Zivilgesellschaft und ausgewählte Aspekte in der politischen Theorie Hannah Arendts


Magisterarbeit, 2010

83 Seiten, Note: 1,15


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Inhaltsverlauf

3 Politische Freiheit
3.1 Positive und negative Freiheit
3.2 Arendts Konzept politischer Freiheit

4 Vita activa
4.1 Arbeiten
4.2 Herstellen
4.3 Handeln

5 Der öffentliche Raum
5.1 Erscheinungsraum
5.2 Gemeinsame Welt
5.3 „Künstlichkeit“ politischen Lebens
5.4 Der räumliche Charakter politischen Lebens
5.5 Der agonistische Charakter des öffentlichen Raumes
5.6 Öffentlich / Privat

6 Das Phänomen der Macht
6.1 Macht und Gewalt
6.2 Intransitive Macht
6.3 Macht und Totalitarismus
6.4 Die Rolle der Macht in der Amerikanischen und der Französischen Revolution

7 Urteilskraft
2. Hauptteil: Hannah Arendt und Zivilgesellschaft

8 Der Begriff der Zivilgesellschaft

9 Arendts Gesellschaftsbegriff

10 Elitismus

11 Ziviler Ungehorsam und das „Projekt demokratischer Selbstregierung“

12 Weltsozialforum
12.1 Das WSF als politischer Neubeginn
12.2 Das WSF als politischer Raum
12.3 Das WSF und das Phänomen der Macht

13 Fazit

Literaturverzeichnis
Primärtexte Arendt
Sekundärliteratur
Internetquellen

14 World Social Forum Charter of Principles

1 Einleitung

Jedes politische Gemeinwesen ist auf die aktive Beteiligung seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Bürgerschaftliches Engagement gilt als wichtige Ressource für die Stabilität von Demokratien, und die Qualität einer demokratischen Gesellschaft muss sich unter anderem daran messen lassen, in welchem Maße ihre Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Prozess teilhaben, d.h. sich an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen.[1]

In Angesicht des durch die Globalisierung herausgeforderten Sozialstaates im 21. Jahrhundert fordern Politiker unterschiedlicher Couleur die Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben durch den aktiven Bürger (Schröder, Bush, Enquete-Kommision). Auch in der Sozialwissenschaft wird vielfach darüber debattiert, inwiefern zivilgesellschaftliches Engagement für das Funktionieren von Demokratien notwendig ist. Eine Vielzahl an Publikationen in den letzten 10 Jahren verweist auf ein verstärktes Interesse am Thema: partizipatorische Demokratie bzw. Zivilgesellschaft. In einem Beitrag über die Zukunft der Demokratie beschreibt Claus Offe z.B. die „Dekonsolidierung der liberalen Demokratie,“ und verweist auf die schwache Teilhabe der Bürger am politischen Geschehen.[2] Auch von anderen Politikwissenschaftlern wird ein Demokratiedefizit konstatiert, auf das nicht selten die Zivilgesellschaft die Antwort bilden soll.[3]

Es ist dieser Rückzug der Menschen aus der Öffentlichkeit ins Private, den Hannah Arendt mit dem Begriff der „Weltentfremdung“ als das große Problem der Neuzeit beschrieb. Wenn in der Politik, in den Medien oder in der Wissenschaft von „Politikverdrossenheit“ die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass die Bürger ihre politische Freiheit, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, nicht wahrnehmen. In dieser positiven Freiheit sah Arendt jedoch den Sinn von Politik. Ihr Freiheitsbegriff ist unabdingbar an das gemeinsame politische Handeln der Bürger gebunden und ihre Hauptwerke „Vita activa“ und „Über die Revolution“ lassen sich als die theoretische Suche nach einem aktiven Bürgerleben interpretieren. Wenn also an der Wende zum 21. Jahrhundert der Appell an den tugendhaft-republikanischen Bürger aktualisiert wird,[4] lohnt sich eine Auseinandersetzung mit der politischen Theorie Hannah Arendts.

Die Idee eines politischen Gemeinwesens, in dem sich die Bürger selbstbestimmt und frei organisieren um über öffentliche Dinge zu befinden, findet sich schon im Ideal der antiken griechischen Stadtgemeinde, der Polis.[5] Hannah Arendt hat sich in ihren Schriften modellhaft auf die antike Polis bezogen. Mit dem griechischen Stadtstaat gab es in der Antike einen öffentlichen Raum, in dem Menschen die Freiheit hatten, gemeinsam zu handeln - im Interesse der Ihnen gemeinsamen Welt. Dieser öffentliche Raum ist für Arendt die notwendige Voraussetzung des Politischen.

Mit Arendts Interpretation von den Begriffen Freiheit, Öffentlichkeit und Macht sowie ihrer Handlungstheorie lassen sich Anhaltspunkte für die politische Selbstorganisation der modernen Gesellschaft gewinnen.[6] Denn ein Problem gegenwärtiger zivilgesellschaftlicher Theorien ist, dass „letztlich der Aufruf zu einem Engagement für die Gemeinschaft und zu einer Opferbereitschaft zugunsten der schwächeren Glieder einer Gesellschaft keine ausreichende theoretische Begründung besitzt und daher einen weitgehend appellativen Charakter behält.“[7] Auch hier zeigt sich der Wert der Arendt’schen politischen Philosophie für Theorien der Zivilgesellschaft, denn sie hat die Frage nach dem Gemeinsinn in ihre politische Theorie integriert.

In der Literatur zum Zivilgesellschaftsbegriff wird immer wieder auf die politische Theorie Arendts verwiesen, wobei ihre Theorie allerdings meist nur oberflächlich analysiert wird. In dieser Arbeit werden deshalb ausgewählte Aspekte der politischen Theorie Arendts in einen Zusammenhang mit Zivilgesellschaft gebracht. Arendt hat jedoch im Gegensatz zu etwa Hegel, Gramsci oder Habermas keinen Begriff der Zivilgesellschaft explizit definiert. Eine Herausforderung dieser Arbeit liegt aus diesem Grund vor allem darin, Arendts Texte für diesen Zusammenhang zu „übersetzen.“

2 Inhaltsverlauf

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Arendts Begriffe der Freiheit, des Handelns, der Öffentlichkeit und der Macht bilden den Rahmen, in dem sich Politik widerspiegelt und in dem sich Politik immer wieder neu konstituieren kann. Im ersten Hauptteil werden deshalb diese ausgewählten Aspekte der politischen Theorie Arendts skizziert. Dabei werde ich mich primär auf die beiden Hauptwerke Arendts, „Vita activa“ und „Über die Revolution“ beziehen.

Im zweiten Hauptteil wird ein Bezug der politischen Theorie Arendts zur Zivilgesellschaft hergestellt. Hier wird in einem ersten Schritt der Begriff der Zivilgesellschaft kurz skizziert und Arendts Gesellschaftskritik gegenübergestellt.

Innerhalb der deutschen Zivilgesellschaftsdebatte hat die Autorengruppe Ulrich Rödel, Günter Frankenberg und Helmut Dubiel Hannah Arendts politische Theorie, insbesondere ihren Begriff positiver Freiheit, zur Begründung eines Modells demokratischer Selbstregierung herangezogen. In Kapitel 11 werde ich deshalb auf den Essay „Die demokratische Frage“[8] eingehen, in welchem die Autoren ein „neorepublikanisches Projekt der Selbstregierung [formulieren, HF ], das um die Frage kreist, wie Arendts emphatisches Projekt des Politischen auf Dauer gestellt und veralltäglicht werden kann.“[9] Hier werde ich schwerpunktmäßig auf das Phänomen des zivilen Ungehorsams eingehen, das neben Arendts Interpretation der Amerikanischen Revolution den Ausgangspunkt für die Theorie der Autoren bildet.

Da Arendts Politiktheorie wegen ihres positiven Rückbezugs auf die griechische Antike immer wieder in der Kritik steht, sie habe elitär-aristokratische Züge und sei aus diesem Grund nicht für eine gegenwärtige Demokratietheorie verwertbar, werde ich in dem Abschnitt „Elitismus“ auf diese Kritik eingehen. Hier werde ich versuchen zu zeigen, dass es sich in der Arendt‘schen Theorie um einen nicht-konventionellen Begriff der Elite handelt, der auch mit demokratischen bzw. zivilgesellschaftlichen Theorien vereinbar ist.

Zum Schluss werde ich aus theoretischer Perspektive das Weltsozialforum als zivilgesellschaftlich-politisches bzw. demokratisches Phänomen mit Rückgriff auf die politische Theorie Arendts beschreiben. Ich werde hierbei vor allem auf ihren Begriff der Macht, ihre Handlungstheorie und die entscheidende Frage, wie öffentliche Sphären als Räume politischen Handelns entstehen und auf Dauer bestehen können, eingehen. Dieser Abschnitt stellt den Versuch dar, mit der politischen Theorie Arendts ein aktuelles zivilgesellschaftliches Phänomen zu beschreiben.

3 Politische Freiheit

Eine Ursache für den Verlust des Geistes der Revolution sah Arendt in den Ideologien des Liberalismus und Marxismus, „den beiden wichtigsten Strömungen des modernen politischen Denkens.”[10] Beide Ideologien sahen nicht den für Arendts politische Theorie fundamentalen Unterschied zwischen Befreiung und Freiheit, also den folgenreichen Unterschied zwischen positiver und negativer Freiheit.[11]

3.1 Positive und negative Freiheit

Isaiah Berlin unterscheidet in „Two Concepts of Liberty“ zwei Formen von Freiheit: Die negative Freiheit bezeichnet einen Zustand, in dem keine von anderen Menschen ausgehenden Zwänge ein Verhalten erschweren oder verhindern, während die positive Freiheit einen Zustand bezeichnet, in dem die Möglichkeit der passiven Freiheit auch tatsächlich genutzt werden kann bzw. tatsächlich genutzt wird.[12]

Der negative Freiheitsbegriff, als Freiheit von etwas, wurde vor allem von liberalen Theoretikern wie John Locke, Adam Smith und Edmund Burke vertreten. Er impliziert primär die zur Selbstentfaltung nötige persönliche Freiheit bzw. einen die persönliche Selbstentfaltung ermöglichenden Spielraum. Die negative Freiheit wird zum Beispiel als Grundrecht in der Verfassung verankert, etwa dem Schutz vor staatlicher Willkür. Dem negativen Freiheitsbegriff entsprechen liberale Freiheitsrechte: „Menschen sind im liberalen Verständnis frei, soweit sie sich innerhalb möglichst weit gezogener Grenzen frei bewegen können, durch die die Freiheiten anderer Individuen geschützt werden.“[13]

Dagegen impliziert der positive Freiheitsbegriff „den aktiven Menschen, der an Entscheidungen, die sein Leben und seinen Lebensraum beeinflussen, aktiv teilhaben will“[14] - also ein eher demokratisches Verständnis von Freiheit.[15] Für Berlin leitet sich „die ‚positive‘ Bedeutung des Wortes ‚Freiheit‘ […] aus dem Wunsch des Individuums ab, sein eigener Herr zu sein. Ich will, dass mein Leben und meine Entscheidungen von mir abhängen und nicht von irgendwelchen äußeren Mächten.“[16] Gemeint ist die republikanische Selbstbestimmung, die Teilhabe am politischen Geschehen. Die moderne Gesellschaft muss beide Formen von Freiheit in sich integrieren, denn die demokratische Selbstbestimmung, aus der politische Legitimität resultiert, muss letztlich durch die Garantie individueller Freiräume ermöglicht werden. In diesem Sinne stehen positive und negative Freiheit in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander, da sie sich gegenseitig stützen und begrenzen.[17]

3.2 Arendts Konzept politischer Freiheit

Hannah Arendts Begriff der Freiheit ist zwar überwiegend positiv konnotiert, er ist aber nicht mit dem positiven Freiheitsbegriff Berlins gleichzusetzen. Komplex verhält es sich auch mit den Freiheitsbegriffen in der Zivilgesellschaftsdebatte: Im Diskurs der Zivilgesellschaft wird auch bei den sehr unterschiedlichen Vorstellungen über die Zivilgesellschaft als einer politischen Gesellschaft „übergreifend und grundlegend von einer Verschränkung beider Freiheitsbegriffe als normativer Grundlage des Politischen ausgegangen.“[18] In der Anerkennung der Notwendigkeit negativer und positiver Freiheit finden die verschiedenen Diskurse der Zivilgesellschaft ihren gemeinsamen normativen Bezugsrahmen.[19]

Arendt differenziert in „Über die Revolution“ zwischen Rebellion und Revolution. Diese Unterscheidung ist in soweit von Relevanz für Arendts Freiheitsbegriff, als das mit diesen Begriffen eine weitere Unterscheidung verknüpft ist, nämlich die zwischen Befreiung und (der Konstitution von) politischer Freiheit, wobei diese Begriffe wiederum mit der negativen bzw. positiven Dimension von Freiheit in Zusammenhang stehen.

Während es der Rebellion um Befreiung geht, zielt die Revolution auf eine Gründung der Freiheit ab,[20] wobei die Prozesse der Befreiung und der Neugründung verschiedenen Stadien eines revolutionären Prozesses entsprechen.[21] Eine Revolution setzt letztlich eine Rebellion, also die Befreiung von alten Herrschaftsverhältnissen, voraus. Die dadurch neu gewonnene Freiheit muss für Arendt allerdings in Institutionen verankert, und durch fortwährendes politischen Handeln am Leben gehalten werden.[22]

Nach Arendt ging es beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts darum, etwas Neues zu beginnen, d.h. eine neue Staatsform zu gründen. Allerdings habe die Französische Revolution durch ihre Erklärung der Menschenrechte lediglich negative Rechte und Freiheiten garantieren können, also noch keine politische Ordnung neu begründen können.[23] Dagegen konnte die Amerikanische Revolution politische Freiheit konstituieren, in dem ihre Akteure mit dem Prinzip der Gewaltenteilung auf die Etablierung von Macht setzten.[24] Der Prozess der Gründung der Freiheit geht bei Arendt mit dem Prozess der Machtbildung und der Konstitution eines öffentlichen Raumes, in dem diese Macht entstehen kann, einher. Nach Arendt ist es den Amerikanern nicht gelungen, diese Voraussetzungen politischer Freiheit dauerhaft am Leben zu halten. Denn die neu gegründete amerikanische Republik, so Arendt, „gab zwar dem Volke die Freiheit, aber sie enthielt keinen Raum, in dem diese Freiheit auch wirklich ausgeübt werden konnte. Nicht das Volk, sondern nur seine gewählten Repräsentanten hatten Gelegenheit, sich wirklich politisch zu betätigen, was heißt, dass nur sie in einem positiven Sinne frei waren. Und da die Bundes- und Länderregierungen […] notwendigerweise alle wirklich entscheidenden politischen Angelegenheiten an sich ziehen und so die alten townhall meetings […] in den Schatten stellen mussten, könnte man sogar auf den Gedanken kommen, dass in der Republik der Vereinigten Staaten weniger Gelegenheit war, sich öffentlicher Freiheit zu erfreuen als in den Zeiten englischer Kolonialherrschaft.“[25]

Den „Geist der Revolution“ dauerhaft zu bewahren könnte nach Arendt die Aufgabe von Räten sein, die gekennzeichnet sind durch „Abwesenheit von Kontinuität, das Fehlen jeglichen organisierten Einflusses“, und der „Spontanität ihrer Entstehung.“[26] Hierzu Arendt: „Wenn der Endzweck der Revolution die constitutio libertatis ist, die Errichtung der Freiheit bzw. die Konstituierung eines öffentlichen Raumes, in dem sie in Erscheinung treten kann, dann sind diese Elementarrepubliken oder Räte, in deren Rahmen jedermann von seiner Freiheit Gebrauch machen kann und also in einem positiven Sinne frei ist, im Grunde der große Endzweck der Republik selbst […].“ Die Räte bzw. Elementarrepubliken können also den Rahmen bilden, in welchem positive Freiheit, bzw. eine weitgehende Partizipation der Bürgerinnen und Bürger möglich wird.

Für Arendt besteht das Wesen der politischen Freiheit aus dem selbstbestimmten, diskursiven Meinungsaustausch gemeinsam handelnder Menschen. Die politische Freiheit bei Arendt ist zudem auf einige Voraussetzungen angewiesen: Um politische Freiheit zu realisieren, bedarf es einer Gemeinschaft, die sich „durch die gemeinsamen Gegenstände des Politischen“[27] auch als Gemeinwesen versteht. Zudem dürfen für Arendt Politik und Freiheit nicht voneinander getrennt sein, sondern müssen vielmehr eine Einheit bilden: „Man kann nicht über Politik sprechen, ohne immer auch über Freiheit zu sprechen, und man kann nicht von Freiheit sprechen, ohne immer schon über Politik zu sprechen.“[28] Die Trennung von Freiheit und Politik erkennt Arendt in der Philosophie Platons und kritisiert, dass hier der Glaube vorherrschte, dass die positive Freiheit nicht frei von Zwang sein könne. Diese Trennung erkennt sie auch in der Neuzeit.[29] Sie verlaufe analog zur der Verwischung der Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. „So versteht man selbst in politischer Theorie gemeinhin unter politischer Freiheit überhaupt kein primär politisches Phänomen, sondern im Gegenteil die mehr oder minder ungehinderte Ausübung nicht politischer Betätigungen, die jeweils von einem Staat erlaubt und garantiert ist.“[30] Politische Freiheit ist dagegen für sie vor allem politische Praxis, das politische Handeln:

„Die Freiheit liegt nicht in einem Ich-will, dem dann je nach dem ein Ich-kann entsprechen oder widersprechen mag, ohne doch die menschliche Freiheit in Frage zu stellen; das Freisein beginnt überhaupt erst mit dem Handeln, so dass Nicht-handeln-Können und Nicht-Freisein auch dann ein und dasselbe bedeuten, wenn die (philosophische) Willensfreiheit intakt fortbesteht. Mit anderen Worten, die politische Freiheit ist nicht „innere Freiheit“, sie kann in kein Innen ausweichen; sie hängt daran, ob eine freie Nation den Raum gewährt, in welchem das Handeln sich auswirken und sichtbar werden kann. Die Macht des Willens, sich durchzusetzen und andere zu zwingen, hat mit diesem Freisein gar nichts zu tun.“[31]

In diesem Zitat Arendts ist der Gedanke wirksam, dass politische Freiheit im „Ich- kann“ angesiedelt ist. Zudem wird auch deutlich, dass Arendts Bestimmung politischer Freiheit nicht problemlos an Berlins Begriffsdefinitionen anzuknüpfen ist. „Denn bei ihm bleibt unklar, ob sie [die Freiheitsbegriffe, HF ] zusammengehören und jeweils verschiedene Aspekte der Freiheit beleuchten oder gar unvereinbare Konzepte sind.“[32]

Die politische Freiheit im Denken Arendts bedarf mehr als etwa den verfassungsmäßig garantierten Schutz vor der Staatsgewalt. Politische Freiheit ist eng an Arendts Begriff der Natalität gebunden, ohne die ein politisches Handeln nicht möglich ist. Das Handeln wiederum setzt Gleichberechtigung und menschliche Pluralität voraus, „denn erst in der Freiheit des Miteinander-Redens entfaltet sich die Welt in ihren unterschiedlichen Perspektiven.“[33]

Arendt widerspricht der Vorstellung, dass der Mensch souverän sei.[34] Ihren Freiheitsbegriff trennt sie daher von einer Vorstellung souveräner Freiheit. Souveränität, verstanden als Unabhängigkeit von anderen Menschen in jeglicher Hinsicht, widerspricht für sie dem Faktum der Pluralität. Unbedingte Autonomie kann es für sie nicht geben, denn die Menschen sind voneinander abhängig: „Diese Abhängigkeit der Menschen untereinander ist evident; sie ist besiegelt schon in dem Faktum der Geburt, insofern die Menschen ja, wie die Griechen sagen, ἐξ ἀλλήλων (ex allelon), aus einander entstehen.“[35] Freiheit wird demnach schon durch die Geburt als Fähigkeit des Neubeginnens erfahren: „Weil er ein Anfang ist, meint Augustinus, kann der Mensch etwas Neues anfangen, also frei sein; und damit es so etwas wie Anfangen in der Welt überhaupt gebe, habe Gott den Menschen erschaffen: ‚[Initium] … ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit.‘“[36] Für Arendt ist somit die Nicht-Souveränität der Menschen bereits mit dem Faktum der Natalität gegeben. Für Arendt können aber nicht nur die einzelnen Menschen nicht souverän sein, sondern auch „die Souveränität einer Gruppe oder eines politischen Körpers [ist, HF ] immer nur ein Schein.“[37]

Für Arendt bilden das Leben und die Natalität fundamentale conditio humanae . Dem Leben entspricht die Arbeit als menschliche Grundtätigkeit unter dem Diktat der Lebensnotwendigkeit. Freiheit definiert Arendt zunächst negativ, als Freiheit von Notwendigkeit. Allerdings ist die Abwesenheit oder Unabhängigkeit von zwingender Notwendigkeit ein zwar notwendiges, jedoch kein hinreichendes Kriterium für Freiheit. Erst durch die andere Grundbedingung menschlicher Existenz, der Natalität, wird ihr Begriff positiver, politischer Freiheit verständlich. Die Natalität gilt bei Arendt als Bedingung der Möglichkeit von Spontanität, d.h. etwas Neues zu beginnen.[38]

Eine weitere Voraussetzung politischer Freiheit ist für Arendt eine politische Sphäre, die sich von der Sphäre des Privatlebens abgrenzt. Der hier angesprochene öffentliche Raum wird in Kapitel 5 noch ausführlich behandelt. An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass Freiheit im Arendt’schen Sinne frei von Herrschaft sein muss. Die Herrschaft verbannt Arendt ins Private, denn sie zerstört den politischen Raum. Die Möglichkeit politisch frei zu handeln setzt voraus, dass die Bürger gleich im Rahmen des Gesetzes sind. Gleichheit der Lebensumstände sind für die politische Sphäre nicht vorgesehen. Politisch handeln können nur diejenigen Bürger, die qua Lebensumstand dazu in der Lage sind. Freiheit muss also von den unentbehrlichen bürgerlichen, privaten Freiheiten abgehoben werden.

Wesentliche weitere Elemente des politischen Freiheitsbegriffs bei Arendt sind Raum und Macht. In „Elemente und Ursprünge“ beschreibt Arendt den räumlichen Charakter der Freiheit so:

„Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt […] nicht darin, dass sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt […]; sondern einzig darin, dass sie Menschen, so wie sie sind, mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, dass der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.“[39]

„Freiheit beginnt somit mit der Bewegungsfreiheit, geht über in die Freiheit von äußeren Beschränkungen und mündet in den eigentlichen Raum des Politischen ein, der ein neues Moment mit sich führt: die Öffentlichkeit […].“[40] In diesem Zitat ist der Gedanke wirksam, dass das Politische letztlich in der öffentlichen Sphäre lokalisiert wird, bzw. dass erst das Politische die öffentliche Sphäre ins Leben ruft. „Der Begriff des Politischen bezeichnet, als Synthesis von Freiheit und Öffentlichkeit, die Gemeinsamkeit der Welt, die res publica, das politisch organisierte Koinon.“[41] Im öffentlichen Raum realisiert sich die politische Freiheit, denn er ist der Ort, in dem die Menschen das Gemeinsame besprechen und politisch handeln. Freiheit wird in diesem Sinne konzipiert als Selbstorganisation einer politischen Gemeinschaft.[42] In diesem Bezug wird auch die Bedeutung der Macht für Freiheit evident, denn ohne die Materialisierung von Macht in politischen Institutionen kann sich politische Freiheit nicht entfalten.[43] „Sie dienen sowohl zum Schutz als auch zur Beschränkung menschlicher Freiheit.“[44] Arendts Machtbegriff wird in Kapitel 6 skizziert.

Wie bereits erwähnt setzt Politische Freiheit bei Arendt die Freiheit von den Notwendigkeiten des Lebens voraus, von denen der Haushalt bestimmt ist.[45] Denn „es ist ja selbstverständlich, dass öffentliche Tätigkeit nur dann möglich ist, wenn für die viel vordringlicheren Lebensnotwendigkeiten gesorgt ist.“[46] Freiheit geht jedoch noch nicht unmittelbar aus der Befreiung von den Lebensnotwendigkeiten hervor. Ein im gesellschaftlichen oder ökonomischen Bereich verbrachtes Leben hat nichts mit politischer Freiheit zu tun, sondern mit einer Freiheit von Politik.

Freiheit wird erst durch das gemeinsame Handeln und Miteinander-Sprechen der Menschen verwirklicht und aktualisiert. Arendts Begriff des Handelns wird im folgenden Kapitel erörtert.

4 Vita activa

Will man die politische Theorie Arendts in Zusammenhang mit Zivilgesellschaft bringen, ist eine Auseinandersetzung mit Arendts Handlungstheorie unabdingbar. Im Folgenden werde ich deshalb Arendts Unterscheidung menschlicher Tätigkeitsformen skizzieren. Dabei soll vor allem herausgearbeitet werden, was Arendt unter politischem Handeln versteht, und wie sich von hieraus ein Verständnis des aktiven Bürgers gewinnen lässt. Arendts Hauptwerk „Vita activa“ enthält eine „existenzialistisch geprägte Phänomenologie“[47] menschlicher Tätigkeiten, in der Arendt zwischen drei menschlichen Grundtätigkeiten unterscheidet: dem Arbeiten, dem Herstellen und dem Handeln.[48]

4.1 Arbeiten

Die Arbeit ist zyklischer Natur. Unter Arbeit versteht Arendt immer wiederkehrende Tätigkeiten des alltäglichen Lebens, wie sie etwa für die Sphäre des Haushalts typisch sind. Arendt versteht Arbeit im antiken Sinne als Versklavung an die Notwendigkeit, und „die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst.“[49] Die Arbeit sei eine von der Öffentlichkeit abgegrenzte und einsame Tätigkeit und von geringstem Wert. Arendts Begriff der Arbeit grenzt sich deutlich vom neuzeitlich-modernen Verständnis ab, denn – und hier liegt wohl der Hauptunterschied zum Herstellen - er beschreibt eine unproduktive Tätigkeit, die „nichts objektiv Greifbares hinterlässt […] und nichts Dauerndes zustande bringt.“[50] Die Arbeit erzeuge im Grunde Konsumgüter, deren Zweck das Verbrauchen ist. Da diese Güter ständig wieder verbraucht würden, habe der Prozess des Arbeitens auch keinen definierten Anfang und kein Ende. Das Arbeiten gehöre in den Bereich der Natur und unterliege deren Notwendigkeit, sei also nicht frei und könne deshalb kein Handeln sein.

4.2 Herstellen

Das Herstellen verlaufe dagegen produktiv und linear. Es habe mit der Idee des Herstellers einen Anfang und sein Ende falle zusammen mit der Fertigstellung des Produkts, das der Hersteller der Welt hinterlässt. Im Gegensatz zur Arbeit bleibe das hergestellte Produkt dauerhaft in der Welt, denn die hergestellten Gegenstände würden bei ihrem Gebrauch nicht zerstört.[51] Da das Herstellen durch einen Zweck determiniert sei, sei es so wenig frei wie das Arbeiten. Wie der Arbeit ist auch dem Herstellen eine Grundbedingung zugeordnet, nämlich die „Weltlichkeit,“[52] denn es produziert eine Welt unzähliger Dinge, in der sich die Menschen bewegen. Während das Arbeiten allerdings eine einsame Tätigkeit ist, bei der der Mensch mit sich selbst ist, bietet das Herstellen die Möglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Der homo faber sei „durchaus fähig, einen ihm angemessenen öffentlichen Bereich zu erstellen, obzwar dies nicht ein politischer Bereich im eigentlichen Sinne des Wortes ist.“[53]

Bezieht sich das Arbeiten als zyklischer Prozess auf den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur als Bedingung der Erhaltung menschlicher Existenz (Mensch ist animal laborans), ist das Herstellen auf die Erzeugung dinglicher Gegenständlichkeit und Objektivität (Mensch ist homo faber) bezogen. Das Arbeiten und das Herstellen finden in einer Dingwelt statt; im Gegensatz zum Handeln bedürfen sie der materiellen Vermittlung. Freiheit hat aber ihren Platz weder in der Natur des Menschen, die durch Arbeit und Notwendigkeit bestimmt ist, noch in der Welt, in der das zweckgebundene Herstellen erfolgt.

4.3 Handeln

“Die Vita activa, menschliches Leben, sofern es sich auf Tätigkeiten eingelassen hat, bewegt sich in einer Menschen- und Dingwelt, aus der es sich niemals entfernt und die es nirgends transzendiert.”[54] Für Arendt spielt sich jede menschliche Tätigkeit in einer Umgebung von Menschen und Dingen ab, sie ist niemals vollkommen isoliert. Diese Umwelt wiederum ist von Menschen geschaffen. Von den drei Tätigkeiten, die Arendt in „Vita activa“ unterscheidet, ist jedoch allein „das Handeln nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft,“[55] es „kann als Tätigkeit überhaupt nicht zum Zuge kommen ohne die ständige Anwesenheit seiner Mitwelt.“ Im Besonderen ist also das Handeln an eine menschliche Umwelt, d.h. an das menschliche Zusammen gebunden.

Die spezifische Tätigkeitsform des Politischen ist das Handeln. Obgleich alle drei Tätigkeitsweisen als gleichsam ontologische Grundtätigkeiten die menschliche Realität (mit)konstituieren, stellt Arendt das Handeln an die Spitze einer Hierarchie der Grundtätigkeiten. Konzipiert als ein Handeln mit anderen, ist das Handeln die einzige menschliche Grundtätigkeit, die sich von Mensch zu Mensch abspielt.

Ihren Handlungsbegriff kennzeichnen zudem vier Charakteristika,[56] die ich im Folgenden kurz skizzieren werde; nämlich Selbstzweckhaftigkeit, Vernunft-dualismus, Spontanität und Kontingenz.

Selbstzweckhaftigkeit

Das Handeln hat selbstzweckhaften Charakter.[57] Als nicht-teleologischer, nicht-instrumenteller Tätigkeitsmodus dient das Handeln nicht primär einem bestimmten Ziel; es hat einen Wert in sich. Als Konsequenz muss Arendt „[…] alle Phänomene des Politischen als selbstzweckhaft und als Teile eines Systems der Gleichartigkeit beschreiben und qualitative Differenzen negieren […]. Politik ist bei Arendt eine selbstbezügliche Praxisform und unterscheidet sich darin von einem Politikverständnis, das in erster Linie auf kognitive Zumutungen im Sinne bestimmter Vernunftansprüche setzt.“[58]

Politisches Handeln bei Arendt ist kein Mittel zum Zweck, sondern in gewissen Sinne ein Selbstzweck: “[…] One does not engage in political action simply to promote one’s welfare, but to realize the principles intrinsic to political life, such as freedom, equality, justice, solidarity, courage, and exellence.”[59] Das Politische hat seine eigenen Werte und Ziele, die im politischen, deliberativen Handeln realisiert werden. Für Arendt ist „[politics, HF ] concerned with the world as such and not with those who live in it.“[60]

In dem Charakter der Selbstzweckhaftigkeit des Handelns lässt sich eine Affinität zwischen Arendts Begriff des Handelns und ihrem Machtbegriff ausmachen. Denn auch ihr Machtbegriff, den ich im Abschnitt 6.2 als intransitives Phänomen beschreibe, ist nicht-teleologisch. Zudem entsteht Macht wie das Handeln durch „Zusammenschluss, durch Kommunikation, durch sprachliches Handeln.“[61]

Vernunftdualismus

Arendts Handlungsbegriff liegt die Unterscheidung von zwei Vernunftformen zugrunde. Herstellen und Arbeiten werden in „Vita activa“ als Prozesse beschrieben, die kontinuierlich erfolgen und nichts Neues hervorbringen. Das Handeln dagegen ist spontan und kreativ. Es ist darüber hinaus – verstanden in einem anthropologischen Sinne – gekennzeichnet durch die Qualität des Neuen. Während das Arbeiten an zweckrationales Verhalten gekoppelt ist, ihm eine „Grundsatzrationalität“ entspricht, ist das Handeln durch eine „Vernunft des Außeralltäglichen oder eine okkasionelle Rationalität“[62] gekennzeichnet. Arendt stellt das Handeln dem Sich-Verhalten in der Massengesellschaft gegenüber.

Spontanität

Die drei Formen menschlicher Tätigkeit sind eingelassen in zwei fundamentale Bedingungen menschlicher Existenz, nämlich Natalität und Mortalität. Anders als das Arbeiten und das Herstellen ist das Handeln auf die Natalität bezogen. Mit dem Handeln verbindet Arendt die Möglichkeit der Menschen, etwas Neues zu beginnen. Gemeint ist die mit der Natalität des Menschen gegebene Möglichkeit des Neuanfangs. Im folgenden Zitat zeigt sich Arendts Bestimmung des Handelns im Wesentlichen als ein Beginnen:

„In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe; jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen άρχειν. Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. [Initium] ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit – ‚damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab.‘“[63]

Arendts Vorstellung der Fähigkeit der Menschen, spontan einen Neuanfang zu machen, spiegelt sich vor allem in ihren Analysen der Revolutionen wieder. In „Über die Revolution“ schreibt sie: „Alles Handeln, alles ‚Agieren‘ in dem ursprünglichen Sinn von ‚etwas in Bewegung setzen‘ setzt die Vorstellung, ja die Existenz von Anfängen voraus. Von diesen Neuanfängen im Kontinuum historischer Zeit geben die Revolutionen letztlich Kunde.“[64]

Im Gegensatz zu Herstellen und Arbeiten ist Handeln im Denken Arendts ein Anfangen, ein Beginnen. Jedoch ist nicht jedes Beginnen gleich ein Handeln: Erst der Ort und die Voraussetzungen, unter denen das Neue realisiert wird, machen es zum Handeln, zu eigentlich politischem Tun. Der Ort des Handelns und somit des Politischen ist der öffentliche Raum, die Öffentlichkeit, in der sich die Bürger in ihrer Vielheit als Ebenbürtige begegnen.

Kontingenz

Eine Handlung kann ausbleiben, sie muss nicht mit Notwendigkeit geschehen. „Es kann kaum etwas kontingenteres geben als gewollte Handlungen, die – wenn man vom freien Willen ausgeht – alle als Handlungen definiert werden können, von denen man weiß, dass man sie auch hätte unterlassen können.“[65]

Im Handeln offenbart sich zudem die „personale Einzigartigkeit“[66] des menschlichen Wesens. Als Person und nicht als Subjekt gedacht, existiert die Einzigartigkeit der Person nur im Miteinander der Personen, also nur unter der Grundbedingung der Pluralität. „Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens[…].“[67] „Im Sprechen und Handeln offenbaren die Menschen wer sie sind, sie zeigen aktiv ihre personale Einzigartigkeit, ihre personale Identität […]. Die Einzigartigkeit der Person […] wird nur im öffentlichen Sprechen und Handeln sichtbar […].[68] Arendt bindet den Vorgang des Sichtbarwerdens des Menschen in seiner Einzigartigkeit an die Anwesenheit anderer Menschen. Das Handeln als genuin menschliche Tätigkeit bedarf also stets der „Anwesenheit einer Mitwelt.“[69]

Unter den drei skizzierten Tätigkeiten ist das Handeln letztlich die Form mit dem höchsten Wert. Denn das Handeln findet nur in Freiheit statt bzw. schafft einen Raum der Freiheit, den Raum der Öffentlichkeit.[70] Insgesamt ist Arendts Begriff des Handelns eng mit ihrem Begriff der Öffentlichkeit verknüpft. Denn nur im „acting in concert,“[71] also der Interaktion mit anderen Menschen können Individuen handelnd aktiv werden.

5 Der öffentliche Raum

In „Vita activa“ definiert Hannah Arendt den Begriff des Öffentlichen folgendermaßen:

„Das Wort ‚öffentlich‘ bezeichnet zwei eng miteinander verbundene, aber doch keineswegs identische Phänomene: Es bedeutet erstens, dass alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Dass etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, dass ihm Wirklichkeit zukommt. […] Der Begriff des Öffentlichen bezeichnet zweitens die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen. […] In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, dass eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist.“[72]

Damit erhält der öffentliche Raum bei Arendt zwei Dimensionen. Seiner ersten Bedeutung entspricht als phänomenologische Dimension „dessen Qualität als Raum des Erscheinens; “ der zweiten Bedeutung entspricht „dessen Qualität, eine gemeinsame Welt zu sein. [73]

5.1 Erscheinungsraum

Als Raum des Erscheinens stellt die öffentliche Sphäre die nötige Öffentlichkeit zur Verfügung, die den Menschen ihre (gemeinsame) Realität verleiht und ihre Handlungen zugänglich, d.h. nachvollziehbar und bewertbar macht.[74] Der Raum des Erscheinens entsteht potenziell immer dann und dort, „wo […] Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen; als solcher liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils gestaltet und organisiert wird.“[75] In diesem Sinne ist der Erscheinungsraum nicht gebunden an bestimmte Institutionen oder einen bestimmten Ort; „rather, it comes into existence whenever action is coordinated through speech and persuasion and is oriented toward the attainment of collective goals.“[76] Allerdings ist der Öffentliche Raum als Erscheinungsraum, da er seine Existenz dem gemeinsamen Handeln und der gemeinsamen Deliberation verdankt, äußerst fragil und zudem auf die Permanenz bzw. Wiederholung der Handlungen angewiesen. Der Erscheinungsraum „liegt in jeder Ansammlung von Menschen potenziell vor, aber eben nur potenziell […].“[77] D’Entreves weist ausdrücklich auf den potenziellen Charakter des Erscheinungsraums hin:

[...]


[1] Vgl. hierzu die Ausgabe Bürgerschaftliches Engagement, Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 12., 2006.

[2] Offe, Claus, Demokratisierung der Demokratie: Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt/M.: Campus-Verl., 2003. S. 9-24.

[3] Vgl. ebd.

[4] Schmidt, Manfred G., Demokratietheorien: Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss., 2008. S. 14.

[5] In Abgrenzung zum heutigen Verständnis, das bürgerschaftliches Engagement vor allem jenseits der staatlichen Strukturen lokalisiert, vollzog sich das bürgerschaftliche Engagement in der Polis allerdings im Rahmen des bestehenden Staates.

[6] Klein, Ansgar, Der Diskurs der Zivilgesellschaft: Politische Kontexte und demokratietheoretische Bezüge der neueren Begriffsverwendung. Opladen: Leske + Budrich, 2001. S. 340.

[7] Lohmann, Georg, Demokratische Zivilgesellschaft und Bürgertugenden in Ost und West. Frankfurt/M.: Lang, 2003. S. 67. Vgl. hierzu: Mallinckrodt, Marie von, Politische Freiheit als politische Theorie: Hannah Arendts Konzept der politischen Freiheit und dessen Einfluss auf zeitgenössische Theorien der Zivilgesellschaft. Univ., Diss. Salzburg, 2006. S. 6f.

[8] Rödel, Ulrich/Frankenberg, Günter/Dubiel, Ulrich, Die demokratische Frage. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989.

[9] Adloff, Frank, Zivilgesellschaft: Theorie und politische Praxis. Frankfurt/M.: Campus-Verl., 2005. S. 61.

[10] Bonacker, Thorsten, „Die politische Theorie des freiheitlichen Republikanismus: Hannah Arendt“, in: Brodocz, Andre und Schaal, Gary S. (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart I. VS Verl. für Sozialwiss.: Wiesbaden, 2002. S. 186.

[11] Isaac, Jeffrey C., „Oases in the Desert. Hannah Arendt on Democratic Politics“, in: ders., Democracy in Dark Times. N.Y: Cornell Univ. Press, 1998. S. 102.

[12] Vgl. Berlin, Isaiah, Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1995.

[13] Nohlen, Dieter, „Freiheit“, in: ders., Wörterbuch Staat und Politik. München: Piper, 1991.

[14] Mallinckrodt, Politische Freiheit, a.a.O., S. 28.

[15] Der Politologe Peter Graf Kielmannsegg teilt die Vertreter beider Positionen auf in Liberale (negative Freiheit) und Demokraten (positive Freiheit).

[16] Berlin, Freiheit, a.a.O., S. 211.

[17] Vgl. Mallinckrodt, Politische Freiheit, a.a.O., S. 29f.

[18] Klein, Der Diskurs der Zivilgesellschaft, a.a.O., S. 311.

[19] Ebd., S. 2.

[20] Vgl. Arendt, Über die Revolution, a.a.O., S. 184.

[21] Vgl. ebd.

[22] Vgl. ebd., S. 185.

[23] Vgl. ebd., S. 186

[24] Vgl. ebd., S. 191 und S. 194f.

[25] Ebd. S. 302.

[26] Ebd. S. 338.

[27] Ebd., S. 30.

[28] Arendt, Hannah, „Freiheit und Politik“, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, (Hg. von Ursula Ludz). München: Piper, 2000. S. 201.

[29] Vgl. Arendt, Hannah, Über die Revolution. München, Zürich: Piper, 2000. S. 35.

[30] Ebd., S. 35.

[31] Arendt, „Freiheit und Politik“, a.a.O., S. 216.

[32] Meints-Stender, Waltraud, Politische Urteilskraft oder Wie die Menschen sich im Handeln und Denken orientieren: Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Univ., Diss. Oldenburg, 2009. S. 167.

[33] Meints-Stender, Politische Urteilskraft, a.a.O., S. 168. Vgl auch: „Da sie [die politische Freiheit, HF ] dem Bürger und nicht dem Menschen überhaupt zukommt, kann sie sich nur in Gemeinschaften zeigen, wo die vielen Zusammenlebenden in Wort und Tat miteinander verkehren, geregelt durch viele rapports – Gesetze, Sitten, Gebräuche und Ähnliches. Mit anderen Worten, politische Freiheit ist nur möglich in der Sphäre der menschlichen Pluralität […].“ Arendt, Hannah, Vom Leben des Geistes: Das Denken, das Wollen. München: Piper, 2002. S. 425.

[34] Vgl. Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper, 2007. S. 299.

[35] Arendt, „Freiheit und Politik“, a.a.O., S. 214.

[36] Ebd., S. 220. Das griechische Wort Handeln bedeutet anfangen und durchführen.

[37] Arendt, „Freiheit und Politik“, a.a.O. S. 214.

[38] „Die Abgrenzung des Bereichs des Politischen und der Freiheit vom Bereich des Ökonomisch- Gesellschaftlichen der Arbeit stellt den vielleicht wesentlichsten negativen Ausdruck des Arendt‘schen Freiheitsbegriffes dar, der sich hier in den Kategorien der Notwendigkeit und der Zeit artikuliert.“ Reist, Manfred, (Hrsg.), Die Praxis der Freiheit: Hannah Arendts Anthropologie des Politischen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1990. S. 264.

[39] Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München: Piper, 2006. S. 958. (Hervorhebung von mir, HF).

[40] Reist, Die Praxis der Freiheit, a.a.O., S. 246f.

[41] Reist, Die Praxis der Freiheit, a.a.O., S. 265.

[42] Vgl. ebd.

[43] Vgl. Meints-Stender, Waltraud, „Politische Freiheit. Über die Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses im Politischen“, in: dies. /Daxner, Michael/Kraiker, Gerhard (Hrsg .), Raum der Freiheit: Reflexionen über Idee und Wirklichkeit; Festschrift für Antonia Grunenberg. Bielefeld: Transcript, 2009. S. 215.

[44] Ebd.

[45] Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 40.

[46] Ebd. S. 79.

[47] Thaa, Winfried, „Hannah Arendts Demokratisierung der Kulturkritik“, in: Thaa, Winfried und Lothar Probst (Hrsg.), Die Entdeckung der Freiheit: Amerika im Denken Hannah Arendts. Berlin: Philo, 2003. S. 125. Vgl. auch: Greven, Michael Th., „Hannah Arendts Handlungsbegriff zwischen Max Webers Idealtypus und Martin Heideggers Existenzialontologie“, in: Thaa, Winfried und Lothar Probst (Hrsg.), Die Entdeckung der Freiheit: Amerika im Denken Hannah Arendts. Berlin: Philo, 2003. S. 119.

[48] Die Antike hat diesen Unterschied zwischen der Arbeit und dem Herstellen nicht gemacht. Beide Tätigkeiten waren gleichermaßen in den Bereich des Privaten verbannt. Der Grund für die Trennung zwischen Arbeiten und Herstellen mag ihrer Kritik des Marx’schen Arbeitsbegriffs geschuldet sein. Vgl. Zum Kolk, Philipp, Hannah Arendt und Carl Schmitt: Ausnahme und Normalität - Staat und Politik. Frankfurt/M.: Lang, 2009. S. 25. Da jedoch allein das Handeln für Arendt eine politische Tätigkeit darstellt, lässt sich Arendts Handlungstrichotomie als Dichotomie zwischen Handeln auf der einen, und Arbeiten und Herstellen auf der anderen Seite interpretieren.

[49] Arendt, Vita activa, a.a.O. S. 14. Zu Arendts Arbeitsbegriff im Kontext ihres Bürgerbegriffs vgl. Breier, Karl Heinz: „Freiheit ist immer republikanisch. Zu Hannah Arendts Bürgerwissenschaft“, in: Burmeister, Hans-Peter (Hrsg.), Die Welt des Politischen: Hannah Arendts Anstöße zur gegenwärtigen politischen Theorie; zum 20. Todestag von Hannah Arendt. Rehburg-Loccum: Evang. Akad. Loccum Protokollstelle, 1996. S. 55f.

[50] Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 104.

[51] Vgl. Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 161-165.

[52] Ebd., S. 14.

[53] Ebd., S. 191.

[54] Ebd., S. 33.

[55] Ebd.

[56] Buchstein/Speth, „Hannah Arendts Theorie intransitiver Macht“, a.a.O., S. 230f.

[57] Die Struktur des Selbstzweckhaften ist charakteristisch für eine Reihe weiterer Begriffe in der politischen Theorie Arendts.

[58] Buchstein/Speth, „Hannah Arendts Theorie intransitiver Macht“, a.a.O., S. 230.

[59] Ebd., S. 148.

[60] Ebd.

[61] Vowinckel, Anette, „Hannah Arendts Begriff der Macht“, in: Horster, Detlef, Verschwindet die politische Öffentlichkeit? Hannah-Arendt-Lectures und Hannah-Arendt-Tage 2006. Weilerswist: Velbrück Wiss., 2007. S. 45-56.

[62] Buchstein/Speth, „Hannah Arendts Theorie intransitiver Macht“, a.a.O., S. 230. Revolutionen sind allerdings durch ihre Außeralltäglichkeit gekennzeichnet. „Für das Alltagshandeln wird dies zum Problem, den es kann nicht immerzu Anfänge geben, und die Freiheit kann nur einmal begründet oder eben durch eine Handlung wieder abgeschafft werden.” Ebd., S. 232.

[63] Ebd., S. 215f. (Hervorhebungen von mir, HF).

[64] Arendt, Hannah, Über die Revolution. München, Zürich: Piper, 2000. S. 266.

[65] Arendt, Hannah, Vom Leben des Geistes: Das Denken, das Wollen. München: Piper, 2002. S. 17.

[66] Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 219.

[67] Ebd.

[68] Althaus, Claudia, Erfahrung denken: Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000; Univ., Diss. Siegen, 2000. S. 315.

[69] Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 34.

[70] Vowinckel, „Hannah Arendts Begriff der Macht“, a.a.O., S. 49.

[71] Arendt, „Freiheit und Politik“, a.a.O. S. 224.

[72] Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 62-66.

[73] Benhabib, Seyla, Hannah Arendt - Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. S. 206.

[74] Vgl. Passerin d'Entrèves, The political philosophy of Hannah Arendt, a.a.O., S. 141.

[75] Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 251.

[76] Passerin d'Entrèves, The political philosophy of Hannah Arendt, a.a.O., S. 141.

[77] Arendt, Vita activa, a.a.O., S. 251.

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Zivilgesellschaft und ausgewählte Aspekte in der politischen Theorie Hannah Arendts
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,15
Autor
Jahr
2010
Seiten
83
Katalognummer
V354132
ISBN (eBook)
9783668402089
ISBN (Buch)
9783668402096
Dateigröße
978 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zivilgesellschaft, Arendt, Vita Activa, Elitismus, Weltsozialforum, Macht, Handeln
Arbeit zitieren
Hauke Filmer (Autor:in), 2010, Zivilgesellschaft und ausgewählte Aspekte in der politischen Theorie Hannah Arendts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354132

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