Der methodologische Ansatz der „Habitus-Hermeneutik“ im Sinne von Pierre Bourdieu


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

40 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Leben und charakteristische Werke
1.2 Problemstellung und Gang der Untersuchung

2. Theoretischer Bezugsrahmen seines methodologischen Ansatzes
2.1 Philosophische Einflüsse
2.2 Konzept der Strategie
2.3 Zentrale Kategorien und Theoreme
2.3.1 Habitus
2.3.2 Kapitalarten
2.3.3 Sozialer Raum und Lebensstile
2.3.4 Feld

3. Sozialanalyse der französischen Gegenwartsgesellschaft
3.1 Hintergrund und Struktur der Studie
3.2 Ansatz der Habitus-Hermeneutik
3.2.1 Minimierung der gesellschaftlichen Asymmetrie
3.2.2 Anforderungen an den wissenschaftlichen Beobachter
3.2.3 Orientierungsraster
3.2.4 Auswertung des Interviews
3.3 Interview: Nachtarbeit von Rosine Christin
3.3.1 Sequenzen der Konversation
3.3.1.1 Danielles Alltag
3.3.1.2 Arbeitsabläufe und Strukturen bei der Post
3.3.1.3 Probleme der nächtlichen Arbeitszeit
3.3.1.4 Zugang nach Paris und das Bedürfnis nach Integration...
3.3.2 Danielles Positionierung im sozialen Raum und mögliche Verortung ihres Habitus

4. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Leben und charakteristische Werke

Pierre Bourdieu (1930-2002) war ein führender französischer Soziologe, Philosoph, Ethnologe und politisch engagierter Intellektueller. Er wurde am 1. August 1930 in dem Dorf Denguin, in der Provinz Béarn in unmittelbarer Nähe der Pyrenäen, geboren. Er stammte aus der Volksklasse, bzw. Unterschicht, denn seine Ahnen waren bis zur Generation seiner Eltern Bauern. Sein Vater brach erstmals mit dieser Familientradition und wurde Postbeamter, wobei jedoch die Enttraditionalisierung und der Übergang seiner Familie zur Lohnarbeitsgesellschaft nichts daran änderte, dass Bourdieu bildungsfern aufwuchs. Seine eigene soziale Laufbahn führte ihn aus dem bescheidenen Milieu vertikal und horizontal durch den sozialen Raum, denn dank seiner wachen Intelligenz besuchte er erst ein Provinz- und später ein Elitegymnasium in Paris.

Obgleich er selbst einen geradlinigen Aufstieg durch Bildung verzeichnen konnte, machte er immer wieder Erfahrungen sozialer Ungleichheit. Bourdieus Position während seiner Schulzeit lässt sich, will man es im Sinne seines Werkes Elend der Welt ausdrücken, als intern Ausgegrenzter bezeichnen (vgl. Bourdieu et al., 2010, S. 283ff.). Obgleich er auf das gleiche Elitegymnasium wie seine bürgerlichen Mitschüler ging, sprach er einen anderen Dialekt, war anders gekleidet und musste aufgrund der Geldknappheit seiner Eltern für längere Zeit im Internat bleiben. Er ahnte, dass die schulischen Institutionen nicht ausschließlich nach fachlicher Eignung klassifizierten, sondern dass hinter dem vermeintlich neutralen Bewertungsstandards oftmals auch soziale Distinktionen den Ton angaben. Schon früh entwickelte er ein Gespür dafür, dass die schulischen Bewertungen häufig von dem Sozialstatus der Eltern abhängen, dass der soziale Habitus, den man von Haus aus mitbekommt, ebenso Berücksichtigung findet wie ein abweichender Dialekt.

Im Anschluss an seine Schulzeit nahm er ein Studium der Philosophie auf, weil dieses zu der damaligen Zeit in der Hierarchie der Disziplinen das höchste Ansehen nach sich zog. Er befasste sich in seiner Diplomarbeit mit Leibnitz und schloss sein Studium als Bester seines Jahrgangs ab. Nach Beendigung seines Studiums musste er, wie in Frankreich zu dieser Zeit üblich, eine Gegenleistung für seine Bildung auf Kosten des Staates und der Allgemeinheit erbringen, sodass er selbst ein Jahr Philosophie unterrichtete. Nach diesem Jahr wurde er als Soldat für den Militärdienst in Algerien eingezogen, wobei ihm dieser Dienst durch die Güte eines hohen Offiziers erträglich gemacht wurde. Dieser versetzte ihn aufgrund der Bekanntschaft mit seiner Mutter, zu seinem Schutz in die Schreibstube. Dort nutzte er seine nahezu vollständige Freistellung um Beobachtungen anzustellen. Er analysierte, wie sich in Algerien nach und nach die kapitalistische Sozialordnung durchsetzte und diese die traditionelle algerische Gesellschaft ins Wanken brachte (vgl. Heinritz & König, 2014, S. 14). Er betrachtete den Alltag der Menschen und wollte ihre gesellschaftlichen Nöte verstehen, stieß jedoch unter den Verhältnissen des Algerienkrieges an die Grenzen der Philosophie, sodass er anfing seine philosophischen Fragestellungen mit Hilfe von Methoden der empirischen Sozialforschung zu beantworten (vgl. Jurt, 2008, S. 4).

Nachdem Bourdieu 1958 aus der Militärpflicht entlassen wurde und seine Algerienstudien noch nicht beendet hatte, fand er für zwei weitere Jahre eine Anstellung als Assistent im Fachbereich der Soziologie an der Universität von Algier. Dort machte eine Reihe von sozio-ethnologischen Untersuchungen und betrieb intensive Feldforschungen zu den alltäglichen und kulturellen Praktiken Algeriens. Während seiner Zeit in Algerien wurde schon ein Grundzug aller Arbeiten Bourdieus deutlich: er fokussierte sich nicht nur auf einzelne Aspekte der Gesellschaft, sondern ihn interessierte darüber hinaus die Komplexität der ablaufenden Prozesse, die er zueinander in Beziehung setzte. Er nahm bspw. die unterschiedlichen Einstellungen und Strategien in den Blick, die die vorkapitalistisch sozialisierten Algerier nutzten und setzte diese in Beziehung zu kapitalistischen Denkweisen (vgl. Rehbein & Saalmann, 2009, S. 113). Bourdieu gewann dabei grundlegende Einsichten, die sich den bisherigen Modernisierungsthesen widersetzten, wie z. B. dass alte Formen des Denkens und Handelns auch unter veränderten Bedingungen fortbestehen (vgl. ebd.). Damit wies Bourdieu auf die entscheidende Bedeutung der familiären Sozialisation hin. Er verfasste drei große Werke während seiner Zeit in Algerien: Sociologie de l ‘ Alg é rie (vgl. Bourdieu, 1958) , Travail et travailleurs en Alg é rie (vgl. Bourdieu et al., 1963) und Le d é racinement (vgl. Bourdieu & Abdelmalek, 1964). Hinzu kamen mehrere wichtige Aufsätze, die sich mit dem Krieg, dem Geschlechterverhältnis, der Migration und dem Stadt-Land-Gegensatz beschäftigten.

Zurück in Frankreich wendete er seine neugewonnenen Methoden an und untersuchte die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Heimatdorf Bearn. Er verfasste mehrere Studien und bündelte diese im Junggesellenball (vgl. Bourdieu, 2008), einem Entwurf, der sich mit dem Verfall der bäuerlichen Gesellschaft beschäftigt. Bourdieu unterrichtete von 1962 bis 1964 Soziologie als Dozent an der Universität Lille und begann über ein weites Feld von Themen wie der Fotografie bis hin zu Museumsbesuchen zu forschen. Weiteres zentrales Ereignis seiner wissenschaftlichen Laufbahn war die Herausgabe des Werkes Die feinen Unterschiede (vgl. Bourdieu, 1982), das erstmalig 1979 in Frankreich erschienen ist und u. a. kulturelle Abgrenzungsmechanismen (Distinktion, Prätention, Notwendigkeit) zwischen einzelnen gesellschaftlichen Schichten thematisiert. Darüber hinaus übte er soziale Kritik wie z. B. im Rahmen der 1993 erstmals in Frankreich veröffentlichten und von ihm herausgegebenen Studie Das Elend der Welt (vgl. Bourdieu, 2010), die in der vorliegenden Arbeit ausführliche Berücksichtigung findet. Neben dieser Analyse stellte er weitere Felduntersuchungen an, z. B. über Eigenheimbesitzer und die Rolle der Intellektuellen, die eine Kritik ihrer einschließt. Darüber hinaus übte Bourdieu auch politische Kritik und engagierte sich in den 1990 er Jahren gegen die neoliberale Globalisierung in allen ihren Ausläufen. Feministische Kritik, Ideologiekritik sowie Kritik der Medien waren weitere Themen, derer er sich annahm. Seine rund 40 Jahre Arbeit hinterlassen 37 Bücher und rund 1800 Publikationen (vgl. Mörth & Fröhlich, 1994 zit. in Müller, 2014, S. 11), die in viele Sprachen übersetzt und weltweit Beachtung gefunden haben. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, Doktorwürden und Ehrenbezeichnungen. Bourdieu stirbt überraschend am 23. Januar 2002.

1.2 Problemstellung und Gang der Untersuchung

Im Laufe seines Forscherlebens decodierte Bourdieu zahlreiche Arten des Handelns und erstellte verschiedene Habitusanalysen. Allerdings hinterließ er keine spezifische Methode, sondern nur Ansätze, zur Analyse und Differenzierung von Habitusmustern (vgl. Bremer & Teiweis-Kügler, 2009, S. 96; vgl. Lange-Vester, 2013, S. 196). Die Wurzeln des methodologischen Ansatz der Habitus-Hermeneutik gehen im deutschsprachigen Raum bis Mitte der 1980er Jahre zurück, wo sich die Forschungsgruppe am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover erstmals mit Fragestellungen beschäftigten, die mit dem gesellschaftlichen Strukturwandel zusammen hängen (vgl. Vester et al., 2001). Im Rahmen ihrer Analyse der westdeutschen Sozialstruktur entstand der Begriff der Habitus- Hermeneutik, der darauf hinweist, dass die soziale Position oder Kapitalkonfiguration eines Individuums nicht für sich spricht, sondern dass mit dem Verstehen eines Habitus eine spezifische Deutungsarbeit geleistet werden muss. Bremer und Teiweis-Kügler (vgl. 2009, S. 93) weisen darauf hin, jene Ansätze überdacht und abgeändert, jedoch keine Methode wirklich neu entwickelt zu haben.

Da ein wichtiges Zitat von Bourdieu lautet: „Verstehen heißt zunächst, das Feld zu verstehen, mit dem und gegen das man sich entwickelt“ (Bourdieu, 2002, S. 11), wird diese für seinen soziologischen Ansatz wesentliche Aussage im weiteren Verlauf der Arbeit in Relation zu seinem zeitgenössischen philosophischen Umfeld, gesetzt. Nachdem Bourdieus methodisches Vorgehen skizziert und ausgewählte Begriffe seines empirischen Baukastens vorgestellt wurden, folgt in Kapitel 3 die Vorstellung seiner Sozialanalyse mit dem Titel Das Elend der Welt (vgl. Bourdieu et al., 2010). Es werden sowohl die Rahmenbedingungen, als auch der Aufbau der Studie thematisiert, um das zugrunde liegende methodische Konzept des Verstehens nachvollziehen zu können. Bevor der Ansatz der Habitus-Hermeneutik thematisiert wird, der auf dem Konzept des Verstehens basiert, wird ein Blick auf den wissenschaftlichen Beobachter und seine Rolle im Rahmen des Forschungsprozesses geworfen. Für die Textinterpretation (vgl. ab 3.3.1) wurde das Interview in vier Abschnitte unterteilt. Jeder Abschnitt beinhaltet zwischen fünf und zehn Antworten der Interviewten. Aus Platzgründen erfolgt anfänglich eine ausführlichere Interpretation, wobei im weiteren Fortschreiten der Analyse die anfänglich generierten Habitushypothesen entweder näher bestimmt oder falsifiziert werden. Bevor ein Fazit gezogen wird, wird versucht eine denkbare Positionierung der Akteurin im sozialen Raum darzustellen, sowie eine mögliche Verortung ihres Habitus vorzunehmen.

Da Die Akteurin Danielle im Einleitungstext und Interview bei ihrem Vornamen genannt wird, wurde sich bei ihrer Interviewerin im folgenden ebenso dazu entschieden. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass beide sich in der direkten Ansprache auf Augenhöhe begegnen können. Vorwegnehmend kann hinzugefügt werden, dass es per se ungünstig ist, wenn ein Interpret einen Text alleine analysiert, da keine Perspektivenvielfalt gegeben ist und verschiedene Deutungsmöglichkeiten nicht diskutiert und miteinander ausgehandelt werden können.

2. Theoretischer Bezugsrahmen seines methodologischen Ansatzes

2.1 Philosophische Einflüsse

Als Bourdieu in den 1950 er Jahren seine Arbeit aufnimmt, wurde das französische philosophische Feld durch Jean-Paul Sartre (1905-1980) und seine Subjektphilosophie bestimmt (vgl. Jurt, 2008, S. 11). Sartre wurde zu der damaligen Zeit als ein lückenlos Intellektueller beschrieben, der mit seiner breit aufgestellten Themenwahl auch über den akademischen Kreis hinaus gesellschaftliche Anerkennung fand. Bourdieu setzte sich kritisch mit Sartres Subjekt- und Freiheitsphilosophie auseinander, die davon ausgeht, dass alle Subjekte frei und selbst bestimmt handeln und dass somit jegliche Begebenheiten ausschließlich auf bewusste und freie Entscheidungen der jeweiligen Individuen zurückzuführen sind (vgl. Fuchs-Heinritz & König, S. 186ff.).

Neben dem Existenzialismus dominierte im Nachkriegs- Frankreich ebenso die konträre Position des Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss (1978), die auch als Philosophie ohne Subjekt, bezeichnet wird. Diese wichtige Variante des Objektivismus basiert auf der Vorstellung, dass das soziale Leben von mentalen gesellschaftlichen Strukturen bzw. von Strukturgesetzen der kapitalistischen Produktionsweisen dominiert wird (vgl. Müller, 2014, S. 28). Bourdieu erkannte als entscheidende Neuerung dieser Strömung die Einführung des relationalen Denkens in die Sozialwissenschaften an (vgl. Müller, 2014, S. 29). Demnach wird jedes Element durch die Beziehungen zu anderen Elementen innerhalb eines Systems charakterisiert. Allerdings überzeugten Bourdieu beide gegensätzlichen Positionen nicht gänzlich. So positionierte er sich gegen den zu damaliger Zeit in Mode gekommen Existenzialismus, da ihm bei der vorrangigen Betrachtungsweise der individuellen Willensvorgänge eine Beachtung der gesellschaftlichen Strukturen und deren Wirkungsweisen fehlte. Auf der anderen Seite kritisierte er beim Strukturalismus, dass dieser die gesellschaftlichen Strukturen zu stark in den Vordergrund stellte und dabei eine angemessene Vorstellung des sozialen Handelns nahezu gänzlich unbeachtet ließ (vgl. ebd.). Dennoch erkannte er an, dass jedes Phänomen, was die Soziologie untersucht, kontextabhängig in seinem relationalen Zusammenhang betrachtet werden muss.

2.2 Konzept der Strategie

Bourdieu stellte fest, dass es hilfreich ist, möchte man die Struktur der sozialen Welt näher beleuchten, nach dichotomen Paaren zu suchen um dann in einem weiteren Schritt nach den Zusammenhängen zwischen diesen Strukturen zu fragen (vgl. Müller, 2014, S. 29). Dichotomien beruhen dabei auf der Einteilung in zwei Gruppen und bezeichnen zum Bsp. ein komplementäres Begriffspaar wie jung und alt. An diesem Gegensatzpaar setzt die strukturale Methode an und konstruiert daraus weitere Äquivalenzen und Analogien in anderen Bereichen, die entweder dem einen oder anderen Gegensatz zugeordnet werden können. Nimmt man bspw. das Begriffspaar weiblich und männlich, lassen sich in einem weiteren Schritt Räumlichkeiten wie Haus (w), Garten (w), Markt (m) und Felder (m) entweder dem einen oder anderen Gegenpol zuordnen (vgl. Müller, 2014, S. 30). Diese Methode bietet sich einerseits bei archaischen Gesellschaften an, die nach basalen Differenzierungsprinzipien wie Alter, Geschlecht und Verwandtschaft gegliedert sind, andererseits kann diese Methode auch bei modernen Klassengesellschaften angewendet werden. Nach Müller (vgl. 2014, S. 31) lassen sich bspw. auch folgende Bereiche betrachten: moralische Disposition (tolerant/rigide), Geschmackspräferenzen (Luxus- geschmack/ Bildungsbeflissenheit), Rolle der Bildung (Erwerb im Elternhaus/ in der Schule) oder der Umgang mit Kultur (spielerisch/ bemüht).

Bourdieu waren jedoch auch die Risiken dieser Methode bekannt. Bei der permanenten Analyse der Strukturen besteht die Gefahr, dass die soziale Praxis als starre unbewegliche Tatsache erscheint bzw. hinter dieser mechanistischen Vorgehensweise in den Hintergrund verschwindet. Bourdieu schenkte der Regel Beachtung, wenn diese jedoch nicht anwendbar war, wertete er dies nicht als abweichendes Verhalten, denn bei seinen Studien in Algerien und Béarn erkannte er, dass selbst zu der strengsten ritualistischen Regel im Alltag ein Moment der Unbestimmtheit hinzu kommen kann. Bourdieu bemerkte bspw. bei der Untersuchung von Regelmäßigkeiten des Heiratsverhaltens in seinem Heimatdorf Béarn, dass es zwar Ziel der Bauern war, die Integrität ihres Anwesens ungeteilt zu erhalten. Dieses Ziel verfolgten sie jedoch mit unterschiedlichen Strategien, was auch dazu führte, dass der Hof an eine Tochter übergeben wurde wenn ein männlicher Erbe fehlte. Er erkannte folglich immer die Möglichkeit eines Interpretationsspielraumes, sodass er mehrheitlich ein strategisches Vorgehen der Akteure beobachtete (vgl. Müller, 2014, S. 33). Dies führte dazu, dass Bourdieu das Prinzip der Regel schließlich durch das Konzept der Strategie ersetzte und auf diese Weise versuchte die Struktur und Praxis zusammen zu denken.

2.3 Zentrale Kategorien und Theoreme

2.3.1 Habitus

Bourdieu verbindet, wie oben beschrieben, die Wahrnehmung der sozialen Welt durch die Akteure mit den objektiven Strukturen und Relationen, denen die jeweiligen Individuen ausgesetzt sind. Er ersetzt weiterführend den Begriff der Struktur durch das Konzept des Habitus, welches jeweils vermittelnd zwischen der Subjekt- und Objektphilosophie wirkt (vgl. Fuchs-Heinritz & König, 2014, S. 189). Der Habitus beschreibt dabei eine körperliche wie mentale, innere, wieäußere Grundhaltung, welche geprägt ist von den jeweils verinnerlichten gesellschaftlichen Strukturen und Sozialisationsprozessen der jeweiligen Klasse (vgl. Müller, 2014, S. 39; vgl. ebd. S. 189). Aufgrund der Einverleibung und Inkorporierung von gesellschaftlichen Strukturen entsteht lt. Bourdieu und Waquant (1996, zit. in Müller, 2014, S. 38) eine sozialisierte Subjektivität, die sich in einem System von Dispositionen niederschlagen und verschiedene Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata erzeugen. Der jeweilige Akteur bildet somit klassenspezifische Einstellungen aus, sodass das alltägliche Handeln im Normalfall der Struktur angepasst und die Reproduktion der sozialen Ordnung gewährleistet wird. Allerdings können gleiche Dispositionen abhängig vom sozialen Kontext auch zu unterschiedlichen Handlungen führen (vgl. ebd., S. 38), d. h. das Modell gilt in seinem ganzen Ausmaß nur dann, wenn die Entstehungsbedingungen des Habitus identisch mit den gesellschaftlichen Strukturen bzw. dem sozialen Milieu des Individuums sind. Vor diesem Hintergrund führen neue Erfahrungen dazu, dass sich der Habitus zwar unaufhörlich ändert, dies jedoch nur ganz allmählich, da dem Habitus ein gewisser Trägheitsmoment innewohnt (vgl. ebd., S. 40). Verinnerlichte Dispositionen sind somit relativ beständig, was jedoch nicht bedeutet, dass der Habitus eines Menschen mit seinem Schicksal gleichgesetzt werden kann. Es kann z. B. dazu kommen, dass der beständige Verbleib in einer höheren gesellschaftlichen Schicht den niederen gesellschaftlichen Habitus überschreibt. Ein Professor weist nach einem Vierteljahrhundert im Bildungssystem einen akademischen Habitus auf, der seinen kleinbürgerlichen überdeckt, dieser kann jedoch in Stress- und Konfliktsituationen wieder durchblicken (vgl. Bourdieu, 2002, S. 207ff.).

2.3.2 Kapitalarten

Bourdieu geht von dem Grundsatz aus, dass sich gegenwärtige Gesellschaften als einen mehrdimensionalen Raum begreifen lassen, dessen einzelne Sphären sich voneinander unterscheiden lassen (vgl. Müller, 2014, S. 47). Die Kennzeichen der jeweiligen Dimension sind verschiedene Ressourcen in Form von Kapital oder Macht, wobei sich die Stellung der Handelnden durch die Zusammensetzung und den Umfang ihres Kapitals ergibt (vgl. ebd.). Laut Bourdieu ist das Kapital eine Erscheinungsform von akkumulierter Arbeit, entweder in Form von materieller oder nicht-materieller, inkorporierter Form. Als gemeinsamer Vergleichsmaßstab bietet sich daher im weiteren Sinne die Arbeitszeit an (vgl. Rehbein & Saalmann, 2009, S. 135). Bourdieu betrachtet drei Kapitalsorten: das ö konomische, das kulturelle und das soziale Kapital, sowie, als zusammenfassende Form, das symbolische Kapital ( vgl. Bourdieu, 1997). Er untersucht die einzelnen Kapitalsorten vorrangig unter dem Aspekt ihrer einzelnen Komponenten und ihrer Konvertierbarkeit.

Das ö konomische Kapital wird als dominierende Kapitalform beschrieben, da es allen anderen Kapitalarten zugrunde liegt (vgl. Jurt, 2008, S. 129). Es ist unmittelbar in Geld konvertierbar (Erbschaft, materielle Güter, Produktionsmittel) und eignet sich besonders für die Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts.

Das kulturelle Kapital lässt sich in inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes Kulturkapital untergliedern. Bei der Bezeichnung des inkorporierten Kulturkapitals handelt es sich um verinnerlichte Bildung, welche der Investor zu einem Großteil mit seiner Zeit als auch mit Entbehrungen bezahlen muss. Dabei wird ein Habitus erlangt, der mit Vermögen verglichen werden kann, welches sich jedoch nicht verkaufen, verschenken oder vererben lässt. Der Erwerb von inkorporierten Kulturkapital geschieht in Form von Sozialisationsprozessen in Familie und Schule (vgl. Müller, 2014, S. 53). Demnach lässt sich ein positiver Wert des inkorporierten Kulturkapitals verzeichnen, wenn ein Kind innerhalb der schulischen Institution einen Vorteil aufgrund der familiär getätigten Investitionen vorweisen kann. Hingegen wird einen negativer Wert vermerkt und von doppelt verlorener Zeit gesprochen, falls sich ein negativer Abstand zum schulischen Niveau zeigt (vgl. Bourdieu, 1997, S. 65). Diese erzieherischen Handlungsabsichten variieren jedoch je nach Epoche, Gesellschaft und sozialer Klasse und werden sowohl bewusst als auch unbewusst praktiziert (vgl. ebd. S. 57f.). Da das Vorhandensein von inkorporiertem Kulturkapital bei einer Person mit einem gewissen Seltenheitswert einhergeht, ist dieses mit positiven Zuschreibungen verbunden wie z. B. die Aussicht auf materiellen Wohlstand und Prestige (vgl. ebd.). Diese Exklusivität birgt inkorporiertes Kulturkapital, da es nicht für alle Familien finanziell darstellbar ist, ihren Kindern die Aussicht auf optimale Bildungsbedingungen zu bieten. Die Übertragung des kulturellen Kapitals auf direktem Wege und ohne Zeitverlust hängt entscheidend davon ab, ob die Familie über ein starkes Kulturkapital verfügt, welches sich permanent auf die heranwachsenden Kinder überträgt (vgl. Bourdieu, 1997, S. 59). Inkorporiertes Kulturkapital äußert sich im kognitiven Sinn als Kompetenz, im evaluativen Sinn als Moral, im Ästhetischen Sinn als Geschmack und im expressiven Sinn als Lebensstil (vgl. Müller, 2014, S. 53).

Bei objektiviertem Kulturkapital handelt es sich u. a. um Gemälde, Schriften, Denkmäler und Instrumente, die als Besitztum vererbbar sind. Dies setzt jedoch voraus, dass der Eigentümer über verinnerlichtes, inkorporiertes Kulturkapital verfügt, sodass es ihm möglich ist bspw. Begeisterung für ein Gemälde zu entwickeln, welche über die Tatsache des juristischen Eigentums hinausgeht (Bourdieu, 1997, S. 59f.). Die Genussfähigkeit ist dabei primär eine Frage der Zeit, um sich die notwendige Bildung anzueignen (vgl. Müller, 2014, S. 54). Somit sind kulturelle Güter immer entweder an ökonomisches Kapital gebunden, um diese zu erwerben oder an verinnerlichtes, inkorporiertes Kulturkapital, um bspw. in einen bestimmten Genuss zu kommen oder komplexe Maschinen, wie z. B. Flugzeuge, bewegen zu können.

Wird vom institutionalisierten Kulturkapital (oder auch Bildungskapital) gesprochen, meint dies verinnerlichtes, inkorporiertes Kulturmaterial, dass anhand von schulischen Titeln festgehalten wird, sodass es nicht ständig unter Beweiszwang steht. Dabei gelten die erworbenen Titel als eine beständige und formell garantierte kulturelle Kompetenz, die dem Besitzer dauerhaft übertragen wurden (vgl. Bourdieu, 1997, S. 62f). Diese allgemeingültige Kompetenz von Kulturkapital in Form von Titeln ist unabhängig von dem tatsächlichen Stand des inkorporierten Kulturmaterials und symbolisiert institutionalisierte Macht und gesellschaftliche Anerkennung (vgl. ebd.). Einige berufliche Positionierungen sind demnach ohne entsprechenden Titel schlichtweg von vornherein ausgeschlossen. Damit besteht die Wahrscheinlichkeit, dass anfänglich ökonomisch investiertes Kapital, welches sich zu inkorporiertem, kulturellem Kapital umgewandelt hat, sich erneut in ökonomischem Kapital ausschlägt (vgl. ebd., S. 63). Ausschlaggebend für den zu erreichenden Geldwert auf dem Arbeitsmarkt und dem damit verbundenen Status ist erneut der Seltenheitswert. Dieser ist beweglich, denn als Wechselkurs zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital unterliegt er Schwankungen. Die investierte Mühe und Zeit kann sich daher im Nachhinein als weniger rentabel als erwartet herausstellen, was mit der Bildungsexpansion und der Inflation von Bildungstiteln in engem Zusammenhang steht (vgl. Müller, 2014, S. 54). Im schlimmsten Fall kann es zu einer Entkoppelung von Titel und Stelle führen.

Soziales Kapital ist territorial gebunden und gleichzusetzen mit dem sozialen Netzwerk, in dem sich der Einzelne aufhält (vgl. Bourdieu, 1997, S. 64).

[...]

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Details

Titel
Der methodologische Ansatz der „Habitus-Hermeneutik“ im Sinne von Pierre Bourdieu
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal  (Fachbereich Human- und Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Lehrforschungsprojekt und Forschungsmethoden
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
40
Katalognummer
V354196
ISBN (eBook)
9783668402522
ISBN (Buch)
9783668402539
Dateigröße
802 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bourdieu, Habitus, Kapitalarten, Sozialer Raum Lebensstile, Feld
Arbeit zitieren
Nicole Reddemann (Autor:in), 2015, Der methodologische Ansatz der „Habitus-Hermeneutik“ im Sinne von Pierre Bourdieu, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354196

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