Regieren in der Europäischen Union. Parlament und Regierung in Mehrebenensystemen

Der Handlungsstil des institutionellen Dreiecks im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mit Fokus auf europäische Interessenvertretungen


Hausarbeit, 2016

30 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Forschungsgegenstand, Fragestellung und Aufbau der Arbeit

2 Die EU als Konkordanzdemokratie nach Arend Lijphart

3 Regieren in der Europäischen Union
3.1 Das Ordentliche Gesetzgebungsverfahren
3.2 Das institutionelle Dreieck

4 Interessenvertretungen in der EU

5 Schlussbetrachtungen: Das institutionelle Viereck der EU?

6 Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Das Ordentliche Gesetzgebungsverfahren

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Offizielle Internetseite des Europäischen Parlaments k.A. Ordentliches Gesetzgebungsverfahren. Aus: http://www.europarl.de/de/europa_und_sie/das_ep/gesetzgebungverfahren/ordentliches_gesetzgebungsverfahren.html, zuletzt geprüft am 28.09.2016

Vorwort

Brüssel wird auch die „Hauptstadt Europas“ genannt, da hier unter anderem die gesetzgeberisch tätigen Institutionen der Europäischen Union, das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union – also das Institutionendreieck – ihren Sitz haben. Im Europaviertel der belgischen Hauptstadt sind zudem „enorm viele Lobbybüros von Unternehmen, die hier Büros eröffnet haben, um EU-Entscheidungen zu beeinflussen“, angesiedelt. So konstatiert Olivier Hoedeman, ein Mitarbeiter von Corporate Europe Observatory (CEO).[1] Die Mitglieder dieser Nichtregierungsorganisation gehen seit 1997 der Aufgabe nach, den Einfluss von Lobbygruppen auf europäische Entscheidungsprozesse offenzulegen.[2] Das gleicht einer Mammutaufgabe, denn das Transparenz-Register der Europäischen Kommission hat im Jahr 2016 über 9000 Organisationen erfasst. Die Europäische Kommission erklärt dazu wie folgt:

„Die EU-Organe interagieren mit einem breiten Spektrum von Gruppen und Organisationen, die Sonderinteressen vertreten. Dies ist ein legitimes und notwendiges Element des Entscheidungsprozesses (…) Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission verpflichten sich, nicht zu verbergen, mit welchen Gruppen und Organisationen sie zusammenwirken.“[3]

Die Eintragung in das Transparenz-Register der Europäischen Kommission ist, trotz Kritik seitens des Europäischen Parlaments und Organisationen wie CEO, eine freiwillige Leistung der Interessenvertreter.[4]

Der rasante Anstieg von Vertretern, waren es 2011 noch knapp 1000 registrierte Organisationen und Berater, die einen Einfluss auf europäische Entscheidungsprozesse vollziehen wollten, erklärt die Relevanz des Sujets der vorliegenden Arbeit: Wie gestaltet sich Regieren des institutionellen Dreiecks der Europäischen Union im Rahmen des Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens vor dem Hintergrund von 9969 Interessenvertretungen?[5]

1 Forschungsgegenstand, Fragestellung und Aufbau der Arbeit

Der Politikwissenschaftler Arthur Benz beschreibt in seinem 2009 veröffentlichten Werk „Politik in Mehrebenensystemen“, wie sich der Forschungsgegenstand der „multilevel governance“ herausgebildet hat.[6] Gemäß Benz war für die Entwicklung dieses neuen Forschungsansatzes die Feststellung voraussetzungsvoll, dass aufgrund sukzessiv ansteigender transnationaler Beziehungen, Verflechtungen, Globalisierungsanstrengungen und nationaler Föderalisierungsprozesse sich Mehrebenenstrukturen formierten. Benz hält dazu wie folgt fest: „Diese veränderte Realität erklärt den Perspektivwechsel in der Politikwissenschaft, mit dem zunehmend das Konzept des Mehrebenensystems in den Vordergrund rückt.“[7] Dass Regieren innerhalb eines Nationalstaates auf diversen Ebenen und in intragouvernementalen Strukturen abläuft, ist keine neue Erkenntnis, so Benz. Daher setzt er den Beginn eines wissenschaftlichen Diskurses über Mehrebenenstrukturen in den 1950er Jahren an. In den Vereinigten Staaten von Amerika fokussierten politikwissenschaftliche Analysen die „intergouvernmental relations“.[8] Sie beschreiben die Verhandlungs- und Durchführungsmodi zwischen der Regierung, dem Parlament und der Verwaltung. Das deutsche Pendant geht auf den Rechts- und Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf zurück und behandelt die vertikale „Politikverflechtung“.[9] Einen weiteren Impuls setzten, laut Benz, Wissenschaftler der Internationalen Beziehungen. Konkret verweist er auf den 1988 erschienenen Aufsatz von Robert Putnam, „Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-level Games“. Putnam arbeitet das Zusammenwirken inter- und nationaler Politik heraus und verwies zudem auf die Bedeutung privater Akteure im Rahmen politischer Gestaltungsmöglichkeiten. Letztlich begannen Europaforscher den Begriff „multilevel governance“ zu verwenden, da im Staatenverbund der Europäischen Union zwei Aspekte aufeinander treffen: der Bedeutungszuwachs der regionalen Ebenen und die Ausdehnung der Interdependenz zwischen diesen Ebenen.[10] Arthur Benz ergänzt die Herleitung dieses Forschungsgebiets um folgende Definition:

„Der Begriff ‚multilevel governance‘ beschreibt einerseits die politischen Strukturen und Prozesse, die transnationale, nationale oder regionale Institutionen verbinden, andererseits aber auch das Zusammenwirken vertikaler und horizontaler Interdependenzen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen.“[11]

Des Weiteren nennt er vier Merkmale, die ein Mehrebenensystem ausmachen.

An erster Stelle stehen die territorialen Einheiten, die sich in dem jeweiligen politischen System herausgebildet haben, um je nach Kompetenz und Ressourcen autoritative Entscheidungen für den Verbund auszufertigen. Das zweite Merkmal betrifft die Interdependenz und Verflechtung dieser Ebenen. Für Mehrebenensysteme ist es charakteristisch, laut Benz, dass die Akteure der diversen Ebenen in Beziehung zueinander auftreten, um Entscheidungen in Übereinstimmung zu bringen. Aufgrund dieser gegenseitigen Abhängigkeit stellt auch die Frage nach der Verflechtung einen elementaren Bestandteil politikwissenschaftlicher Analysen dar.[12] Forschungsgegenstände der Untersuchungen sind „die Ursachen, die Formen und die Folgen der Ebenenverflechtung“, so Benz.[13] Ein drittes Charakteristikum sind die intra- und intergouvernementale Regelsysteme. Intragouvernementale Regelsysteme beziehen sich auf Strukturen und Abläufe innerhalb einer Ebene und die intergouvernementalen Regelsysteme meinen die Art und Weise des Zusammenwirkens der Ebenen untereinander. Benz konstatiert, dass das endgültige Profil eines Mehrebenensystems sich durch eben dieses nicht minder komplizierte Zusammenspiel herauskristallisiert. Das letzte Merkmal greift die Putnam-Idee auf und verweist auf die Interaktion zwischen den Institutionen des Mehrebenensystems und privaten Akteuren. Den Bezug stellt Benz durch den Begriff „Governance“ her, der Interaktionen zwischen Exekutivorganen und Privaten für Mehrebenensysteme zwar nicht voraussetzt, aber ein gemeinsames beziehungsweise interessengeleitetes Agieren einräumt.[14]

Die Europäische Union (EU) stellt ein Mehrebenensystem gemäß der Benz´schen Definition dar, so fasst der Wissenschaftler wie folgt zusammen:

„Regieren in der EU wird wegen der wechselseitigen Verschränkung von nationalen und europäischen Entscheidungsprozessen als (…) ‚multilevel governance‘(…) bezeichnet. Diese Verflechtung ist in der Institutionenordnung der Union angelegt und beruht auf dem föderativen Prinzip, dass die Gliedstaaten und ihre Bevölkerung in der Union angemessen vertreten sei sollen.“[15]

Der Politikwissenschaftler Johannes Pollak und der Europawissenschaftler Peter Slominski verweisen in ihrem Werk „Das politische System der EU“ darauf, dass die Mehrebenenforschung zur Europäischen Union nicht Analysen über die Ausgestaltung der Institutionen verfolgt, sondern „die Prozesse und Auswirkungen europäischer Politik“ untersucht.[16] Die Autoren konstatieren dazu wie folgt:

„Supranationale und nationale Politik können nicht mehr als exklusive Sphären konzipiert, sondern müssen in ihrem vielfältigen Zusammenspiel analysiert werden. (…) Eine Trennung von nationalstaatlicher und internationaler oder europäischer Politik wird vom Mehrebenen-Ansatz abgelehnt.“[17]

Mit der Erkenntnis, dass Analysen über die Europäische Union mit Hilfe des multilevel governance-Ansatzes unternommen werden können, müssen aber auch systemimmanente Differenzen in die Betrachtungen des europäischen Mehrebenensystems einbezogen werden. Grundsätzlich besteht das Verfassungs-, Koordinations-, und das Legitimationsproblem, das Benz in seinem Werk beschreibt.[18] Die beiden letzten bilden darüber hinaus das Demokratieproblem.

Das Verfassungsproblem greift die Frage nach der grundsätzlichen Konstituierung des politischen Mehrebenensystems auf. Das Koordinationsproblem betrifft das effektive Zusammenwirken der Ebenen, ohne dabei das Postulat der föderativen Gewaltenteilung – „Kompetenztrennung und Ressourcenautonomie“ – zu unterschreiten.[19]

Das Legitimationsproblem bezieht den Bürger in den Blickwinkel der Betrachtungen mit ein. In einem Mehrebenensystem wie dem der Europäischen Union ist eine verbindliche Zuschreibung der zu verantwortenden Politik gegenüber einer 500 Millionen großen Bürgerschaft nicht zweifelsfrei festzulegen, erklärt Benz.[20] Wie oben angesprochen formiert sich an vierter Stelle das Demokratiedefizit, dass vielmals in der Fachliteratur besprochen wird.[21] Grundtenor ist zum einen die persistente Stellung der Europäischen Kommission im europäischen Institutionengefüge, zum anderen die dazu vergleichsweise schwache politische Stellung des einzig auf europäischer Ebene demokratisch legitimierten Organs, das Europäische Parlament, sowie ein umfassender Mangel an parlamentarischer Kontrolle durch die europäische Öffentlichkeit und ein Informationsdefizit seitens der selbigen.[22]

In dieser Arbeit wird das Motiv des Demokratieproblems genutzt, um einen weiteren Aspekt demokratischen Regierens in der Europäischen Union zu untersuchen. Daraus ergibt sich das Thema: Regieren in der Europäischen Union – der Handlungsstil des institutionellen Dreiecks im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mit Fokus auf europäische Interessenvertretungen

Der Gesetzgebungsprozess ist die elementare Funktion von demokratisch legitimierten Parlamenten.[23] Auch in der EU wird, analog zu nationalen Parlamenten, Rechtssetzung vollzogen. Die Europäische Kommission, der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament bilden zusammen das institutionelle Dreieck. Sie agieren im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemeinsam und erlassen ein Gros an Normen, die für die gesamte Europäische Gemeinschaft verbindlich sind. Allerdings agiert noch ein weiterer Akteur: die Privaten, wie Lobby- beziehungsweise Interessengruppen und Nichtregierungsorganisationen. Ihre Aufgabe ist es, ihre spezifischen Interessen während der Entscheidungsfindung der drei europäischen Institutionen mit einfließen zu lassen. Dieses Moment führt zu nachstehender These:

Das gezielte Tangieren der Lobbyisten gegenüber den europäischen Gesetzgebungsinstitutionen hat zur Folge, dass, vor dem Hintergrund der multilevel governance, das institutionelle Dreieck der Europäischen Union im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ein institutionelles Viereck ist.

Um diese These beleuchten zu können, sind forschungsleitende Fragen erarbeitet worden. In einem ersten Prüfschritt soll geklärt werden, wie Regieren in der Europäischen Union als wissenschaftliche Kategorie erfasst werden kann (Kapitel 2). Dazu werden die Erkenntnisse zur Konkordanzdemokratie nach Arend Lijphart herangezogen. In einem zweiten Prüfschritt wird zum einen pointiert der Frage nachgegangen, wie der Ablauf des Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens ist. Zum anderen soll geklärt werden, welche Funktionen die angebundenen Akteure dabei verfolgen (Kapitel 3). In Kapitel 4 werden akzentuiert der Begriff, die Funktionen, Arbeitsweisen und Kritik von Interessenvertretungen, die auf den europäischen Gesetzgebungsprozess Einfluss ausüben, vorgestellt. In diesen beiden Kapiteln wird sich auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), den Vertag über die Europäische Union (EUV), aktuelle Fachliteratur und Ausführungen des Online-Angebots der Europäischen Union bezogen. In den Schlussbetrachtungen wird die oben stehende These diskutiert.

2 Die EU als Konkordanzdemokratie nach Arend Lijphart

Die systemische Einordnung der Europäischen Union nach Arend Lijphart in die Kategorie der Konkordanzdemokratie soll das Verständnis für die spezielle Form des Regierens auf europäischer Ebene schärfen. Für die nachstehende Bearbeitung des Themas ist das Konzept ein probates Mittel, um die vielfache Vernetzung und Interaktionen zwischen den europäischen Institutionen und einer breiten Akteurszahl, die ihre divergierenden Interessen in den Politik- beziehungsweise Entscheidungsprozess einfließen lassen wollen, aufzuzeigen.

Der Politikwissenschaftler Arend Lijphart veröffentlichte erstmals 1999 sein Werk „Patterns of Democracy“ und veröffentlichte 2012 eine aktualisierte Version. Das Thema seiner Analyse ist die Einteilung 36 demokratischer Regierungssysteme in Konkurrenz- oder Konkordanzdemokratien, um zu zeigen, wie Entscheidungen in parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen getroffen werden.[24] Das Hauptunterscheidungsmerkmal der beiden Demokratietypen ist, dass in Konkurrenzdemokratien die regierungspolitische Mehrheit entscheidet und dass in Konkordanzdemokratien „as many people as possible“ eine Entscheidung treffen.[25]

Lijphart hat zehn Kriterien entwickelt, die die regierungspolitischen Prozesse innerhalb der Europäischen Union als Konkordanzdemokratie einstufen:

1. Executive power-sharing in broad coalition cabinets

In der Europäischen Kommission nominieren die Mitgliedstaaten der EU je einen Kommissar, der innerhalb der Kommissionsarbeit ein politisches Ressort, ähnlich einem Ministerposten, wahrnimmt.[26] Die politische Führung wird durch einen Kommissionspräsidenten umgesetzt, wobei jedes Kommissionsmitglied angewiesen ist nicht nationale Interessen, sondern die europäische Idee zu fokussieren.[27] Pollak und Slominski halten dazu jedoch wie folgt fest: „In der Praxis ist es aber sehr wohl so, dass Kommissare eines Landes die jeweiligen nationalen Interessen bzw. Sensibilitäten in Kommissionsinitiativen einbringen (…)“.[28] Neben dem Nominierungsverfahren durch die Mitgliedstaaten wird die Kommission durch das Europäische Parlament bestätigt, also legitimiert und bringt das europäische Parteienspektrum zusammen.[29] Sie agiert somit als liberale, permanente internationale Koalition – als das Exekutivorgan der Europäischen Union.[30]

2. Executive-legislative balance of power

Das Kräftegleichgewicht zwischen dem Exekutivorgan der EU und dem Legislativorgan, dem Europäischen Parlament, sieht Lijphart durch die Möglichkeit seitens des Parlaments gegenüber der Kommission ein Misstrauensvotum auszusprechen (Artikel 234 AEUV). Diese Zuordnung wird allerdings durch die legislativen Aufgaben des Rates der Europäischen Union unklar. Lijphart hebt dazu wie folgt hervor: „Overall, therefore, the Commission is much more like the equal partner in the consensus model (…)“.[31]

3. Multiparty system

Für Konkordanzdemokratien sind Vielparteiensysteme charakteristisch. Im europäischen Parlament wird das europäische Volk durch 751 Abgeordnete, die in neun Parteien angesiedelt sind, vertreten, wobei die Christ- und Sozialdemokraten das Gros der Parlamentssitze inne haben.[32] Im Gegensatz zu nationalen Parlamenten gibt es hier keine Regierungsmehrheit, wodurch die Konsensfindung im Fokus der Parlamentsarbeit steht.[33] Lijphart verweist zudem darauf, dass die themenspezifische Zusammensetzung des Rates ebenfalls einem „multiparty body“ entspricht.[34]

4. Proportional representation

In Mitgliedstaaten mit einer geringeren Bevölkerungsdichte wie Luxemburg werden sechs Abgeordnete für das Europäische Parlament gewählt. In Mitgliedsländern mit einer größeren Bevölkerungsdichte, wie zum Beispiel Deutschland, werden 96 Abgeordnete gewählt. Im Verhältnis zueinander ist in diesem Fallbeispiel Luxemburg überproportional vertreten. Das ist ein Aspekt des Verhältniswahlrechts und entspricht dem konkordanztheoretischen Merkmal, dass auch die politischen Auffassungen der kleineren Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament, gemäß dem Proporz, widergespiegelt werden sollen.[35]

5. Interest group corporatism

Lijphart macht Tendenzen eines korporatistischen Interessengruppensystems aus.[36] Als Beispiel kann hier der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss genannt werden. Er setzt sich aus 350 Mitgliedern aller europäischen Staaten zusammen, die entweder der Gruppe der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer oder anderer verschiedener Interessengruppen angehören.[37] Er bereitet entweder Stellungnahmen zu europäischen Themen für das Institutionendreieck auf oder wird direkt konsultiert und bildet damit eine Brücke zwischen den europäischen Gesetzgebungsinstitutionen und den europäischen Bürgern.[38] Seine ausschließlich beratende Funktion bedeutet zugleich, dass das korporatistische Element von Konkordanzdemokratien, nämlich eine starke europäische Verbändeebene, geschwächt wird.[39]

6. Federal and decentralized government

Das „power sharing“ ist ein wesentliches Merkmal einer Konkordanzdemokratie und kann ebenfalls für die föderalen und konföderalen Funktionsweisen sowie Strukturen der Europäischen Union ausgemacht werden.[40] Nicht nur die vertikale Gewaltenteilung, sondern eben auch das Fehlen einer „Zentralgewalt“ sind für Lijphart ausschlaggebende Aspekte, die Europäische Union zum Typus der Konkordanzdemokratie zuzuordnen.[41]

7. Strong bicameralism

Bikameralismus ist ein weiterer Gesichtspunkt von Macht- und Gewaltenteilung in einer Konkordanzdemokratie. Voraussetzungsvoll für Bikameralismus ist, dass „the two houses of a legislature be equal in strength and different in composition“, so Lijphart.[42] Grundsätzlich entspricht das legislative Zusammenspiel zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat diesem Merkmal. Allerdings verhindert auch hier wieder ein entscheidender Faktor die genaue Zuordnung. Im Gegensatz zum Europäischen Parlament wird der Rat nicht demokratisch legitimiert.[43]

8. Constitutional rigidity

Im Sommer 2005 scheiterte der Versuch einer Europäischen Verfassung.[44] Die Europäische Union konstituiert sich aber über ihre für alle Mitgliedstaaten geltenden und ratifizierten Verträge.[45] Der 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon gilt als konstituierendes Moment für die Europäische Union. Er umfasst sowohl Änderungen an bestehenden Grundlagenverträgen, als auch Auszüge des Verfassungsvertrags.[46] Eine Form von Rigidität macht Lijphart allerdings aus, nämlich der Abstimmungsmodus gemäß Art. 238 AEUV, der auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit verweist, sofern im Primärrecht der EU danach verlangt wird.[47]

9. Judical review

Lijphart bezeichnet den Europäischen Gerichtshof als eine Schlüsselinstitution im Institutionengefüge der Union, der damit einen weiteren Aspekt einer Konkordanzdemokratie entspricht: „The Court has the right of judical review and can declare both EU law and national laws unconstitutional if they violate the various EU treaties.“[48]

10. Central bank independence

Die Autonomie der Europäischen Zentralbank, als letztes Merkmal einer Konkordanzdemokratie, garantiert die Unabhängigkeit der europäischen Währungspolitik gegenüber politischen Eingriffen.[49] Eine nicht autonom handelnde Zentralbank könnte der Gefahr unterliegen, dass die Politik Einflussnahme ausübt und die Währungspolitik somit lediglich zum Ausdruck von Mehrheitsinteressen wird.

Die Zuordnung der EU zu dem Modell der Konkordanzdemokratie wird in der Literatur nicht unkritisch behandelt.[50] Ein Kritikpunkt bezieht sich auf die Diskrepanz zwischen theoretischer Auslegung und Wirklichkeit. Der Europawissenschaftler Olaf Leiße macht wie folgt darauf aufmerksam: „In der Praxis gibt es deutliche Gewichtsunterschiede, die demographische, ökonomische oder historische Ursachen haben können und die die interne ‚balance of power‘ in der EU in Frage stellen.“[51] Leiße verstärkt das Argument mit dem Hinweis auf neue Mitgliedstaaten wie Rumänien, die eine erhebliche ökonomische Differenz zu etwaigen EU-Mitgliedstaaten aufweisen und dadurch „ein Auseinanderbrechen der Union aufgrund der internen Heterogenität nicht abwegig erscheinen“ lassen.[52] Der Demokratietheoretiker Anton Pelinka macht einen zweiten Kritikpunkt auf. Er stellt die Zuordnung der Union zur Konkordanzdemokratie insofern in Frage, als dass mit dem Vertrag von Lissabon sowohl im Rat Mehrstimmigkeitstendenzen als auch im Parlament weitere Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte eingeführt worden sind.[53] Für Pelinka ist damit für die Europäische Union der Weg hin zu einer Konkurrenzdemokratie geebnet worden.[54]

[...]


[1] Moser/ Lietart 2013

[2] vgl. CEO Online 2015

[3] Offizielle Internetseite der Europäischen Union 2016a

[4] vgl. Europäische Kommission 2014

[5] vgl. Offizielle Internetseite der Europäischen Union 2016b, Stand 30.09.2016

[6] Benz 2009: 15

[7] ebd.

[8] Benz 2009: 16

[9] Hierzu: Scharpf, Fritz W./ Reissert, Bernd/ Schnabel, Fritz 1976

[10] Benz 2009: 16

[11] Benz 2009: 16

[12] Hierzu: Benz, Arthur 2000

[13] Benz 2009: 18

[14] vgl. Benz 2009

[15] Benz 2009: 134

[16] Pollak/ Slominski 2012: 65

[17] Pollak/ Slominski 2012: 65

[18] vgl. Benz: 2009

[19] Benz 2009: 19

[20] vgl. Offizielle Internetseite der Europäischen Union 2016c

[21] Hierzu: Bellamy, R./ Kröger, S. 2013; Kalina, O. 2012; Katz, R. S. 2001; Kluth, W. 1995

[22] vgl. Pollak/ Slominski 2012

[23] Hierzu: Bundestag-Online 2016; Klaus von Beyme 2010; Werner Patzelt 2003

[24] vgl. Lijphart 2012

[25] Lijphart 2012: 2; vgl. Schultze 2002

[26] vgl. Pelinka 2010

[27] vgl. Pollak/ Slominski 2012

[28] Pollak/ Slominski 2012: 91

[29] vgl. Pelinka 2010

[30] vgl. Lijphart 2012/ Offizielle Internetseite der Europäischen Kommission 2016a

[31] Lijphart 2012: 41

[32] vgl. Offizielle Internetseite des Europäischen Parlaments 2016a

[33] vgl. Pelinka 2010

[34] vgl. Lijphart 2012

[35] vgl. bpb 2014

[36] vgl. Lijphart

[37] Die Zahl der Mitglieder steht im Verhältnis zu der Einwohnerzahl der jeweiligen Mitgliedsstaaten. Vgl. Offizielle Internetseite der Europäischen Union 2016d

[38] ebd.

[39] vgl. Lijphart 2012; Pelinka 2010

[40] Pelinka 2010: 84; vgl. Lijphart 2012

[41] vgl. Pelinka 2010; Lijphart 2012

[42] Lijphart 2012: 43

[43] vgl. Pelinka 2010; vgl. Lijphart 2012

[44] vgl. Offizielle Internetseite der Europäischen Union 2016e

[45] vgl. CIIE 2007

[46] ebd.

[47] vgl. Lijphart 2012

[48] Lijphart 2012: 44

[49] vgl. Lijphart 2012; Pelinka 2010

[50] Hierzu: Schmidt, Manfred 2000; Leiße, Olaf 2009

[51] Leiße 2009: 254

[52] ebd.

[53] vgl. Pelinka 2010

[54] vgl. Pelinka 2010

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Regieren in der Europäischen Union. Parlament und Regierung in Mehrebenensystemen
Untertitel
Der Handlungsstil des institutionellen Dreiecks im Ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mit Fokus auf europäische Interessenvertretungen
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
30
Katalognummer
V354370
ISBN (eBook)
9783668404663
ISBN (Buch)
9783668404670
Dateigröße
618 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Brüssel, EU, Gesetzgebungsverfahren, Ordentliches Gesetzgebungsverfahren, Lobby, Lobbyarbeit, Einfluss, Kommission, Rat der Europäischen Union, Ministerrat, Europäisches Parlament
Arbeit zitieren
Friederike Stange (Autor:in), 2016, Regieren in der Europäischen Union. Parlament und Regierung in Mehrebenensystemen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354370

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