicht die Schönheit Contis Werk, sondern sein Besitz tritt ins Zentrum der Begierde. Denn während er die eigentliche Auftragsarbeit, das Porträt Orsinas, verwirft, erwirbt Hettore das unabhängig entstandene Bild Emilias um jeden Preis. Der Prinz differenziert bei der Betrachtung des Porträts von Orsina zwischen Kunst und Original, sieht aber beim Gemälde Emilias nur sie selbst, und der Erwerb des Bildes ist ihm gleichbedeutend mit dem Erwerb der jungen Frau. Erhält das Abbild Orsinas den standesgemäßen Rahmen und einen Platz in der Galerie des Hofes, „so bleibt das Bild Emilias in der privaten Verfügungsgewalt des Prinzen: ‚mit einem Studio macht man so viel Umstände nicht: auch läßt man das nicht aufhängen; sondern hat es gern bei der Hand.‘“22 Der nüchternen und aufgeklärten Position Contis tritt die von Liebe und Sehnsucht beeinflusste Kunstbetrachtung des Prinzen entgegen, in der „das Schöne des Kunstwerks ebenso untergeht wie Emilia im Trauerspiel.“23

Durch die Neuigkeiten der baldige Vermählung seiner Geliebten in Rage gebracht, wirft er wutentbrannt das Bild zu Boden. Emilias Schicksal zeichnet sich hier metaphorisch im Umgang des Kunstwerkes ab, dessen Betrachtung, Aneignung und Umgang nicht mit sachlicher Ruhe und Verstand, sondern aus der Laune eines hitzigen Herrn erfolgt. Dies ist der Auftakt zur Intrige, mit der er, ebenfalls wie bei dem Erwerb des Porträts, die junge Emilia um jeden Preis in seine Hand, in seine Abhängigkeit ziehen möchte. Doch gleichzeitig wird so auch die Katastrophe eingeleitet, da dem stürmischen Prinzen die Fähigkeit das Bewusstsein für notwendige Unvollkommenheit fehlt.

In seiner Not wendet sich Hettore an Marinelli, „der absolute Bösewicht, die potenzierte teuflische Ausgeburt“24, ohne den letztendlich die Hochzeit des jungen Paares stattfände, der Prinz tobe, aber Emilia und Appiani ziehen lassen würde. Mit ihm als Werkzeug soll Emilia in den Besitz des Prinzen überführt werden. Der Kammerherr wird zum Stellvertreter des Fürsten: „Liebster, bester Marinelli, denken Sie für mich. Was würden Sie tun, wenn sie an meiner Stelle wären?“25 Vor Marinellis Vorschlag, „die private Absicht direkt mit den Mitteln des absolutistischen Herrschers durchzusetzen26 “, schreckt Hettore jedoch zunächst zurück. Die Ausübung fürstlicher Gewalt, „sozusagen die allen Zeremoniells entkleidete Rationalität höfischer Macht“27, käme der eines Tyrannen gleich, den Hettore jedoch keineswegs darstellt. Nichtsdestotrotz übergibt er seinem Kammerherrn zum einem die Verantwortung von unangenehmen Entscheidungen und Handlungen, da er ihm „freie Hand“28 lässt, zum anderen kann er dadurch jegliche Schuld auf diesen übertragen, wenn er anschließend öffentlich die moralische Vertretbarkeit der ausgeführten Taten anzweifeln würde. Durch Marinelli kann der Prinz aktiv werden. Gleichzeitig ist er aber nicht mehr Herr der Politik, sondern wird von seinem Kammerdiener für die von ihm aufgetragenen Machenschaften missbraucht, was ihm jedoch angesichts seiner Sehnsucht als weniger tragisch erscheint:

Und das wollen Sie doch nur sagen: der Tod des Grafen ist für mich ein Glück … das einzige Glück, was meiner Liebe zu statten kommen konnte. Und als diese, - mag er doch geschehen sein, wie er will! - Ein Graf mehr in der Welt, oder weniger! Denke ich Ihnen so recht? Topp! Auch ich erschrecke vor einem kleinen Verbrechen nicht.29

Dass Hettore während des Geschehens „vor allem als Liebender“30 in Erscheinung tritt, zeigt sich durch seinen impulsiven Auftritt in der Kirche, in dem er Emilia nur durch seine Person, nicht durch sein Amt zu gewinnen versucht. Dieses private Handeln läuft der Intrige des eigentlichen Staatsrepräsentanten Marinelli zuwider, bleibt aber, dank des Drängens Claudia Galottis, unausgesprochen. Nachdem das leidenschaftliche Unterfangen jedoch scheitert, findet sich der Prinz immer stärker in Machinationen verstrickt, die ihm die zwar die Verfügung über Emilia sicher, ihm aber den Zugang zu ihr versperren werden. Als Hettore Emilia nach der Ermordung Appianis schließlich auf seinem Lustschloss wiederzufinden weiß, ist es nicht sein Glück, sondern das seines Kupplers Marinellis. Aufgrund dessen Geschicks und seiner skrupellosen Taten befindet sich die junge Frau in der Verfügungsgewalt des Prinzen. Trotz seiner Überlegung in der Stellung wie im Habitus zeigt er sich eingeschüchtert, hat er Angst vor ihr, Angst vor dem Gespräch.31 Ratlos und verzweifelt schiebt Hettore jetzt sogar „neue Helfer […] zwischen sich und die Seele oder die Sinne der Emilia.“32 Selbst Odoardo Galotti, den Vater seiner Gefangenen, sucht er als Mittler, als Kuppler zu gewinnen. Er richtet einen weiteren Werbungsversuch an ihn wie anfangs an die Tochter in der Kirche, arglos trotz der ihm aufgezwungenen und feindseligen Situation, in der sich der Vater befindet: „O Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein Vater sein wollten!“33

[...]


1 Lessing, G.E: Emilia Galotti. V(7)

2 Bauer, Gerhard: „EmilaGalotti“. S.8.

3 Hofmann, Michael: Drama. S.106.

4 Gunthe, Karl. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. S.88.

5 Bauer, Gerhard: „EmilaGalotti“. S.11.

6 Ebd.

7 Vgl. Ebd. S.10-11.

8 Vgl. Lessing, G.E: Emilia Galotti. I(1)

9 Schmitt-Sasse, Joachim: Das Opfer der Tugend. S.30.

10 Lessing, G.E: Emilia Galotti. I(1)

11 Rüskamp, Wulf: Dramaturgie ohne Publikum. S.80.

12 Ebd.

13 Schmitt-Sasse, Joachim: Das Opfer der Tugend. S.30.

14 Rüskamp, Wulf: Dramaturgie ohne Publikum. S.81.

15 Lessing, G.E: Emilia Galotti. I(1)

16 Bauer, Gerhard: „Emila Galotti“. S.16.

17 Lessing, G.E: Emilia Galotti. I(6)

18 Ebd.

19 Ebd. I(4)

20 Rüskamp, Wulf: Dramaturgie ohne Publikum. S.99.

21 Ebd.

22 Rüskamp, Wulf: Dramaturgie ohne Publikum. S.109.

23 Ebd. S.99.

24 Dosenheimer, Elise: Das deutsche soziale Drama.S.24.

25 Lessing, G.E: Emilia Galotti. I(6)

26 Rüskamp, Wulf: Dramaturgie ohne Publikum. S.83.

27 Ebd.

28 Lessing, G.E: Emilia Galotti. I(6)

29 Lessing, G.E: Emilia Galotti. IV(1)

30 Bauer, Gerhard: „Emila Galotti“. S.15.

31 Vgl. Ebd.. S.18.

32 Bauer, Gerhard: „Emila Galotti“. S.21.

33 Lessing, G.E: Emilia Galotti. V(5)

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Willkürherrschaft und verlorene Tugendideale in G.E. Lessings „Emilia Galotti“
Hochschule
Universität Paderborn
Note
1,3
Jahr
2016
Seiten
19
Katalognummer
V353395
ISBN (eBook)
9783668395268
ISBN (Buch)
9783668395275
Dateigröße
585 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Emilia Galotti, Willkür, Tugend, Lessing, Hettore, Odoardo, Schuldfrage, Helden, Macht, Freitod, Rache
Arbeit zitieren
Anonym, 2016, Willkürherrschaft und verlorene Tugendideale in G.E. Lessings „Emilia Galotti“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353395

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