Regimezusammenbruch trotz Öl? Lassen sich Ausbruch und Verlauf der libyschen Revolution mit dem Rentierstaats-Ansatz erklären?


Hausarbeit, 2014

22 Seiten, Note: 1.3

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Rente, Rentierstaat und rent-seeking
2.2 Der Rentierstaats-Ansatzes

3. Fallstudie Libyen
3.1 Libyen als Rentenstaat
3.2 Überprüfung der Hypothesen

4. Zum Erklärungspotential des Rentierstaats-Ansatzes
4.1 Ungleichverteilung der Renten
4.2 Ende des „Arabischen Sozialvertrags“
4.3 Zerstörung ziviler Institutionen

5. Fazit

6. Literatur

1. Einleitung

Vier Jahre nach den weitreichenden Umwälzungen in der arabischen Welt bleiben aus politikwissenschaftlicher Sicht noch immer viele Fragen offen. Neben der nötigen Analyse von Ausbruch, Verlauf und Ergebnis der Proteste, stellt sich auch die Frage, ob alte Konzepte einen Erklärungsbeitrag leisten können oder ob sie an Erklärungspotential eingebüßt haben. In den letzten beiden Jahrzehnten galten die Bestrebungen der Forschung vor allem dem Ziel, den „Sonderweg“ der MENA-Region, die nur in geringem Maß an den globalen Phänomenen der Globalisierung und Demokratisierung teilnahm, näher zu erklären.[1] Einen substanziellen Beitrag dazu lieferte der von Hazem Beblawi und Giacomo Luciani in ihrem Sammelband von 1987 grundlegend eingeführte Rentierstaats-Ansatz. Seine zentralen Thesen sind, dass sich in Staaten mit hohem Rentenbezug autoritäre Strukturen verfestigen und entwicklungspolitisch defizitäre Wege beschritten werden. In seiner vielbeachteten Groß-N-Studie aus dem Jahr 2001 überprüfte Michael Ross die zentralen Thesen des Ansatzes und kam zum Schluss: „ (...) oil does hurt democracy.“ (Ross 2001: 356). Auch im deutschen Sprachraum erlangte der Ansatz Prominenz, wobei besonders die Publikationen von Peter Pawelka herausstehen (siehe z.B. Pawelka 1993). Während nur wenige Autoren den generellen Zusammenhang von hohen Ölrenten und ausbleibender Demokratisierung anzweifeln (Herb 2005), werden dem Ansatz gemeinhin eine hohe Erklärungskraft für die MENA-Region sowie begriffliche Klarheit, Interdisziplinarität und Innovationsfähigkeit attestiert.[2]

Doch welche Implikationen ergeben sich für die Rentierstaats-These nach den Umwälzungen des „Arabischen Frühlings“? Zunächst kann festgehalten werden, dass praktisch alle Staaten, die keinen systemgefährdeten Unruhen ausgesetzt waren, hohe Ölrenten bezogen. Während die Proteste in den ölreichen Golfstaaten eher begrenzt blieben, kam es in ölarmen Ländern zur Regimekrise (Syrien) oder gar zum Umsturz (Ägypten, Tunesien). Die offensichtlichen Ausnahmen dieses Befundes bilden die Geschehnisse in Bahrain und Libyen (vgl. Beck 2013: 654). Diese Arbeit macht es sich zur Aufgabe, den letzteren der beiden abweichenden Fälle näher zu untersuchen. Zwar wäre es Gaddafi ohne die Intervention der NATO im Februar 2011 wohl gelungen, sich an der Macht zu halten, dennoch bleibt erklärungsbedürftig, warum es überhaut erst zu den systemgefährdenden Protesten im Land kam. Die zentrale Fragestellung der Hausarbeit lautet also: Lassen sich Ausbruch und Verlauf der libyschen Revolution mit dem Rentierstaats-Ansatz erklären?

Diese Arbeit kann nicht zum Ziel haben, die Ursachen der Aufstände in Libyen in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Vielmehr überprüft sie eine rein rententheoretisch fundierte Argumentation auf ihr Erklärungspotential bezüglich Ausbruch und Verlauf der Proteste. Aus diesem Grund liegen auch die Geschehnisse nach der NATO-Intervention im März 2011, die sich außerhalb der Analysemöglichkeiten des Ansatzes befinden, nicht im Fokus dieser Hausarbeit. Um den empirischen Theorietest durchführen zu können, wird zunächst das Konzept der Rente und das des Rentierstaates vorgestellt. Danach werden von diesem Ansatz ausgehend mehrere Hypothesen abgeleitet, die in der anschließenden Fallstudie überprüft werden. Dazu soll Libyen zunächst als Rentierstaat charakterisiert, dafür werden die Kausalmechanismen des Ansatzes für den Zeitraum nach der Machtergreifung Gaddafis im Jahr 1969 nachgezeichnet. Im einem anschließenden Fazit wird abgewogen, ob der Rentierstaats-Ansatz zur Erklärung der libyschen Revolution einen Beitrag leisten oder aufgrund mangender Erklärkraft als beschädigt gelten kann. Ergänzend werden auch auf dem Ansatz basierende Argumente mit in die Evaluierung einbezogen.

2. Theoretische Grundlagen

Im Folgenden soll nun der Rentierstaats-Ansatz und sein Kausalmechanismus dargestellt werden. Dabei bezieht sich diese Arbeit auf den bereits erwähnten, grundlegenden Beitrag von Michael Ross. Zunächst werden hierzu jedoch die grundlegenden Begriffe Rente, Rentierstaat und rent-seeking näher erläutert.[3]

2.1 Rente, Rentierstaat und rent-seeking

Eine Rente lässt sich als ein Einkommen definieren, dem keine Arbeits- oder Investitionsleistung des Empfängers gegenübersteht (vgl. Chatelus/Schemeil 1984: 255). Diese Rente steht dem Empfänger zur freien Verfügung und muss nicht, wie beispielsweise der unternehmerische Profit, reinvestiert werden. Die wohl wichtigste Rentenart im MENA-Raum ist die Erdölrente, die jenen Anteil am Verkaufspreis des Erdöls darstellt, der die „Produktionskosten plus einen durchschnittlichen Gewinn übersteigt“ (Beck 2009: 27). Andere wichtige Rentenarten sind politische Renten und die Migrationsrente. Erstere sind Transferzahlungen, die in Form von Entwicklungs- oder Budgethilfen von privater oder staatlicher Seite an eine Regierung eines anderen Staates geleistet werden (ebd.). Letztere entstehen durch Überweisungen von Wanderarbeitern an ihre Familien im Heimatstaat. Als die ölreichen Staaten im MENA-Raum in den 1970er Jahren durch den steigenden Ölpreis über starke Rentensteigerungen verfügten, überwiesen sie einen Teil der Einnahmen an erdölarme Staaten in der Region, um diese zu stabilisieren und konservative Segmente in der arabischen Welt zu stärken. Zudem wurde die eigene Bevölkerungsarmut durch den Import von Arbeitskräften kompensiert, was der Migrantenrente zu ihrer wichtigen Stellung verhalf. Auf diese Weise induzierte die Erdölrente die beiden anderen Rentenformen und ließ so das regionale System des Petrolismus entstehen (vgl. Beck/Schlumberger 1999: 60). Neben diesen Rentenarten lassen sich noch weitere Formen finden, denen aber eher eine untergeordnete, weil lokale nur Bedeutung zukommt. Ein Beispiel hierfür wäre die Lagerente, wie sie beispielsweise Ägypten durch die Gebühren die bei der Nutzung des Suezkanals anfallen erzielt.

Ein Rentierstaat ist also ein Staat, dessen Staatshaushalt sich zu einem großen Teil durch externe Renten finanziert. Zentral dabei ist, dass die Regierung diese Rente monopolisiert und über sie frei verfügen kann. Dies gilt für die Migrationsrente jedoch nur mit Abstrichen. Zwar kann der Staat versuchen diese abzuschöpfen und wird dadurch in einem gewissen Maßen in Arbeits-oder Sozialpolitik entlastet, dennoch kann sie ebenso gut auch als eine Schwächung des Staates interpretiert werden (vgl. Beck 2009: 35). Klassischerweise ist an der Schaffung der Rente selbst nur eine Minderheit beteiligt, die Mehrheit wird nur bei ihrer Verteilung involviert. Wie hoch genau der Anteil am Staatshaushalt sein muss, damit von einem Rentenstaat gesprochen werden kann, bleibt Definitionssache. Giacomo Luciani setzte die Grenze bei einem mindestens vierzigprozentigem Rentenanteil am Staatshaushalt (Luciani 1987: 70), andere Autoren differenzieren teilweise stärker zwischen Rentenstaaten starker, mittlerer und schwacher Ausprägung (vgl. Beck/Schlumberger 1999).

Idealtypisch finanziert sich ein Rentierstaat Staat praktisch unabhängig von seiner Bevölkerung, diese wird vielmehr von ihm „alimentiert“ (Beck 2007b: 102). Eine kleine Staatselite monopolisiert die Renten und entscheidet über ihre Verteilung. So entsteht ein Patronagesystem, das sich nach unten in die Gesellschaft fortsetzt. Da die Rente den Großteil der disponiblen Werte im Gesamtsystem ausmacht, wird für die Bevölkerung ein Verhalten rational, dass als rent-seeking bezeichnet wird. Der Begriff kann definiert werden als das legale oder illegale Streben nach dem Zugang oder nach der Kontrolle über Renten (vgl. Karl 2004: 661). Diese volkswirtschaftlich gesehen unproduktive Tätigkeit der Konkurrenz um Renten durchzieht sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor. Die Mittelschicht strebt nach Arbeitsplätzen im aufgeblähten Staatsapparat, da diese Einnahmen durch Korruption versprechen. Letztere ist für Unternehmer ein erfolgversprechenderer Weg, als riskante Investitionen zu tätigen. Gute Beziehungen zum Staat sind bei der Verteilung von Subventionen oder Lizenzen sowie bei der Überwindung von bürokratischen Barrieren oder gar Gesetzen zentral (vgl. Beck/Schlumberger 1999: 61). Ärmere Teile der Bevölkerung fordern ihren Teil der Rente als Subvention für Grundnahrungsmittel.

2.2 Der Rentierstaats-Ansatzes

Der Rentierstaats-Ansatz versucht die Stabilität autoritärer Regime (abhängige Variable) mit der Verfügbarkeit von hohen Renten (unabhängige Variable) zu erklären. In seiner Studie fasst Michael Ross Erklärungszusammenhänge aus früheren Arbeiten in drei kausalen Mechanismen zusammen, die im Folgenden dargestellt werden (vgl. Ross 2001: 332ff.). Diese hier getrennt beschriebenen Mechanismen treten in der Realität meist komplementär und in verschieden starken Ausprägungen und Kombinationen auf.

(1) Der rentier effect ermöglicht es der Regierung, ihre Öleinnahmen zu nutzen, um Forderungen nach größerer Rechenschaft von Seiten der Bevölkerung abzuschwächen. Zum einen ist die Regierung aufgrund der hohen Renteneinnahmen nicht (oder nur in geringem Maße) auf eine Besteuerung der Bürger angewiesen (taxation effect). Diese besitzen ihrerseits keinen Hebel, um mehr Mitsprache oder politische Rechte einzufordern. Das historische Argument „no taxation without representation“ kann im Rentenstaat also nicht greifen. Zusätzlich kann das große Budget für exzessive Patronage von Seiten des Regimes genutzt werden. Durch umfangreiche Sozialprogramme kann dieses sich Legitimität gewissermaßen bei der Bevölkerung „erkaufen“ oder die Mittelschicht mit Arbeitsplätzen im Staatsapparat zufriedenstellen (spending effect). Dieser Tausch von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gegen politische Demobilisierung wurde von einigen Autoren als „arabischer/autoritärer Sozialvertrag“ beschrieben (vgl. Harder 2011). Des Weiteren tendieren die Regierung von Rentierstaaten dazu, die Bildung von sozialen Gruppen, die unabhängig vom ihr selbst agieren könnten, zu verhindern. So wird eine wichtige Voraussetzung für eine Demokratisierung untergraben (group formation effect) . Dies kann zum einen direkt durch die gezielte Zerstörung ziviler, unabhängiger Institutionen oder durch die Kooptation der Führer von oppositionellen Gruppen geschehen. Zum anderen kann dieser Effekt jedoch auch indirekt wirken. Aufgrund der dominanten Rolle des Staates in der Wirtschaft kann sich kein Sozialkapital auf einer Ebene zwischen Familie und Staat ansammeln, was beispielsweise die Entwicklung eines unabhängigen Bürgertums verhindert.

(2) Im Gegensatz zu diesen Kausalmechanismus richtet der repression effect sein Augenmerk nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den Repressionsapparat des Staates. Die Bürger in Rentenstaaten können zwar demokratische Forderungen stellen, doch kann die Regierung eventuelle Proteste mit einem teuren (rentenfinanzierten) Repressionsapparat erfolgreich niederschlagen.[4]

(3) Den modernization effect leitet Ross aus der Modernisierungstheorie ab. Diese versteht Demokratie als eine Folge von sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen, die durch ökonomisches Wachstum angestoßen werden. Als zentrale Aspekte dieses sozialen Wandels gelten besonders ein steigendes Bildungsniveau und eine zunehmenden Arbeitsteilung (vgl. Inglehart 1997). Während ersteres eine verbesserte Kommunikations- und Organisationsfähigkeit der Bürger zur Folge hat, ist letzteres notwendig für die Herausbildung einer unabhängigen Arbeiterschaft. Diese besitzt spezifische Fähigkeiten und hat so eine bessere Verhandlungsposition den Eliten gegenüber. Wenn jedoch Wirtschaftswachstum nicht zu diesen Entwicklungen führt, weil diese strukturell oder absichtlich blockiert werden, kann es auch keine demokratisierende Wirkung entfalten. Beispielsweise ist die im Rentierstaat dominierende Erdölindustrie sehr kapital- und wenig arbeitsintensiv. Es werden also nur wenige Arbeiter benötigt, diese werden darüber hinaus typischerweise oft durch Immigranten gestellt.

3. Fallstudie Libyen

Im Folgenden sollen die Erwartungen, die auf Basis des Rentierstaats-Ansatzes an den Fall Libyen gemacht werden können, überprüft werden. Dazu wird das Land zunächst als Rentierstaat charakterisiert, wobei die unter 2.2 vorgestellten Effekte für den Zeitraum zwischen 1969 und 2011 nachgezeichnet werden. Folgende Hypothesen zu Ausbruch und Verlauf der Rebellion, sollen anschließend überprüft werden:

(H1) Dem Zeitpunkt der Destabilisierung geht ein Rückgang der Renteneinnahmen, also ein sinkender Ölpreis voraus.

(H2) Die Proteste sind in ihrem Ausmaß begrenzt. Die Forderungen der Demonstranten richten sich in erster Linie nach mehr Wohlfahrtsstaatleistungen, nicht nach einem Regimewechsel oder gar einer Demokratisierung.

(H3) Das Regime antwortet auf den Druck von der Straße rentenstaattypisch mit einem Mix aus Repression und der Erhöhung öffentlicher Ausgaben.

3.1 Libyen als Rentenstaat

Die Geschichte der Ölförderung in Libyen beginnt mit den ersten Ölfunden 1959, acht Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes. Im Jahr 1961 exportierte das Land zum ersten mal Öl und trat kurz darauf der Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC) bei. Bei der Verstaatlichung der Erdölunternehmen ging Gaddafi behutsam vor. So drängt er zunächst auf mehr Mitsprache und bessere finanzielle Konditionen für den libyschen Staat, bevor er bis 1973 alle Erdölgesellschaften nationalisierte und Ausländer nur noch Minderheitsanteile hielten (vgl. Pedla 2012: 39).

Durch die Schließung des Suezkanals, die bis 1975 andauerte, wurde libysches Öl aufgrund des kurzen Transportweges nach Europa, deutlich attraktiver und verstärkt nachgefragt. Schnell machten die Einnahmen aus den Ölverkäufen einen signifikanten Teil des Staatsbudgets aus. Michael Herb errechnet einen durchschnittlichen Anteil von 58% der Öleinkünfte am Staatshaushalt seit der Unabhängigkeit (Herb 2005: 299), wobei davon auszugehen ist, dass bereits im Jahr 1970 fast 99% der Einkünfte aus Ölverkäufen stammten (vgl. Vandewalle 2006: 89). Die OPEC gibt in ihrem Statistischen Jahresbericht 2013 den Wert von 95% an Darüber hinaus besitzt das Land nachgewiesene Ölreserven im Umfang ca. 48,5 Millionen Barrel, was den höchsten Wert in Afrika darstellt (vgl. OPEC 2013: 22). Das Land kann also ohne Zweifel als ein Rentierstaat (starker Ausprägung) bezeichnet werden. Im Folgenden sollen die drei vorgestellten Kausalmechanismen (1) rentier (2) repression (3) modernization effect nachgezeichnet werden.

(1) Nach der Machtübernahme im Jahr 1969 begann Gaddafi das Land, seinem ideologischen Konglomerat aus Sozialismus, arabischem Nationalismus und Islam folgend, umzugestalten. Die Erdölrente spielte dabei eine essenzielle Rolle. Bis zum Jahr 1981 wurden die wenigen Steuern, die es in den Zeiten der Monarchie gegeben hatte, abgeschafft. Die Libyer hatten fortan nur noch eine symbolische drei-, bzw. vierprozentige (für Unternehmen) „Jihad-Steuer“ auf ihr Einkommen bzw. Gewinne zu entrichten (vgl. Sandebakken 2006: 145). Gleichzeitig begann die Regierung die öffentlichen Ausgaben für Bildungs- und Gesundheitssystem massiv zu erhöhen (vgl. Vandewalle 1998: 72). Die Ergebnisse waren deutlich steigende Alphabetisierungsraten und im regionalem Vergleich hohe Einschulungsquoten (vgl. Vandewalle 2011: 65). Sozialer Wohnungsbau war ebenso wie eine kostenlose Gesundheitsversorgung von Anfang an ein erklärtes Ziel des Regimes. Für den Zeitraum 1973 bis 1980 waren insgesamt 280.000 Neubauten geplant und die jährlichen pro-Kopf Gesundheitsausgaben erreichten im Jahr 1988 den zweithöchsten Wert aller arabischer Staaten nach Saudi-Arabien (vgl. ebd.: 67). Der deutlich steigende Lebensstandard in diesen Bereichen sicherte Gaddafi besonders im jungen Teilen der Bevölkerung breite Unterstützung (vgl. ebd.: 69).[5] Charakteristisch für Gaddafis Staat der Volksmassen (Jamahiriya) war, dass er die Formierung unabhängiger sozialer Gruppen, egal ob demokratisch oder nicht, zu keinem Zeitpunkt zuließ. Politische Parteien oder Vereinigungen waren ebenso wie unabhängige Medien immer verboten (vlg. Sandbakken 2006: 145). Anders als in anderen Rentierstaaten gab es in Libyen keine „Rentenklasse“ aus Technokraten oder Militärs. Diese waren ebenso wie die Anhänger der Monarchie entweder durch den Coup selbst beseitigt worden, gingen ins Exil oder wurden nach einem Umsturzversuch im Jahr 1975 marginalisiert (vlg. ebd.). Der dritten Universaltheorie nach, die Gaddafi in den drei Bänden des Grünen Buches vorlegte, sollte das Volk die Macht direkt ausüben und durch keine Institution darin beeinträchtigt werden. In der Realität bestand das politische System jedoch aus einer Vermischung aus (1) gewählten basisdemokratischen Institutionen, (2) revolutionäre Organisationen und paramilitärische Einheiten, (3) semi-institutionalisierte Stammestrukturen und (4) der Gaddafi-Familie und ihren informellen Beratergremien (vlg. Werenfels 2008: 12). Politische Entscheidungen wurden in intransparenten, informellen Netzwerken getroffen, in denen Gaddafi und sein unmittelbares Umfeld das Zentrum bildeten. Während akademische und religiöse Gemeinschaften nach und nach unterdrückt wurden, herrschte Gaddafi zu einem gewissen Grad mit Hilfe der - eigentlich ideologisch verhassten - Stämmen und traditionalen Eliten. So rekrutierte er Personal für den Sicherheitsapparat hauptsächlich aus den verbündeten Stämmen der Magarha und Warfalla (vgl. ebd.: 13). Eine wichtige Rolle bei der formellen Kooptation der Stammesführer spielten die sogenannten Volksführerschafftkomitees, über die durch materielle Privilegien und die Vergabe von Posten ein Teil der Erdölrente verteilt wurde (ebd.).

(2) Nach dem unblutigen Putsch im Jahr 1969 stieg das Militärbudget des Landes schnell auf fast 40 Prozent des Staatshaushaltes, die Truppenstärke verdreifachte sich bis 1981 annähernd (vgl. Allan 1981: 128). Allerdings blieb Gaddafi dem Militär gegenüber stets misstrauisch und ließ gezielt Volksmilizen bewaffnen, um ein Gegengewicht zu bilden und eine potentielle Putschgefahr zu reduzieren (vgl. Pelda 2012: 40). Auch der Repressionsapparat im Inneren des Staates wurde in den siebziger Jahren massiv ausgebaut. Eine entscheidende Rolle spielten dabei die sogenannten Revolutionskomitees, die offiziell 1977 gegründet wurden. Diese informellen Gruppen aus loyalen Anhängern des Regimes unterstanden direkt dem „Bruder Führer Gaddafi“ und hatten so, genau wie dieser selbst, eine Stellung außerhalb des politischen Systems inne. Sie sollten als Wächter fungieren und ideologischen Abweichungen bekämpfen, um so das Regime tiefer zu verankern. Durch die Einschüchterungen von Oppositionellen, willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen bildeten sie das Rückgrat des Repressionsapparates. Wenige Jahre nach ihrer Gründung hatten sie bereits weite Teile des politischen Systems und der Gesellschaft infiltriert und bildeten die mächtigste Gruppe des Landes (vgl. Vandewalle 2008: 27). In den neunziger Jahren wurde darüber hinaus die paramilitärische Revolutionsgarde gegründet, die als besonders loyal galt und zentrale Sicherheitsaufgaben wahrnahm (Werenfels 2008: 13). Im Jahr 2010 umfasste das libysche Heer ca. 50.000 Mann, die Zahl der Volksmilizen belief sich auf ca. 40.000, die der Revolutionsgarde auf ca. 3000 (CRS 2011: 27).

[...]


[1] Im Folgenden wird bei der Bezeichnung der Region der Begriff „MENA“ verwendet. Er umfasst als Akronym

für den englischen Begriff „Middle East North & African States“ gemeinhin die Staaten Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Libanon, Syrien, Jemen, Jordanien, Iran, Irak, Israel, die Palästinensischen Autonomiegebiete, die Vereinigten Arabischen Emirate sowie die Golfstaaten (vgl. Schlumberger 2008: 253).

[2] Für eine umfassende Würdigung des Ansatzes siehe Beck 2007b.

[3] Die Begriffe Rentenstaat und Rentierstaat werden im Folgenden synonym gebraucht.

[4] Ross verweist darüber hinaus auf die Möglichkeit, dass die hohen Ausgaben für Militär-/Repressionsapparat auch eine Antwort des ressourcenreichen Staates auf eine erhöhte Gefahr für ethische oder soziale Konflikte sein könnten. Die Variable für diese Erklärung erweist sich aber in der anschließenden Regressionsanalyse als nicht signifikant.

[5] Das Land ist auf dem afrikanischen Kontinent beim Human Development Index führend und weist vergleichbare Werte mit Costa Rica, Bulgarien oder Russland auf. (siehe HDI 2013)

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Regimezusammenbruch trotz Öl? Lassen sich Ausbruch und Verlauf der libyschen Revolution mit dem Rentierstaats-Ansatz erklären?
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Note
1.3
Jahr
2014
Seiten
22
Katalognummer
V354462
ISBN (eBook)
9783668404809
ISBN (Buch)
9783668404816
Dateigröße
546 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
regimezusammenbruch, lassen, ausbruch, verlauf, revolution, rentierstaats-ansatz
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, Regimezusammenbruch trotz Öl? Lassen sich Ausbruch und Verlauf der libyschen Revolution mit dem Rentierstaats-Ansatz erklären?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354462

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