Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wohlfahrtsstaatlichkeit: Einführung
2.1 Definition und historische Entwicklung
2.2 Theorien wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung
2.3 Esping-Andersen: The Three Worlds Of Welfare Capitalism
3. Globalisierung
3.1 Globalisierung: Begriff und Definition
3.2 Globalisierungseffekte: Meinungen und Stand der Forschung
3.3 Auswirkungen auf westeuropäische Arbeitsmärkte
4. Hypothesen und methodisches Vorgehen
5. Arbeitsmarktreformen im Vergleich
5.1 Schweden
5.2 Großbritannien
5.3 Deutschland
5.4 Zwischenfazit qualitative Analyse
6. Vergleich quantitativer Kennwerte
7. Fazit: Pfadabhängigkeit oder Konvergenz?
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wohlfahrtsstaatlichkeit ist heutzutage ein zentrales Strukturmerkmal aller fortgeschrittenen Demokratien geworden. Von Altbundeskanzler Helmut Schmidt vor einiger Zeit als „größte kulturelle Leistung, die wir Westeuropäer im 20. Jahrhundert zustande gebracht haben“ bezeichnet, wird dieser Typ von Staatlichkeit mittlerweile auch in vielen Ländern außerhalb der OECD-Welt eingeführt. Nach dem zweiten Weltkrieg hat der Wohlfahrtsstaat wichtige Integrationsleistungen vollbracht, indem er Demokratie und Marktwirtschaft stabilisierte und legitimierte und gesellschaftliche Teilhabechancen in einem bislang unbekannten Ausmaß mit sich brachte. Eine ausgebaute Sozialpolitik zählt, zusammen mit einer demokratischen Verfassung und Marktwirtschaft, zu den wesentlichen Merkmalen der wirtschaftlich entwickelten westlichen Länder. Doch die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert. Vielfältige neue Herausforderungen und Problemlagen sind entstanden (Busemeyer et al. 2013: 13-14; Schmidt 2005: 11). Eine der größten dieser Herausforderungen dürfte die Globalisierung mit all ihren Wirkungen und Konsequenzen sein. Unter vielen Ökonomen herrscht Einigkeit darüber, dass die Globalisierung Staaten dazu zwinge, den Sozialstaat billiger zu machen (Hass 2007: 7). Doch was verbirgt sich überhaupt hinter dem Begriff Globalisierung? Dieser ist heute sowohl aus der Alltagssprache als auch aus dem wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Genauso unterschiedlich wie dieser Begriff inhaltlich definiert wird, sind auch die Meinung darüber, welche genauen Auswirkungen die „fortschreitende Entgrenzung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“ (Obinger et al. 2009: 33) auf die sozialen Sicherungssysteme der einzelnen Nationalstaaten hat. Von Wohlfahrtsstaatlichkeit als Voraussetzung für Marktöffnung bis zu einem „ruinösen sozialpolitischen Unterbietungswettbewerb“ (Obinger et al. 2009: 35) sind stark gegensätzliche Ansichten vertreten. Diesem Diskurs soll sich auch diese Arbeit anschließen, in dem sie sich damit beschäftigt, ob sich unterschiedliche Wohlfahrtsregime durch den entstandenen Globalisierungsdruck annähern. Vermutet wird dabei ein „race to the bottom“, also ein Wettlauf nach unten bei der Absicherung, verursacht durch eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Kapitalseite. Diese Verschiebung resultiert aus einem, durch die Globalisierung entstandenen, Standortwettbewerb, der die Staaten dazu zwingt, attraktive wirtschaftliche Bedingungen auf Kosten der sozialen Sicherung der Bevölkerung zu schaffen. (Obinger et al. 2009: 35). Ob ein wohlfahrtsstaatlicher Rückbau festgestellt werden kann, soll durch den Vergleich der Länder Deutschland, Großbritannien und Schweden im Bereich der Arbeitsmarktpolitik geprüft werden. Untersucht werden sowohl Einschnitte in der passiven Leistungserbringung im Falle von Erwerbslosigkeit als auch die Entwicklung im Bereich der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Diese Fallauswahl ist deshalb getroffen worden, da diese Länder jeweils ein unterschiedliches Wohlfahrtsregime repräsentieren, wie von Gøsta Esping-Andersen 1990 in seinem Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ (Esping-Andersen 1990) eingeführt.
Der folgende erste inhaltliche Abschnitt dieser Arbeit soll sich einem kurzen Abriss der historischen Entstehung und Expansion von Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie der bedeutenden typologischen Einordnung von Gøsta Esping-Andersen widmen. Das dritte Kapitel befasst sich dann mit dem Phänomen der Globalisierung und den unterschiedlichen, in der Wissenschaft vertretenen, Meinungen zu deren Auswirkung auf entwickelte Wohlfahrtsstaaten. Im vierten Kapitel dieser Arbeit werden dann die aufgestellten Hypothesen und das methodische Vorgehen zur Überprüfung dieser näher erläutert, bevor dann im Hauptteil die arbeitsmarktpolitischen Reformen der Untersuchungsländer qualitativ miteinander verglichen werden. In einem kurzen Zwischenfazit werden dann die ersten Schlussfolgerungen aus der qualitativen Analyse gezogen, bevor dann im letzten inhaltlichen Abschnitt, zur Schaffung einer besseren Beurteilungsgrundlage, auch quantitative Kennwerte in die Untersuchung einbezogen werden. Abschließend werden dann die Erkenntnisse der qualitativen und der quantitativen Analyse miteinander verknüpft um im Fazit eine Aussage zu den eingangs aufgestellten Hypothesen treffen zu können.
2. Wohlfahrtsstaatlichkeit: Einführung
„Wohlfahrtsstaatliche Politik ist derjenige Teil der Staatstätigkeit, der darauf gerichtet ist, vor den Wechselfällen des Lebens und vor Verelendung zu schützen und/oder die Gleichheit der Lebensführungschancen zu befördern“ (Schmidt/Ostheim 2007: 21). Wie bereits einleitend bemerkt, zeichnet diese Sicherungsfunktion und das Streben nach mehr Gleichheit alle wirtschaftlich entwickelten westlichen Länder aus, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen und Konfigurationen. Das historisch noch nie da gewesene Maß an sozialer Sicherheit für einen Großteil der Bevölkerungen westlicher Länder, ist vor allem Ergebnis des Auf- und Ausbaus sozialpolitischer Aktivität (Schmidt 2005: 11). Mit den grundlegenden wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung soll sich dieser erste inhaltliche Abschnitt dieser Arbeit befassen.
2.1 Definition und historische Entwicklung
Bevor im weiteren Verlauf dieser Arbeit über die Auswirkungen der Globalisierungsprozesse und deren Folgen auf den Wohlfahrtsstaat gesprochen wird, ist eine inhaltliche Definition des Begriffes sowie eine kurze Nachzeichnung der historischen Entwicklung angebracht. In dem Bereich der Wohlfahrtsstaatsforschung sowie im allgemeinen Sprachgebrauch gibt es unterschiedliche Begrifflichkeiten, die selten genau definiert sind und einen ähnlichen Bedeutungsgehalt haben. Einige sollen an dieser Stelle kurz genannt und die zentralen Unterschiede hervorgehoben werden.
Die Verwendung der Begriffe Wohlfahrtsstaat oder Sozialstaat ist geprägt durch unterschiedliche nationale Traditionen. Im deutschen Sprachgebrauch z.B. ist der Begriff des Wohlfahrtsstaats eher negativ besetzt, da mit ihm ein übermächtiges Staatswesen assoziiert wird, wo Eingriffe in das Marktgeschehen typisch sind. Der Begriff Sozialstaat hingegen ist verbunden mit der Vorstellung von einer sozialen Sicherung, die auf die Kernfunktionen wie z.B. die Sozialversicherung beschränkt ist. In dieser Arbeit wird im weiteren Verlauf der Begriff Wohlfahrtsstaat verwendet, da dieser die beste Übersetzung des international gebräuchlichen Begriffs des „welfare state“ ist (Ullrich 2005: 15-16). Inhaltlich sollen die Staaten als Wohlfahrtsstaaten gelten, welche Sozialpolitik als ihre Aufgabe anerkennen „und sie in größerem Umfang und für weite Teile der Bevölkerung […]“ (Ullrich 2005: 18-19) wahrnehmen. Dieses grundlegende Kriterium wird von den für diese Untersuchung ausgewählten Länder erfüllt. Dennoch können die Staaten in der Ausprägung und dem Umfang der jeweiligen sozialpolitischen Aktivitäten unterschieden und unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden. Um eine solche Kategorisierung, nämlich das wegweisende Werk des Wissenschaftlers Gøsta Esping-Andersen, soll es in Abschnitt 2.2 gehen.
Zuvor soll aber noch ein Blick auf die historische Entwicklung bzw. die Entstehung von Wohlfahrtsstaatlichkeit geworfen werden. Wo die Anfänge von Sozialpolitik liegen ist in der Wissenschaft, wenig überraschend, umstritten. Auf wann diese datiert werden ist natürlich stark davon abhängig, welche Definition von Sozialpolitik dabei zugrunde gelegt wird. Kollektive Daseinsvor- und -fürsorge hat es schon im Altertum gegeben, wie z.B. Armenspeisungen durch Kirchen und Klöster. Insgesamt tendiert der wissenschaftliche Konsens aber eher dahin, den Beginn moderner (staatlicher) Sozialpolitik auf einen späteren Zeitpunkt zu datieren und frühere (nicht-staatliche) Formen im Gegensatz dazu als „organisierte Fürsorge für Bedürftige“ zu bezeichnen (Ullrich 2005: 19). Im Wesentlichen ist die Sozialpolitik im umfassenden Sinn des Wohlfahrtsstaats eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – ausgelöst durch den Beginn der Industrialisierung und deren konfliktreichen Begleiterscheinungen. Neben den grundlegenden Abwehr- und Freiheitsrechten, entstanden zu diesem Zeitpunkt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (kurz: wsk-Rechte). Den Ausgangspunkt hierfür bildete das Elend der Kinderarbeiter in der Frühphase der Industrialisierung (Kaufmann 2003: 6), weshalb sich erste „sozialpolitische Gesetze“ auf den Kinder- und Arbeitsschutz beschränkten. Weiterführende soziale Sicherungssysteme wie Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung folgten in späteren Jahren (Ullrich 2005: 21). Die Voraussetzungen für die Entstehung einer solch institutionalisierten Sozialpolitik lassen sich grob unterteilen in sozioökonomische, politische und kulturelle Aspekte. Die Notwendigkeit von Sozialpolitik entstand vor allem durch den wirtschaftlichen und sozialen Wandel, welcher sich im 19. Jahrhundert vollzog und gekennzeichnet war durch Verarmung großer Bevölkerungsgruppen, Urbanisierung sowie gesteigerter räumlicher Mobilität, welche zu einem Zerfall privater Unterstützungssysteme durch Familie und nachbarschaftliche Gemeinde führte. Gleichzeitig sahen sich die Arbeiter durch die industrielle Produktionsweise vermehrt neuen Risiken wie Invalidität oder Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Aus diesen Gründen wurden neue Systeme der sozialen Sicherung benötigt, um die Risiken der Lohnarbeiterexistenz abzusichern (Ullrich 2005: 21-23). Als wichtigste politische Voraussetzung für die Genese von moderner Sozialpolitik muss die Entstehung von Gewerkschaften sowie sozialistischen Arbeiterparteien genannt werden. Durch eine „pazifizierende“ (Ullrich 2005: 23) Sozialpolitik sollte der entstehende Konflikt mit der Arbeiterbewegung entschärft werden. Als kulturelle Voraussetzung ist letztendlich zu nennen, dass sich soziale Deutungsmuster in dem Sinne verändert haben, dass gesellschaftliche Verhältnisse nicht mehr länger als gottgegeben oder naturgesetzlich angesehen wurden, sondern als durch menschliches Handeln selbst zu gestalten betrachtet wurden. Ergänzt wurde dieser Wandel durch die Ansicht, dass die Institution des Staates das geeignete Mittel zur Lösung kollektiver Aufgaben und Probleme sei (Ullrich 2005: 23).
Die in den 1880er Jahren im Deutschen Reich entstehenden Bismarck’schen Sozialgesetze markieren den Anfang des modernen europäischen Wohlfahrtsstaates. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges entstanden in Westeuropa fast überall die ersten sozialen Sicherungsprogramme zum Schutz der Bevölkerung vor den, durch die Industrialisierung neu entstandenen, sozialen Risiken (Schommer 2007: 38). Die europäischen Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich trotz aller Gemeinsamkeiten in ihrer jeweiligen Ausgestaltung erheblich voneinander. Die theoretische Entwicklung verschiedener wohlfahrtsstaatlicher Typen soll im folgenden Teil dieser Arbeit vorgestellt werden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf das, für die Wohlfahrtsstaatsforschung bedeutende Werk, „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ von dem dänischen Wissenschaftler Gøsta Esping-Andersen (1990) gelegt. Dieses hat einen beträchtlichen Beitrag zur Wohlfahrtsstaatsforschung geleistet und bildet auch den theoretischen Ausgangspunkt dieser Arbeit.
2.2 Theorien wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung
Die historische Expansion wohlfahrtsstaatlicher Systeme hat eine umfangreiche sozial- sowie politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema bewirkt. Diese Forschung hat nicht nur wichtige empirische Befunde hervorgebracht, sondern ebenfalls „ein ausdifferenziertes Set an Theorien über die Bestimmungsfaktoren wohlfahrtsstaatlicher Politik und die Methoden der Wohlfahrtsstaatsforschung“ (Schmidt/Ostheim 2007: 21) geschaffen. In diesem Abschnitt soll ein Überblick über die wichtigsten Theorien des Wohlfahrtsstaatsvergleichs gegeben werden.
Sozioökonomische Determinanten
Vertreter der Theorie sozioökonomischer Determinanten begreifen Staatstätigkeit als Reaktion auf sozioökonomische, d.h. gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen. Diese Entwicklungen schufen neue Probleme und somit einen Bedarf an größerer Staatstätigkeit. Als besonders relevante Veränderungen werden dabei z.B. die voranschreitende Industrialisierung, die Alterung der Bevölkerung und die Urbanisierung hervorgehoben (Schmidt/ Ostheim 2007: 22; Castles 1998: 32-52).
Machtressourcenansatz
Im Gegensatz zur sozioökonomischen Schule betont die Lehre von den Machtressourcen organisierter gesellschaftlicher Gruppen die Bedeutung politischer Variablen. Staatstätigkeit wird von Vertretern dieser Theorie vorrangig erklärt durch die Machtverteilung zwischen gesellschaftlichen Klassen oder Interessenverbänden. Mit unterschiedlichen Machtressourcen ist auch die Entstehung verschiedener Wohlfahrtsstaatstypen erklärt worden, auf die in Abschnitt 2.3 näher eingegangen wird (Schmidt/Ostheim 2007: 22).
Parteiendifferenztheorie
Wie bei der Machtressourcentheorie, steht auch bei der Parteiendifferenztheorie die Machtfrage im Vordergrund. Allerdings spielen hierbei außerparlamentarische Akteure weniger eine Rolle. Stattdessen wird die Staatstätigkeit bestimmt durch die parteipolitische Couleur von Regierung und Opposition, da die Parteien die Präferenzen ihrer Wählerschaft in ihren Entscheidungsprozessen berücksichtigen. Während dieser theoretische Ansatz ursprünglich ignorierte, ob Parteien in der Lage sind, die Interessen ihrer Anhänger politisch durchzusetzen, werden in modifizierten Ansätzen dieser Theorie auch die Rahmenbedingungen des Regierungshandelns mit einbezogen. Mit dieser Erweiterung knüpfen Vertreter der Parteiendifferenztheorie an die Erkenntnisse des politisch-institutionalistischen Ansatzes an (Schmidt/Ostheim 2007: 23-24).
Institutionalistischer Ansatz
Dieser Ansatz legt den Fokus auf institutionelle Bedingungen, die die Staatstätigkeit nachhaltig prägen und formen. Solche Institutionen können z.B. das Wahlsystem, Föderalismus oder eine autonome Verfassungsgerichtsbarkeit sein. Die jeweilige Konfiguration dieser „Veto-Spieler“ (Tsebelis 1995), kann für einen Richtungswechsel der sozialpolitischen Staatstätigkeit, als auch für den Erhalt des Status quo sorgen (Schmidt/Ostheim 2007: 24).
Internationale Hypothese
Die internationale Hypothese besagt, dass die Staatstätigkeit vor allem von inter- und transnationalen Faktoren beeinflusst wird. Entscheidende Determinanten sind dabei die Marktintegration durch Globalisierung und Europäisierung, aber auch die Existenz supranationaler Normen von Organisationen wie der ILO (International Labour Organisation). Wie in Abschnitt 3.2 dieser Arbeit noch einmal gezeigt wird, ist die Pfeilrichtung der Wirkung von Globalisierung (und Europäisierung) innerhalb der internationalen Hypothese umstritten. Während ältere Varianten größere sozialstaatliche Bemühungen auf größere ökonomische Offenheit vorhersagen, halten neuere Arbeiten dagegen. Ihrer Meinung nach begrenzen Globalisierung und Europäisierung die Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaaten und „erzwingen eine Anpassung der Sozialpolitik an „Marktzwänge“ im Sinne eines Rückbaus zu weitgehender sozialpolitischer Regulierungen“ (Schmidt/Ostheim 2007: 24-25).
These der Politik-Erblast
Aus der gerade beschriebenen Internationalen Hypothese wird oft geschlossen, dass, besonders im Bereich der Sozialpolitik, eine konvergente Entwicklung zwischen Staaten stattfindet. Die These des Politikerbes hingegen deutet die Staatstätigkeit als historisch eingeschlagenen Pfad, der geprägt ist von früheren politischen Entscheidungen und nur schwierig wieder verlassen werden kann (Schmidt/Ostheim 2007: 25).
2.3 Esping-Andersen: The Three Worlds Of Welfare Capitalism
In seiner wegweisenden Studie erklärt Gøsta Esping-Andersen die Entstehung unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatstypen anhand von Machtressourcen unterschiedlicher sozialer und ökonomischer Gruppen (Schmidt/Ostheim 2007: 42). Wie andere Wohlfahrtsstaatsforscher vertritt Esping-Andersen die Ansicht, dass die Höhe von Sozialausgaben als einziger Indikator für die Ausprägung von Wohlfahrtsstaatlichkeit unzureichend ist. Stattdessen schlägt er in seinem Werk zunächst drei Kriterien vor: Dekommodifizierung, Stratifizierung und das Verhältnis zwischen Markt, Staat und Familie. Hinter dem Begriff Dekommodifizierung verbergen sich Leistungen seitens des Staates, die den Bürger von der Abhängigkeit vom Markt befreien. Durch sie entsteht also das Ende der menschlichen Arbeitskraft als Ware bzw. Produktionsfaktor durch die Einführung moderner sozialer Menschenrechte (Esping-Andersen 1990: 21-22). In einem Staat mit einem hohen Dekommodifizierungsgrad können Staatsbürger „freely, and without potential loss of job, income or general welfare, opt out of work when they themselves consider it necessary“ (Esping-Andersen 1990: 23). Unter dem Begriff Stratifizierung ist zu verstehen, in welchem Umfang staatliche Sozialpolitik Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft beseitigt oder auch fördert. Laut Esping-Andersen ist lange Zeit davon ausgegangen worden, dass Wohlfahrtsstaaten egalitäre Gesellschaften schaffen. Seiner Meinung nach fördert unterschiedliche Sozialpolitik hingegen aber verschiedene Systeme von Stratifizierung. So ist der Wohlfahrtsstaat keineswegs ein Instrument zur Beseitigung von Ungleichheitsstrukturen, sondern stellt selbst ein System der Stratifizierung dar, indem er soziale Beziehungsmuster ordnet (Esping-Andersen 1990: 23). Von unterschiedlichen Sicherungssystemen gehen also auch qualitativ unterschiedliche Wirkungen auf die soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft aus. Während Modelle der Sozialversicherung den Erhalt bestehender Statusunterschiede fördern, verstärken bedürftigkeitsgeprüfte Fürsorgeleistungen diese sogar zusätzlich. Lediglich universalistische Sozialsysteme, bei denen einheitliche Leistungsberechtigung besteht, zielen auf Statusgleichheit und allgemeine Solidarität ab (Ullrich 2005: 45).
Letztendlich entstehen in „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ durch die Berechnung verschiedener Indexzahlen für den Grad der Dekommodifizierung und Stratifizierung dem Titel entsprechend drei unterschiedliche Typen von Wohlfahrtsstaaten: der liberale, der konservative und der sozialdemokratische. Der liberale Wohlfahrtsstaat ist dadurch gekennzeichnet, dass Sozialleistungen den armen, von staatlichen Leistungen abhängigen Bürgern bestimmt sind. Die sehr niedrigen Leistungen sind an strikte Bedürftigkeitstests gebunden und werden oft von privaten Trägerschaften gestellt. Die Konsequenz daraus ist, dass Dekommodifizerungseffekte minimiert werden und die stratifizierende Wirkung in diesen Staaten besonders hoch ist. Das Prinzip der Eigenverantwortung prägt das wohlfahrtsstaatliche Institutionengeflecht. Die Entstehung zweier Klassen, die ihre Wohlfahrt aus unterschiedlichen Quellen beziehen, wird gefördert. Auf der einen Seite die bedürftige Bevölkerungsgruppe, die auf die Wohlfahrtsleistungen des Staates angewiesen ist und auf der anderen Seite die Gruppe derer, die ihre Wohlfahrt aus den Mechanismen des Marktes bezieht. Typische Beispiele für den liberalen Wohlfahrtsstaat sind die Vereinigten Staaten sowie Großbritannien (Esping-Andersen 1990: 26-57; Schmidt 2005: 223; Deppe 2006: 29). Beispiele für den konservativen Wohlfahrtsstaat sind Länder wie Deutschland oder Frankreich. In diesen Regimen bietet der Staat soziale Leistungen, die jedoch nur bedingt dekommodifizierend wirken. In erster Linie stehen in diesen Staaten traditionell Familienstrukturen im Mittelpunkt der sozialen Absicherung. Erst wenn die Kapazitäten dieser familiären Unterstützung an ihre Grenzen geraten, wird seitens des Staates interveniert. Auch in konservativen Wohlfahrtsstaaten ist die stratifizierende Wirkung relativ hoch, da traditionelle Statusunterschiede innerhalb der Gesellschaft erhalten bleiben und verfestigt werden. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass der Erhalt von Sozialleistungen abhängig ist vom Einkommen, der Dauer der Erwerbstätigkeit und somit auch vom jeweiligen Berufsstand (Baum-Ceisig et al. 2008: 41-42). Im sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime ist die Gleichberechtigung, im Vergleich zu den zwei vorangegangenen Typen, ein besonders hohes Gut. Abhängigkeit besteht hier weder vom Marktgeschehen noch von den familiären Strukturen. Stattdessen steht die Unabhängigkeit des Einzelnen im Vordergrund. Der Zugang zu Sozialleistungen steht demnach allen Staatsbürgern gleichberechtigt und in gleichem Maße offen. Diese werden vom Staat bereitgestellt und durch Steuereinnahmen finanziert. Statusunterschiede werden somit durch weitreichende Umverteilungsmechanismen eingeebnet. Für Esping-Andersen stellt das sozialdemokratische Regime das normative Leitbild dar, also die optimale Ausprägung von Wohlfahrtsstaatlichkeit (Baum-Ceisig et al. 2008: 42; Deppe 2006: 29). Ein klassisches Beispiel für einen solchen Wohlfahrtsstaat ist Schweden.
Mit der beschriebenen Typologie knüpft Esping-Andersen an die Arbeit des Wissenschaftlers Richard Titmuss an. Bereits 1974 hatte dieser in seiner Arbeit „Social Policy. An Introduction“ (Titmuss 1974) drei grundlegende Wohlfahrtsstaatsmodelle unterschieden. Er unterscheidet erstens den residualen Wohlfahrtsstaat, welcher lediglich Grundleistungen für Bedürftige bereitstellt, zweitens den leistungsbasierten (meritokratischen), in denen die Sozialversicherung dominiert und Leistungsansprüche nur für Erwerbstätige bestehen und zuletzt den institutionellen Wohlfahrtsstaat mit starken Eingriffen in den Markt, starker Umverteilung und universalen Sozialrechten. Diese Skizzierung unterschiedlicher Typen hat Richard Titmuss im Gegensatz zu Esping-Andersen allerdings nie weiter zu einer umfangreicheren empirisch und theoretisch fundierten Typologie ausgearbeitet (Ullrich 2005: 43-44). Der folgenden Abbildung (Abb. 1) sind noch einmal die typischen Charakteristika der drei Wohlfahrtsregime nach Esping-Andersen zusammengefasst zu entnehmen.
Abb. 1: Merkmale von Wohlfahrtsregimen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten1
Quelle: Eigene Darstellung nach Esping-Andersen 1990 und Ullrich 2005
An dem Punkt dieser Einteilung Esping-Andersens knüpft diese Arbeit theoretisch an. Wie der Abbildung zu entnehmen ist, sind die ausgewählten Länder Deutschland, Großbritannien und Schweden jeweils typisch für einen der drei genannten Wohlfahrtsstaatstypen. Es wird sich nun die Frage gestellt, inwiefern die für jedes Regime jeweils typische Gestaltung sozialer Sicherungssysteme auch unter dem Druck der Globalisierung, wie er von der Effizienzthese konstatiert wird, erhalten bleibt. Finden Veränderungen nur pfadabhängig statt oder lässt sich eine Konvergenz in Form eines „race to the bottom“ feststellen, wodurch sich alle Länder in Richtung eines residualen Wohlfahrtsstaates entwickeln? Da diese Arbeit sich mit einer möglichen Liberalisierung der Arbeitsmarktpolitik beschäftigen soll, steht besonders der Punkt der Dekommodifizierung im Vordergrund. Von Esping-Andersen wird Dekommodifizierung nicht nur als Funktion des Sozialstaats sondern ebenfalls als Gütekriterium behandelt. Je höher der Grad der Dekommodifizierung, desto besser. Laut Esping-Andersen ist es die grundlegende Funktion des Sozialstaates, als Gegengewicht zur Kommodifizierung, also zur Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft zur Existenzsicherung auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen (Brütt 2011: 22). Die Frage ist, ob sich durch sozialstaatlichen Rückbau, ausgelöst die fortschreitende Globalisierung, mittlerweile ein „Rekommodifizierungsprozess“ der Arbeitnehmer eingestellt hat. Da der Grad der Dekommodifizierung ein, vielleicht sogar das, Hauptkriterium bei der Unterscheidung der unterschiedlichen Wohlfahrtsregime darstellt, liegt die Vermutung einer Annäherung d.h. Konvergenz der Wohlfahrtstaatstypen nahe.
Als Grundlage für den Ausgangspunkt, dass Globalisierung möglicherweise zu einem sozialstaatlichen Rückbau beiträgt, sollen im nächsten Abschnitt zunächst die in der Wissenschaft vertretenen Meinungen bezüglich der Auswirkungen von Globalisierung auf die entwickelten Wohlfahrtsstaaten und einer möglicherweise stattfindenden Konvergenz betrachtet werden, bevor im vierten Abschnitt die eigene Untersuchung beginnt.
3. Globalisierung
Die Frage danach, inwiefern Globalisierung nationale Staatstätigkeit beeinflusst oder nicht, ist in der Forschung ein vergleichsweise junges Untersuchungsfeld, das erst seit Mitte der 1990er Jahre an Bedeutung gewonnen hat. Seither haben sich allerdings ausgesprochen intensive Debatten über die Wirkung von Globalisierung entwickelt (Zohlnhöfer 2015: 199). Die Meinungen gehen dabei weit auseinander: während die einen vor einem internationalen Wettlauf nach unten bei den Sozialstandards warnen, sehen andere bisher keine Belege für eine solche Konvergenz und betonen die pfadabhängige Entwicklung der nationalen Sozialpolitiken (Scharpf 2003: 135). Bevor in diesem Abschnitt näher auf die einzelnen Theorien bezüglich der Auswirkungen von Globalisierung eingegangen werden soll, muss dieser doch recht abstrakte und breite Begriff zunächst näher beleuchtet und dessen Verständnis für diese Arbeit erläutert werden.
3.1 Globalisierung: Begriff und Definition
Globalisierung ist wohl eines der am meisten gebrauchten und gleichzeitig eines der seltensten definierten, missverständlichsten, nebulösesten und politisch wirkungsvollsten (Schlag- und Streit-) Worte der letzten, sowie wohl auch der kommenden Jahre (Beck 1997: 42). Der Begriff der Globalisierung beherrscht die Diskussionen über wirtschaftliche Probleme bereits seit den 1990er Jahren. Doch wird er sowohl im Alltag als auch in der Literatur höchst unterschiedlich verstanden. Während es seinen Ursprung im Bereich der internationalen Finanzmärkte hat, wurde das Konzept der Globalisierung im Laufe der Jahre immer mehr erweitert. So sind z.B. auch Kommunikation, Kultur und Umwelt von einer „Denationalisierung“ (Zürn 1998) betroffen. In der Mehrzahl der Studien wird Globalisierung jedoch auf wirtschaftliche Globalisierung begrenzt (Zohlnhöfer 2015: 200). Die wirtschaftliche Globalisierung, die in diesem Verständnis kurz als Prozess zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung beschrieben werden kann, beeinflusst immer stärker das alltägliche Leben. Produkte aus allen Teilen der Welt sind zu einer Selbstverständlichkeit geworden und viele sind immer billiger zu haben: Unterhaltungselektronik aus Asien, Kaffee aus Brasilien oder Wein aus Südafrika sind nur einige Beispiele. Neben diesen Annehmlichkeiten ist Globalisierung jedoch auch mit negativen Erfahrungen verknüpft. So vergeht kaum ein Tag ohne Schlagzeilen von Unternehmen, die Arbeitsplätze an günstigere Standorte verlagern wollen. Ausschlaggebend sind dabei nicht nur die deutlich geringeren Löhne, auf die in Abschnitt 3.3 eingegangen wird, sondern ebenfalls Faktoren wie attraktivere Lohnnebenkosten und niedrigere Unternehmenssteuern (Hass 2007: 11).
Doch Fernhandel und weltweite Wirtschaftsbeziehungen sind historisch gesehen kein Phänomen der Neuzeit. Handel über Ländergrenzen hinweg hat es schon seit Jahrtausenden gegeben – von der Antike bis zu bereits weit ausgeprägten weltwirtschaftlichen Aktivitäten zu Kolonialzeiten, bei denen man bereits von Globalisierung sprechen konnte. Allerdings waren diese globalen Wirtschaftsbeziehungen für die meisten Menschen zu dieser Zeit nicht prägend. Die Mehrheit der Bevölkerung lebte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von bäuerlicher Arbeit zur Selbstversorgung, die in keiner Beziehung zu dem damaligen internationalen Handel stand. Erst die Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte zu einer Durchsetzung marktwirtschaftlich-kapitalistischer Strukturen, mit denen fundamental neue Lebensbedingungen entstanden. Die wirtschaftliche Verflechtung wurde durch die zwei Weltkriege (1914-1918 und 1939-1945) zwar unterbrochen, doch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wieder neu belebt (Hass 2007: 12-13). Dass Globalisierung in ihrer heutigen Ausprägung durchaus ein neues Phänomen darstellt, soll die folgende Abbildung (Abb. 2) noch einmal verdeutlichen. Gemessen wird die Globalisierung hier, wie oftmals üblich, durch die Im- und Exporte in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Zu sehen ist die Entwicklung dieser Quote der Untersuchungsländer in dem Zeitraum von 1980 bis 2014. Ein rasanter Anstieg seit Beginn der 1990er Jahre ist in dieser Abbildung deutlich erkennbar.
[...]
[1] Maßzahl für die Gleich- oder Ungleichverteilung eines Gutes, z.B. Einkommen (Schmidt 2010: 315).