Sexuelle Biografien älterer Frauen als Grundlage der Sexualgeragogik


Diplomarbeit, 1999

96 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitende Gedanken

2. Das Alter(n)
2.1. Altersgrenzen
2.2. Demographische Besonderheiten weiblichen Alter(n)s

3. Die Sexualität des Alter(n)s
3.1. Sexualität – Annäherung an einen Begriff
3.1.1. Bültmann/ Sielert
3.1.2. Freud
3.1.3. Laws
3.2. Bedeutungswandel von Sexualität
3.2.1. Das Tabu der Selbstbefriedigung
3.3. Physiologische Veränderungen
3.4. Weibliche Alter(n)ssexualität

4. Sexualgeragogik – eine neue Wissenschaftsdisziplin?

5. Biographiearbeit mit älteren Menschen

6. Biographiearbeit in der Sexualgeragogik
6.1. Ziele und Intentionen
6.2. Ältere Frauen als Zielgruppe
6.3. Inhalte der sexuellen Biographie
6.3.1. Aufklärung
6.3.2. Sexualität in der Ehe
6.4. Die Gruppe als Sozialform
6.5. Sexualgeragogische Methoden
6.5.1. Malen
6.5.2. Fotos
6.5.3. Tagebuch
6.5.4. Phantasieübungen
6.5.5. Körperübungen
6.6. Anforderungsprofil an Teamerinnen

7. Ergebnisse und Ausblick

8. Literaturverzeichnis

Diplomarbeit

im Studiengang Erziehungswissenschaft

an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel

Erziehungswissenschaftliche Fakultät

„Sexualbiographien älterer Frauen

als Grundlage der Sexualgeragogik“

„Was der Mensch ist, sagt ihm nur seine Geschichte“ (Dilthey)

1. Einleitende Gedanken

Die absolute Zahl älterer Menschen nimmt in der Bundesrepublik zu. 20 % der deutschen Bevölkerung sind bereits heute über sechzig. Diese Zahl wird in den folgenden Jahren weiter ansteigen. Zudem erhöht sich die durchschnittliche Lebenserwartung, so dass auch die Zahl der Hochbetagten weiter steigt. Im Gegensatz zu früher erfreuen sich die Alten dabei einer verbesserten physischen und psychischen Gesundheit. Durch ein früheres Ausscheiden aus dem Berufsleben oder der Familienarbeit kann die verbleibende Lebenszeit einen Zeitraum von fünfzig Jahren umfassen. Ältere Menschen wollen sich dabei nicht mehr der traditionellen Altersrolle anpassen. Der Ruhestand ist nicht länger eine Zeit des Verweilens, sondern wandelt sich zu einer Zeit der Neuorientierung und Selbstfindung.

„Sexualbiographien älterer Menschen als Grundlage der Sexualgeragogik“ – das Thema habe ich in diesem Zusammenhang aus verschiedenen Gründen gewählt. Wenn immer mehr Menschen immer älter werden, sollten Konzepte entwickelt werden, mit deren Hilfe diese Lebensphase sinnvoll gestaltet werden kann. Bestehende geragogische Bildungs- und Freizeitangebote gehen bisher oft an den Bedürfnissen älterer Menschen vorbei.

Wichtige Impulse für diese Arbeit ergaben sich aus der Vortragsreihe „Sexualität und Älterwerden“ und dem sich anschließenden Forschungskolloquium, die unter der Leitung von Prof. Dr. Uwe Sielert und Studienrätin Elke Mahnke im Sommersemester 1999 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stattfanden. Ich hatte die Möglichkeit zum Gespräch mit einigen der ReferentInnen. Auf ihre Vorträge wird in der Arbeit Bezug genommen. Aber auch in den Diskussionen des Forschungskolloquiums tauchten immer wieder neue Gedankengänge auf, die sich für diese Arbeit von Bedeutung erwiesen.

Während der Teilnahme am Modellprojekt „Sexualpädagogik an der Hochschule“ wurde mir bewusst, dass die Sexualität älterer Menschen ein Thema ist, welches von der Wissenschaft bisher sehr einseitig erforscht wurde. Vornehmlich geht es um den „Ist-Zustand“, der als „Alterssexualität“ erfragt und nach klaren – männlichen - Faktoren vermessen wird. „Wie oft“, „wie lange“ und „bis wann“ - das sind die Fragen, die gestellt werden. Tieferliegende Ursachen, die zu Lust oder Unlust führen, werden meist nicht erörtert.

Durch die längere Lebenszeit der Frau ergibt sich eine Feminisierung des Alters. Zwei Drittel der über 65jährigen und drei Viertel der über 75jährigen sind Frauen. Diese Situation erfordert spezifische Bildungsangebote sowie Lebensgestaltungskonzepte. Aus diesem Grunde befasse ich mich mit Sexualbiographien älterer Frauen. Meine eigene Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht erleichtert mir zudem das Verständnis für die weibliche Sexualität. Homosexuelle Lebensformen sollen nicht ausgeschlossen werden. Im Rahmen dieser Arbeit wird auf diese Thematik jedoch nicht näher eingegangen. Ebenso verhält es sich mit anderen Kulturkreisen. Die Grundlagen sind dieselben, die spezielle Thematik muss jedoch explizit erarbeitet werden.

Es fehlen Möglichkeiten, um mit älteren Frauen zu ihrer Sexualität zu arbeiten zu können. In der Sexualpädagogik wird Biographiearbeit bereits eingesetzt. Sie dient der Selbstreflexion, um ein Gefühl der eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu bekommen. Eine derartige Biographiearbeit ist mit älteren Frauen nicht vorgesehen. Dabei können gerade im Bereich der Sexualität durch Reflexion neue Einsichten gewonnen werden, die dadurch zu einer Bereicherung und einer neuen Sichtweise im Alter führen.

Eine Aufgabe der Hochschulen sei es, so Veelken, Modelle zu entwickeln, nach deren Form Bildungsprozesse für Ältere ablaufen können. Diese müssten den Bedürfnissen der Zielgruppe angepasst sein und die verschiedenen Altersstufen innerhalb dieser Gruppen berücksichtigen (Veelken, 1990, S. 47). Ziel dieser Arbeit ist es, ein Konzept zu entwickeln, dessen Bausteine die theoretische Grundlage für die Arbeit mit der sexuellen Biographie älterer Frauen bilden. Eine wichtige Grundlage ist dabei das Verständnis von Sexualität, da ältere Menschen diesbezüglich andere Werte und Normen erfahren haben. Diese Thematik zieht sich als roter Faden durch die gesamte Arbeit und wird in den jeweiligen Kontext gestellt.

Zunächst wird der Begriff „Alter(n)“ definiert. Verschiedene Definitionen und Ansätze werden dargestellt. Da der Lebensabschnitt „Alter“ einen langen Zeitraum umfassen kann, ist es unmöglich, alle älteren Menschen in einer Gruppe zusammenzufassen. Die Einteilung in „Kohorten“ und „Altersklassen“ wird vorgenommen und begründet. Ziel ist es zu verdeutlichen, dass Alter(n) ein individueller Prozess ist, der nicht auf numerische Altersgrenzen festgelegt werden kann, sondern auf gemeinsamen historisch-gesellschaftlichen Erfahrungen sowie dem Ausscheiden aus der Erwerbs- bzw. Familienarbeit basiert.

In einem weiteren Punkt wird auf die demographischen Besonderheiten weiblichen Alter(n)s eingegangen. Durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen beginnt die Altersphase für Frauen häufig zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Auf der anderen Seite ergibt die Feminisierung des Alters – bedingt durch die längere Lebenszeit der Frau, die Weltkriege und andere Faktoren – eine Situation, die es Frauen erschwert, im höheren Alter neue Partnerschaften aufzubauen.

Das zweite Kapitel behandelt die „Sexualität des Alter(n)s“. Es ist das umfangreichste Kapitel, da es die Grundlage für die gesamte Arbeit darstellt. Als erstes wird Sexualität unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet. Anhand der Definitionen von Bültmann und Sielert, Freud und Laws werden Ganzheitlichkeit und Bedeutung von Sexualität dargestellt, ihre Auswirkungen auf die Einstellung älterer Menschen untersucht.

Grundlegend ist der Bedeutungswandel von Sexualität, da sich die Einteilung der Altersklassen und Kohorten am jeweiligen Erleben von Sexualität orientiert. In der Biographiearbeit mit älteren Menschen ist es unerlässlich, sich mit den historisch-gesellschaftlichen Veränderungen von Sexualnorm und Sexualmoral auseinanderzusetzen, da diese das Verständnis und die Erfahrungen älterer Menschen maßgeblich beeinflussen. Die Einstellung zur Sexualität und ihre Bedeutung haben sich in den letzten zweihundert Jahren stark verändert. Aus diesem Grunde beginnt die Erarbeitung des Wandels bereits im 19. Jahrhundert, da die Veränderungen jener Zeit die Einstellung der Elterngeneration der heute älteren Menschen prägten.

Die Aufarbeitung des Verbotes der Selbstbefriedigung ist ein Exkurs, der verdeutlichen soll, wie sich solche Normen bis heute auf das sexuelle Erleben auswirken können.

Die physiologischen Veränderungen während des Alternsprozesses sind Thema des nächsten Abschnitts. Unzureichende Kenntnisse führen zu Unsicherheiten und Ängsten, die eine positive Einstellung zur Sexualität im Alter behindern können. Veränderungen des Körpers, der sexuellen Potenz und deren Auswirkungen auf die Sexualität werden erläutert. In der Arbeit mit älteren Frauen ist es für Teamerinnen wichtig, über altersgemäße körperliche Veränderungen informiert zu sein, da Fragen auftauchen können. Aufklärung über diese Vorgänge kann Unsicherheiten abbauen.

Im Weiteren geht es um die weibliche Alter(n)ssexualität. Wichtig ist für diesen Abschnitt, dass es die Alterssexualität nicht gibt. Aus diesem Grund wird hier der Begriff „Alter(n)ssexualität“ gewählt. Sexualität im Alter ist ebenso individuell wie das Alter(n) und ergibt sich aus der jeweiligen Biographie. Nicht ausser acht zu lassen sind dabei die männliche Sichtweise sowie die demographischen Bedingungen, die die Sexualität der älteren Frau beeinflussen können.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie „Sexualgeragogik“ definiert werden kann. Dazu wird „Geragogik“ definiert und mit ihren Bildungsangeboten dargestellt. Über die „Sozialgeragogik“ wird die Verbindung zur Sozial- und Sexualpädagogik hergestellt. Es soll untersucht werden, ob Inhalte und Ziele dieser Wissenschaftsdisziplinen auf die Arbeit mit älteren Menschen übertragen werden können.

Biographiearbeit mit älteren Menschen steht im Mittelpunkt des vierten Kapitels. „Biographie“ wird definiert und in ihrer Bedeutung für ältere Menschen dargestellt. Biographiearbeit ist wichtig für das Entdecken und Erkennen eigener Wünsche und Vorstellungen, die im Alter verwirklicht werden können. Auch hier werden Bezüge zur Sexualität hergestellt, um darauf hinzuweisen, dass die Sexualität des Alter(n)s aktiv gestaltet werden kann.

Ziel des letzten Kapitels ist die Umsetzung der Ergebnisse für die Erarbeitung einer Konzeptionalisierung der Arbeit mit älteren Frauen zur sexuellen Biographie. Ziele und Intentionen der sexualgeragogischen Biographiearbeit sind der erste Schritt. Im weiteren werden Zielgruppe, Inhalte, Sozialform, Methoden und das Anforderungsprofil an Teamerinnen erarbeitet. Daraus ergeben sich konkrete Möglichkeiten für die professionelle sexualgeragogische Arbeit mit Frauen.

2. Das Alter(n)

2.1. Altersgrenzen

“Waren der reife Mann und die reife Frau sexuell jahrhundertelang auf dem erotischen Abstellgleis, so sind im nächsten Millennium die Frau und der Mann ab 36 die neuen Sexsymbole“ (Joop, 1999, S. 132). Für den Modemacher Wolfgang Joop beginnt das Alter mit 36. Es ist für ihn das Alter der höchsten Attraktivität, in welchem Frauen und Männer durch Gentherapie, plastische Chirurgie, Fitness und gesunde Kost - „Health Food“ - die äußerlichen Erscheinungen des Alterungsprozesses aufhalten können (vgl. ebd, S. 133).

Diese Altersgrenze ist aber durchaus nicht negativ besetzt. Die Farbe grau, bisher Zeichen einer ausrangierten Generation, wird in Zusammenhang gebracht mit Laptops, Nokia-Handys und Gaggenau-Kühlschränken, Erkennungszeichen für Erfolg und Wohlstand (vgl., ebd., S.133).

Beim sexuellen Alter wird zwischen den Geschlechtern unterschieden. Für die Frau beginnt es mit dem Klimakterium um das 40ste Lebensjahr herum, d. h., mit dem Ende der Fruchtbarkeit. Sie gilt als alt, wenn sie „ihre zugewiesene weibliche Rolle nicht mehr in vollem Umfang übernehmen kann“ (Ebberfeld, 1992, S. 67). Bei dieser Betrachtungsweise wird allerdings nicht beachtet, dass Frauen nach der Menopause zwar nicht mehr in der Lage sind, Kinder zu bekommen, aber damit noch nicht das Ende ihrer sexuellen Potenz erreicht haben. Diesen Höhepunkt erreichen sie zwischen dem 30sten und 40sten Lebensjahr, paradoxerweise also kurz vor Beginn ihres sexuellen Alter(n)s. Sexuelle Potenz bleibt ihnen bis ins hohe Alter erhalten.

Das sexuelle Lebensalter des Mannes beginnt erst mit ungefähr sechzig Jahren, da seine Zeugungsfähigkeit bis ins hohe Alter erhalten bleibt. Den Höhepunkt der sexuellen Potenz überschreiten Männer bereits mit dem 20sten Lebensjahr (vgl. ebd.). Am Beispiel dieser Altersgrenze wird eine männliche Sichtweise des Alters deutlich, da Zeugungsfähigkeit als Beweis einer lebenslangen Libido angesehen wird. Maßstab für gelebte Sexualität sind männliche Messfaktoren wie Koitusfrequenz und Selbstbefriedigung[1].

Dies sind zwei Definitionen des Alters. Der Prozess des Alterns beginnt bereits mit der Geburt und setzt sich bis zum Tode fort. Wie am Beispiel des sexuellen Alters deutlich wird, gibt es keinen markanten biologischen Umbruch, der den Beginn des Alterns festlegt. Äußerliche Faktoren sind in diesem Fall ebenfalls äußerst unzuverlässig. Manche Menschen bekommen bereits in jungen Jahren graue Haare, andere erst viel später. Alter kann kalendarisch bemessen werden, als die seit der Geburt vergangene Zeit. Unstimmigkeiten gibt es mit Kulturen, die nicht unsere Zeitmessung verwenden, wie dem Islam. Das bürokratische oder formale Alter hingegen ist ein festes Datum. Es kennzeichnet den Beginn des Wahlrechts, der Erlaubnis, Alkohol zu trinken oder den Eintritt ins Rentenalter (vgl. Schroeter/ Prahl, 1999).

Die Liste der Definitionen ließe sich fortsetzen. Das Alter ist eine soziale Konstruktion, die entsprechend den gesellschaftlichen Vorgaben variiert: „Alter ist heute nicht mehr primär als biologischer Prozess anzusehen, als Abnahme gewisser funktioneller und körperlicher Fähigkeiten, sondern Altern ist heute primär soziales Schicksal“ (Thomae, 1968. Zit. n. Lehr, 1994, S.208). So wurde festgestellt, dass es keinen nur alternsbedingten Leistungsabfall der geistigen Fähigkeiten älterer Menschen gibt. Im Gegenteil wurde erforscht, dass sich die geistigen Fähigkeiten in manchen Bereichen im Alter sogar noch steigern. Durch Training und Stimulation können bereits bestehende Abbauerscheinungen der intellektuellen Fähigkeiten aufgehalten werden (vgl. Lehr, 1994).

Altern ist ein individueller Prozess, der von jedem Menschen anders wahrgenommen wird. Die Einstellung der sozialen Umwelt ist verantwortlich für das eigene Bewusstsein dem Älterwerden gegenüber und prägt das Selbstbild. Ein älterer Mensch mit verschiedenen gesundheitlichen Beschwerden kann sich noch jung fühlen, wenn sein Selbstbild nicht von der Gesellschaft verzerrt wurde (vgl. ebd., 1994). Deutlich wird dies auch an der Sexualität älterer Menschen. Da Alterssexualität lange Zeit mit einem Tabu belegt war, beenden manche Paare ihre sexuelle Aktivität ohne alternsbedingte Notwendigkeit. Die Verhaltenserwartungen anderer Menschen führen somit entgegen den eigenen Wünschen zur Aufgabe von Sexualität, zur Einschränkung des eigenen Lebens- und Erlebnisraumes.

„Das gesellschaftliche Bezugssystem wird zum bestimmenden Faktor für das Verhalten, für das Selbsterleben, für das Selbstbild. Älterwerden wird deswegen für den einzelnen zum Problem, weil damit die Gesellschaft bestimmte Verhaltenserwartungen an ihn stellt – Verhaltenserwartungen, die häufig nicht an der Realität und auch nicht immer an der gesundheitlichen Notwendigkeit, sondern an traditionellen, oft stereotypen Vorstellungen orientiert sind und gerade dadurch eine Anpassung der Älterwerdenden erschweren“ (ebd., S. 208).

Ältere Menschen werden von der Gesellschaft mit bestimmten Verhaltenserwartungen und –vorschriften konfrontiert, die sie starken Normierungen unterwerfen. Dabei variieren jedoch die Lebensjahre. Wer von wem „als“ alt bezeichnet wird, ist abhängig von der Situation der/ des Beurteilenden und verändert sich im Laufe des Lebens. Jugend und Alter werden an dem gemessen, was man selbst ist. Mit zwanzig findet man vierzig alt, hat man dieses Alter erst einmal selbst erreicht, verschiebt sich die Grenze.

In dieser Arbeit wird mit der Einteilung in „Kohorten“ ein grundlegender Denkansatz gewählt. Nicht das Lebensalter kennzeichnet die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kohorte, vielmehr sind es historisch-gesellschaftliche Gemeinsamkeiten. Jedes Individuum einer Gesellschaft wird damit erfasst.

„Eine Kohorte ist ein ‚Aggregat von Individuen‘, die eine gemeinsame Zeitspanne durchleben, die zur gleichen Zeit von einem gleichen Ereignis, von ‚äußeren Attributen‘ (...) wie Geburt, Schuleintritt, Eheschließung, Scheidung, Eintritt in den Ruhestand, Krieg, Wirtschaftskrisen, Vertreibung in der Kindheit, Arbeitslosigkeit, technische Innovationen pp. betroffen sind (...)“ (Prahl/ Schroeter, 1996, S. 251).

Die Kohorte ist damit der sozialen Klasse oder ethischen Gruppe ähnlich und kann als strukturelle Kategorie aufgefasst werden. Menschen einer Kohorte haben eine Reihe gemeinsamer Erfahrungen, die für diese eine bestimmte Kohorte gelten und sie von allen anderen trennt. Sie haben eine für sie einzigartige „historisch-kulturell-gesellschaftliche“ Konstellation durchlebt (vgl. ebd., S. 251).

Zu den einmaligen Ereignissen gehören die Weltkriege, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, die Währungsreform, die Revolution der Studenten, die Techno-Welle, aber auch die sich wandelnde Einstellung von Sexualität, um die es hier im Besonderen geht. Aus diesem Grunde gewinnt die Darstellung des Wandels von Sexualmoral und Sexualität für die Arbeit mit älteren Menschen eine besondere Bedeutung. Frauen, die einer Kohorte angehören, haben einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund, der ihre Auffassung und ihr Erleben von Sexualität geprägt hat.

Daraus ergibt sich die Bedeutung eines weiteren Ansatzes, die Einteilung in „Alterskategorien“. Er erscheint sinnvoll, da die Altersphase, beginnend mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben bzw. der Beendigung der Familien- und Kinderarbeit, einen Zeitraum von fünfzig Jahren umfassen kann. Menschen mit einem derartigen Altersunterschied können nicht zu einer einzigen Gruppe gezählt werden. So wird unterschieden zwischen den „Jungen Alten“, den „Alten Alten“ und den „Hochbetagten“. Veelken zählt zu der Gruppe der Jungen Alten alle älteren Erwachsenen ab fünfzig Jahren, die aus dem Erwerbssleben ausscheiden bzw. die Familie- oder Kinderarbeit beenden (vgl. Veelken, 1990, S.18). Nach Reimann/ Reimann zählen zu den Jungen Alten die 55- bis 70jährigen. Bei 70 Jahren liegt ihnen zufolge die Grenze zu den Alten Alten, bei 80 beginnen die Hochbetagten (vgl. Reimann/ Reimann, 1994, S. 7).

Prahl/ Schroeter stellen andere Einteilungen dar:

„So werden die 60 bis 75-jährigen oft als die ‚jungen Alten‘, die 75-90-jährigen als die ‚Alten‘, die 90-100-jährigen als die ‚Hochbetagten‘ und die über 100-jährigen als die ‚Langlebigen‘ bezeichnet. Andere Einteilungen bezeichnen die 45-60-jährigen, die vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten, als die ‚jungen Alten‘ und die 60-75-jährigen als die ‚neuen Alten‘“ (Prahl/ Schroeter, 1996, S. 13).

Ich möchte mich in Bezug auf die Alterskategorien nicht an einer numerischen Altersgrenze orientieren, da ich es für schwierig halte, eine allgemein verbindliche Grenze für den Beginn des Alters zu bestimmen. Der Eintritt in das junge Alter wird hier mit dem Eintritt in die nachberufliche oder nachfamiliale Lebenszeit festgelegt. Ein einschneidendes Erlebnis wird markiert, gleich, welches biologische oder kalendarische Alter ein Mensch erreicht hat.

Diese Einteilung hat einen weiteren Hintergrund, der für die Konzipierung einer biographischen Arbeit mit älteren Frauen von Bedeutung ist. Mit dem Eintritt in die nun folgende Lebenszeit haben Frauen die Möglichkeit, sich um ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu kümmern. Sie können nachholen, wozu ihnen durch Familie und Beruf bisher die Zeit fehlte. Sie sind gesund, mobil und entlastet von den Aufgaben der Familie. Es entsteht eine Form neuer Freiheit, die sie zur Entfaltung ihrer eigenen Persönlichkeit nutzen können. Im Kapitel „Ältere Frauen als Zielgruppe der biographischen Arbeit in der Sexualgeragogik“ werde ich näher auf diese Möglichkeiten eingehen.

Die Zugehörigkeit zu Kohorten ist für die biographische Arbeit wichtig. Die Frauen der Alterskategorie der Jungen Alten kommen aus den Geburtsjahrgängen der Nachkriegszeit bis in die Adenauer-Ära mit den für diese Zeit geltenden Sexualnormen. Auf diese Weise kann das Lebensalter mit den historisch-gesellschaftlichen Ereignissen in Verbindung gebracht werden.

„Die meisten Frauen dieser Generation sind in den dumpfen fünfziger Jahren aufgewachsen und standen, was ihre Sexualität betrifft, unter ständigem moralischen Druck. Die Hemmungen so mancher älteren Frau, Sexualität wirklich zu genießen, kann man nur verstehen, wenn man tief in die Zeit ihrer Jugend zurückgeht. Und erst, wenn es diesen Frauen gelingt, die Last der Vergangenheit abzuschütteln, ist es ihnen möglich, sich selber auch im späten Alter noch zu befreien“ (Kolle, 1997, S. 16 f.).

Die Alten Alten haben eine repressive Sexualmoral erfahren. Ihre sexuelle Sozialisation wurde durch den Nationalsozialismus geprägt. Ihr frühes Erleben von Sexualität unterscheidet sich von dem der Frauen der folgenden Kohorten[2]. Kirchliche und religiöse Vorschriften spielten in ihrer Jugend eine größere Rolle. Auch waren sie noch sehr eingeengt in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter ohne scheinbare sexuelle Bedürfnisse.

„Die Gruppe der Frauen und Männer, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aufwuchs, wurde meist unzureichend oder gar nicht aufgeklärt, lebte mit großen religiösen und moralischen Einschränkungen, einer Doppelmoral, die Männern sexuell mehr gestattete als Frauen, und fand es vielfach ganz normal, daß Sexualität vom Mann dominiert wird und der Frau eigentlich nur wenig Spaß machte“ (Sydow, 1995, S. 62 f.).

Die Zahl der Hochbetagten hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Sie erlebten eine Zeit der sexuellen Liberalisierung in der Zeit vor dem Nationalsozialismus. Darauf wird im Kapitel „Bedeutungswandel von Sexualität“ ausführlich eingegangen. Heute sind die Alten Alte und Hochbetagten teilweise pflegebedürftig und haben nicht mehr die Möglichkeiten, die den Jungen Alten noch offenstehen. Außerdem ist ihre Sexualität durch die demographischen Gegebenheiten stärker eingeschränkt. Deswegen möchte ich mich im folgenden Kapitel mit dieser Problematik auseinandersetzen.

2.2. Demographische Besonderheiten weiblichen Alter(n)s

Das Bild der älteren Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Ihr äußeres Erscheinungsbild, aber auch Einstellungen und Interessen unterscheiden sich sehr von denen früherer Generationen. Die Jungen Alten sehen heute vergleichsweise jünger aus als Gleichaltrige früherer Generationen. Die Ursachen liegen im Lebenswandel. Ältere leben heute gesünder, sind aktiver und verfügen über ein höheres Bildungsniveau. Ihre verbesserte wirtschaftliche Situation erreichen sie durch eine qualifizierte Berufsausbildung und frühzeitige finanzielle Absicherung (vgl. Bechtler, 1993, S. 13). Die Emanzipationsbewegung hat dazu beigetragen, dass auch zunehmend ältere Frauen in qualifizierten Berufen tätig sind bzw. waren, so dass sie eigene Renten- und Pensionsansprüche erwerben konnten. Diese Frauen sind aktiver und selbständiger, wodurch ihnen die Probleme des Alterns und des Witwendaseins leichter fallen (vgl. ebd., S. 24)[3].

Trotzdem trifft es noch für viele ältere Frauen zu, dass sie durch schlechtere Erwerbschancen in ihrer Vergangenheit und einer damit verbundenen niedrigeren Rente sozial schlechter gestellt sind als gleichaltrige Männer (vgl. Prahl/ Schroeter, 1996, S. 112). „Alte Frauen waren nicht nur in ihrem bisherigen Lebenslauf benachteiligt, sie sind es in ihrem Altersstatus immer noch“ (ebd., S. 112). Mittellosigkeit ist für viele alte Frauen ein großes Problem und steht einem gesellschaftlichen Leben mit neuen möglichen Kontakten im Wege. Auch stellen Frauen den Hauptanteil der in der familiären Pflege Tätigen dar, wodurch ihnen gesellschaftliche Kontakte zusätzlich erschwert und sie in die „soziale Isolation“ getrieben werden (vgl. ebd., S. 32).

Medizinischer Fortschritt und wirtschaftliche Niveauanhebung tragen dazu bei, dass sich die demographischen Bevölkerungsstrukturen in vielen Teilen der Welt verändern. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt in Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland und Japan über 70 Jahre. In diesen Gesellschaften erhöht sich der Anteil der über 60jährigen von heute 20-25% auf bis zu 35% im Jahr 2030 (vgl. Reimann/ Reimann, 1994, S. 22). Die Prognosen differieren, da viele Faktoren für die Bevölkerungsentwicklung verantwortlich sind. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass sich der Anteil der Alten an der Population weiterhin vergrößern wird.

Hinzu kommt die „Verjüngung“ des Alters. Die Mehrzahl der ArbeitnehmerInnen scheidet aufgrund arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen vor dem 60. Lebensjahr aus dem Erwerbsleben aus. So liegt das durchschnittliche Rentenzugangsalter für Männer derzeit bei 58, für Frauen bei 56 Jahren (vgl. ebd.). Dadurch beginnt für viele Frauen die Altersphase zu einem Zeitpunkt, an dem sie selbst sich noch gar nicht alt fühlen. Ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ist keineswegs beeinträchtigt, wenn ihre neue Lebensphase beginnt.

Koitus, Selbstbefriedigung[4] und Orgasmus sind die zentralen Messfaktoren, mit denen weibliche Alterssexualität bestimmt wird. Diese Beurteilungskriterien machen keinen Unterschied zwischen der Sexualität von Frauen und Männern. Quantitative Untersuchungen, die sich an einer aktiven genitalen Sexualität orientieren, erzielen Resultate, nach denen ältere Frauen deutlich weniger Koitus ausüben und generell weniger Interesse an der Sexualität zeigen als gleichaltrige Männer. Zudem setzt das Nachlassen der Koitushäufigkeit diesen Untersuchungen zufolge bei Frauen eher ein (vgl. Ebberfeld, 1992, S.21). Normierte Alterssexualität[5] verlangt jedoch ein sexuelles Interesse mit sexueller Aktivität bis ins hohe Alter. Diejenigen Alten, die dieser Normierung nicht entsprechen, werden schnell als „trotz körperlicher Gesundheit psychisch gestört“ angesehen (Howe, 1993, S. 134).

Hierbei wird übersehen, dass die demographischen Besonderheiten weiblichen Alter(n)s einen wichtigen Grund für fehlende sexuelle Aktivität darstellen[6]. Der Männeranteil an der Gesamtpopulation wird um so geringer, je höher das Lebensalter ist. Ab dem sechzigsten Lebensjahr gibt es insgesamt mehr Frauen als Männer, so dass gar nicht allen Frauen die Möglichkeit gegeben ist, Geschlechtsverkehr auszuüben - vorausgesetzt, sie verspüren diesen Wunsch. Eine weitere Rolle spielt der traditionelle Altersunterschied in Beziehungen zwischen älteren Menschen. In der Regel ist die Frau einige Jahre jünger als ihr Partner. Zusätzlich leben Frauen im Durchschnitt etwa sieben Jahre länger. Ihre Lebenserwartung beträgt ca. 77 Jahre, die der Männer ca. 70 Jahre. (vgl. Ebberfeld, 1992, S.24; vgl. Sydow, 1995, S.62).

Bedingt durch den traditionellen Altersunterschied zwischen Frauen und Männern und die längere Lebenszeit von Frauen verwitwen sie früher als Männer. Sie brauchen viel Vertrauen, Geborgenheit und Sicherheit, um die verlorene Intimität mit einem neuen Partner aufzubauen. Daher tendieren sie dazu, den Partner nicht oder erst später zu ersetzen. Da Frauen weniger in der Lage sind, Sexualität und Partnerschaft zu trennen, wird in dieser Zeit oft ganz auf Sexualität verzichtet[7] (vgl. Ebberfeld, 1992). „Die seelische Verbundenheit zu dem verlorenen Partner, die Aussichtslosigkeit, diesen ersetzen zu können, und die Unfähigkeit, Koitus ungebunden auszuüben, veranlasst Frauen, auf Geschlechtsverkehr ganz zu verzichten“ (ebd., S 25).

„... diese Tatsache bedingt einen Anteil von Frauen im Alter, die keinen geschlechtlichen Verkehr haben, wobei die Verteilung der Gruppe von Frauen ohne Koitus dabei altersgemäß verläuft, d. h., je höher das Lebensalter, desto größer der Anteil. Da Männer in der Tendenz eher mit jüngeren (oder umgekehrt Frauen eher mit älteren) Partnern liiert sind, vergrößert sich zudem der Gesamtteil dieser Frauengruppe noch“ (ebd., S. 24).

In der Gruppe der Jungen Alten beginnt sich das Geschlechterverhältnis zu verändern: während es bei den 50-59jährigen noch ausgeglichen ist, kommen bei den 60-69jährigen bereits drei Frauen auf zwei Männer. Bei den Alten Alten und Hochbetagten gibt es dann gravierende Ungleichheiten: bei den 70-89jährigen liegt das Verhältnis bereits bei 2:1 und bei den über 90jährigen dann bei 3:1. Ein weiteres Problem ergibt sich dadurch, dass in der Gruppe der über 65jährigen 72% der Frauen Singles sind, im Gegensatz zu 25% der Männer. Durch den oben erwähnten Altersunterschied beträgt die durchschnittliche Verwitwungsdauer für Frauen 14-15 Jahre, das durchschnittliche Verwitwungsalter liegt bei 68 Jahren. Die Wiederverheiratungs-chance ist für ältere Frauen 5-6 mal kleiner als die von Männern. Das gleiche gilt auch für andere Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens (vgl. Sydow, 1995, S. 62). Das Zitat einer 70jährigen verdeutlicht die entstehende Problematik:

„Also, nach der Scheidung – Trennung, da hab‘ ich natürlich auch‘n paar Freunde gehabt, allerdings – die haben mich dann alle enttäuscht. ...Da war ich immer enttäuscht, die waren mir nicht gut genug. – (Ein) paar waren geistig sehr hochstehend – aber das war auch – da war ich immer enttäuscht! Und die netten Männer, die ich damals noch kannte, die mir damals auch gefallen haben, die waren alle fest und glücklich verheiratet. ...Ich sag‘ ja: die Besten waren gefallen! Und all‘ die anderen – die Netten waren noch verheiratet – was übrig blieb, die waren irgendwie angeschlagen und komisch – das war nix für mich. Nicht für meine Ansprüche. Meinen Ansprüchen genügte das nicht“ (vgl. ebd., S. 65).

Um die Jahrhundertwende herum war das Geschlechterverhältnis noch ausgeglichen. Frauen starben aufgrund der hohen Risiken von Schwangerschaft und Geburt wesentlich früher als heute. Die Gründe für die sich gegenwärtig vollziehende „Feminisierung“ des Alters sind vielschichtig. Die Auswirkungen der beiden Weltkriege mit langen Arbeitslosigkeits- und Armutsphasen danach sind eine Ursache für den fehlenden Männeranteil bei den Alten. Die Lebenserwartung von Männern wird zusätzlich verkürzt durch Folgen der Erwerbsarbeit sowie Alkohol- und Nikotingenuss Unfälle oder körperlichen Verschleiß (vgl. Prahl/ Schroeter, 1996).

Die durch die demographischen Gegebenheiten bedingte Problematik wird deutlich. Vielen älteren Frauen bleibt der Weg zu einer neuen Partnerschaft verschlossen, da es schlichtweg nicht genügend Männer gibt, je älter sie werden[8]. Hinzu kommt, dass Frauen zwar gelernt haben, attraktiv und reizvoll auszusehen, nicht aber, die Initiative zu ergreifen, wenn ein Mann ihr Inte-resse erregt (vgl. Rönnau, 1999). So tragen die demographischen Bedingungen dazu bei, dass älteren Frauen der Weg in eine neue Partnerschaft oft verschlossen bleibt.

3. Die Sexualität des Alter(n)s

3.1. Sexualität – Annäherung an einen Begriff

Wenn der Begriff „Sexualität“ im Zusammenhang mit älteren Menschen fällt, wird damit oft Händchenhalten und Schmusen assoziiert. Vorherrschend ist der Gedanke, die sexuelle Leistungskraft älterer Menschen lasse nach bzw. komme zum Stillstand. Auf der anderen Seite wird Sexualität in der Altenhilfe oft mit einem negativen Stigma versehen, wenn es um sexuelle Belästigung und fehlende Privatsphäre in Altenheimen geht (vgl. Feldheim, 1998, S. 9). Sexualität umfasst jedoch auch bei älteren Menschen sehr viel mehr. Um die Grundlagen ihrer Einstellungen verständlich zu machen, bedarf es wichtiger Informationen.

Im Vorfeld der speziellen Problematik der „Sexualität des Alter(n)s“ muss Sexualität erst einmal definiert und in ihrer Bedeutung als gesellschaftliches Konstrukt für die älteren Kohorten dargestellt werden. Hierzu verwende ich drei Definitionen. Die erste von Bültmann und Sielert aus der emanzipatorischen Sexualpädagogik stellt dar, was wir heute unter Sexualität verstehen. Die vier Sinnaspekte „Identität“, „Beziehung“, „Lust“ und „Fruchtbarkeit“ verdeutlichen diese Vielfalt. Mit der Definition von Freud, in der primär eine biologische Erklärung von Sexualität versucht wird, möchte ich aufzeigen, welche Einstellung zur Sexualität die Vorstellungen der Älteren geprägt hat. Zuletzt stelle ich den Ansatz von Laws dar, der die Entwicklung weiblicher Sexualität beschreibt und erklärt. Dieser Ansatz bezieht die ganze Lebensspanne mit ein - und damit auch die sexuellen Normen und die eigene sexuelle Identität. Es ist wichtig, Sexualität nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten, sondern in den individuellen und gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Mit Hilfe der drei Definitionen soll dargestellt werden, wie dieser Kontext für Menschen älterer Generationen aussehen kann.

3.1.1. Bültmann/ Sielert

„Sexualität ist Triebkraft des Lebens, eine allgemeine Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus vielfältigen Quellen gespeist wird, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen kennt und in verschiedenster Hinsicht sinnvoll ist“ (Bültmann/ Sielert, 1992, S.88).

Die Definition macht deutlich, dass Sexualität mehr einschließt als reine Körperlichkeit. Sie umfasst viele Bereiche sinnlicher Erfahrungen und Ausdrucksmöglichkeiten. Der Geschlechtsverkehr ist nur eine Möglichkeit. Es gibt noch eine Menge weiterer: Austausch von Zärtlichkeiten, Selbstbefriedigung, Berührung der Geschlechtsteile, Phantasien, Verhütung, Schwangerschaft, Umarmen, Flirten, Hautkontakte, Beschäftigung mit erotischen Inhalten, der Gedanke an einen geliebten Menschen oder aber stellvertretend die Liebe und Zärtlichkeit zu (Enkel-)Kindern[9], Gespräche mit Freunden, Medien (vgl. Sydow, 1993; Schroeter/ Prahl, 1999). Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Aufgrund dieser Vielfalt spricht man auch von „Sexualitäten“. Der Einfachheit halber werde ich mich im Weiteren auf den Begriff „Sexualität“ beschränken. Sexualität ist eine Quelle von Lebensenergie und Lebensfreude. Sie findet sich in allen Lebensbereichen und ist damit weder auf die Intimsphäre noch auf ein bestimmtes Alter beschränkt. Jeder Mensch ist ein sexuelles Wesen mit einer individuellen Form, Sexualität zu leben (vgl. Bültmann/ Sielert, 1992, S.88).

Hierbei bieten die vier Sinnaspekte der Sexualität eine Orientierungshilfe. Sie verdeutlichen die Ganzheitlichkeit der Sexualität für den Menschen. Geschlechtsspezifische Unterschiede werden deutlich. Im Verlauf der Arbeit wird immer wieder Bezug auf diese Aspekte genommen. Sie stehen in enger Verbindung zueinander, können aber in ihrer Bedeutung individuell ausgeprägt sein, abhängig von der jeweiligen Lebenssituation eines Menschen.

Der Identitätsaspekt

Nach Sielert und Bültmann dient „...Sexualität Männern und Frauen zur Selbstbestätigung, im Idealfall zur Selbstliebe als Voraussetzung, auch andere Menschen in ihrem Selbst zu achten. Die Stärke und Quellen dieser Identitätsfunktion von Sexualität variieren jedoch erheblich“ (Bültmann/ Sielert 1992, S. 89).

Ein grundlegender Bestandteil menschlicher Identität ist die Zugehörigkeit zum weiblichen oder männlichen Geschlecht. Diese Zugehörigkeit beinhaltet sowohl das Akzeptieren des eigenen Körpers als auch die Übernahme des Rollenverständnisses von Frau oder Mann. Die sexuelle Identität wird im Laufe des Lebens immer wieder durch Erfahrungen und Erlebnisse verändert (vgl. Sielert/ Keil, 1993, S. 15).

Männer fühlen sich in ihrer Identität gestört, wenn mit zunehmendem Alter ihre sexuelle Potenz nachlässt, da diese als Zeichen von Männlichkeit gesehen wird. „Das subjektive Erleben sexueller Potenz wird zu einer überaus wichtigen Quelle des Selbstbewusstseins, weil sie immer noch als Inbegriff der Männlichkeit verbreitet wird“ (Bültmann/ Sielert 1992, S. 89). Sie werden dazu erzogen, aktiv zu sein und mit anderen Männern zu konkurrieren. Die Auswirkungen drücken sich in intimen Situationen durch eine starke Gewichtung der sexuellen Potenz aus: „Potenzgehabe nach außen und Versagensangst nach innen prägen die sexuelle Identität“ (Bültmann/ Sielert, 1992, S. 89).

Frauen entwickeln häufig nach einer Hysterektomie (Entfernung der Gebärmutter) oder Mastektomie (Amputation der weiblichen Brust) das Gefühl, „keine richtige Frau mehr zu sein“ (Butler/ Lewis, 1996, S. 101). Auch das Älterwerden stört ihr Selbstkonzept, da hier ein enger Zusammenhang zur Attraktivität besteht. Während ältere Männer noch als sexuell attraktiv gelten, wird „altes“ Aussehen bei Frauen abgewertet, sie verlieren an sexueller Attraktivität (vgl. Sydow, 1993, S. 53 f.; Sydow, 1994, S. 34 ff.).

Viele älter werdende Menschen machen sich Sorgen um ihr äußeres Erscheinungsbild und befürchten in diesem Zusammenhang eine Abnahme ihrer sexuellen Attraktivität. Frauen sind für diese Ängste wesentlich anfälliger, sie beginnen zu einem früheren Zeitpunkt als Männer, über Veränderungen ihres Aussehens nachzudenken und diese zu registrieren (vgl. ebd.).

Das Aussehen hat für Frauen jeder Altersgruppe eine weitaus größere Bedeutung als für Männer. Bei beiden Geschlechtern existiert zwar ein Zusammenhang zwischen physischer Attraktivität und Selbstwertgefühl, bei Frauen ist dieser jedoch stärker ausgeprägt (vgl. ebd.).

Beziehungsaspekt

Der Beziehungsaspekt der Sexualität hat eine kommunikative Funktion. In einer intimen Beziehung kann der Mensch Vertrauen entwickeln, Wärme und Geborgenheit geben und empfangen. Die „Ich-Du-Relation“ steht hier im Mittelpunkt. Die Bedeutung wird schon bei Kindern deutlich. Eine gefestigte und verlässliche Beziehung in den ersten Lebensjahren ist wichtig zur Entfaltung der sexuellen Identität (vgl. Sielert/ Keil, 1993, S. 15; vgl. Sydow 1991, S. 38). Tümmers sieht Sexualität „...als eine Hauptmotivation der Kontaktaufnahme zum anderen Menschen, insbesondere dem des anderen Geschlechts...“ (Tümmers, 1976, S. 42). Sexualität wird hier als eine grundlegende Form von Kommunikation und Kontakt zwischen Menschen gesehen.

Wiederum gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. Männer können Beziehung und Sexualität trennen. Es ist Teil ihrer Sozialisation, „sexueller Lust einen Eigenwert zuzusprechen und das Anarchische, die Unruhe der Freiheit zuzulassen“ (Bültmann/ Sielert, 1992, S. 92). Teil weiblicher Sozialisation ist es hingegen, „sich emotional auf einen Menschen einzulassen, Nähe nicht als etwas Beängstigendes, Erdrückendes zu erleben und in einer Beziehung das Klima der Kontinuität, Geborgenheit und Sicherheit zu schaffen“ (ebd., S. 92).

Bei älteren Menschen kann es vorkommen, dass dieser Aspekt im Laufe der Beziehung zuungunsten des Lustaspekts in den Vordergrund rückt. Auf der anderen Seite entstehen durch die Wahlbiographie – die Möglichkeit, die eigene Biographie selbst zu bestimmen – Unsicherheiten in den Beziehungen älterer Menschen. Es kommt zu einer erhöhten Trennungsbereitschaft aufgrund einer „Steigerung der Ansprüche auf physische Bedürfnisbefriedigung“ (Rosenmayr, 1996, S. 56 f.).

Lustaspekt

Sexuelle Lust ist eine Lebensenergie, deren Bedeutung von der jeweiligen Lebenssituation des Menschen abhängig ist. Sie „wird heute in der ethischen Diskussion weitgehend als lebenswert, als wichtige Lebensäußerung gedeutet, wenn auch – je nach weltanschaulicher Grundorientierung – an unterschiedliche soziale Bedingungen geknüpft“ (Sielert/ Keil, 1993, S. 15).

Lust kann durch jede Art von Sexualität erfahren werden, von zärtlicher Berührung und verbaler Liebkosung bis hin zum Geschlechtsverkehr. Freuds drei Abhandlungen zur Sexualtheorie hatten lange zu dem heute widerlegten Irrtum geführt, nur der vaginale Orgasmus sei ein wahrer Orgasmus.

„Orgasmen können weich sein oder hart, zärtlich oder aggressiv, können durch klitorale, penile, vaginale, orale, anale oder phantasiegesteuerte Stimulation ausgelöst werden. Das bedeutet nicht, daß es den einen, wahren Orgasmus und andere ‚unwahre‘ Orgasmen gibt“ (Bültmann/ Sielert, 1992, S. 90).

In den einzelnen Lebensphasen ist der Lustaspekt verschieden stark ausgeprägt. Heutzutage ist es auch älteren Menschen bis ins hohe Alter möglich, ihre sexuelle Lust zu leben, nicht zuletzt dank Viagra. Eine restriktive Sexualnorm oder eine lustfeindliche Erziehung können jedoch verhindern, dass Lust als befriedigend empfunden wird. Davon sind die Alten Alten in besonderem Maße betroffen. Sie sind mit einer Sexualmoral aufgewachsen, die Sexualität als eine Angelegenheit betrachtete, „die nur in der Liebe ihre wahre Erfüllung finden konnte, alles andere galt als schmutzig. Liebe veredelte das ‚tierische Geschehen‘, Verlobung adelte die Sexualität, Ehe setzte ihr die Krone auf“ (Kolle, 1997, S. 13).

Man kann allerdings auch heute noch bei Jüngeren das Vorurteil antreffen, dass Sexualität den Älteren nicht mehr zustehe, geradezu peinlich und unwürdig sei (vgl. Sydow, 1994, S. 38 ff.; vgl. Kluge, 1992, S. 56).

Lebensschöpferischer Aspekt

Dieser Aspekt wird mit der Fähigkeit verbunden, neues Leben zu zeugen. Frauen „bekommen“ Kinder, Männer „haben“ sie. In der Psychoanalyse wurde die Frau auf die Rolle der Mutter festgelegt. Ziel waren Weiblichkeit und die Aufgabe aller maskulinen Wünsche. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, dass es noch heute für Frauen schwierig sein kann, Karriere und Mutterschaft miteinander zu verbinden. „Die Mutterschaft wird zu einer gesellschaftlichen Entscheidung, die die Frau verschwinden lässt, während gleichzeitig mit ihrem Kind die Mutter geboren wird“ (Olivier, 1988, S. 216. Zit. n.: Bültmann/ Sielert, 1992, S. 92). Sexualität wird mit der Gebär- und Zeugungsfähigkeit von Kindern verbunden. Sie ist aber ebenso Ausdruck von Lebenslust und kann eine Kraftquelle sein, aus der Lebensmut und Energie hervorgehen. Im Verliebtsein fühlt der Mensch intensiver, kann diese Le-bensenergie spüren.

„Weitgehend angstfrei und als befriedigend erlebte Sexualität kann jedes Gefühl verstärken, erfahrene Zärtlichkeit ausdehnen, auf andere Menschen, auf den allgemeinen Umgang mit mir selbst und meiner Umgebung überspringen lassen“ (Sielert/ Keil 1993, S. 15).

Mit der Erweiterung bleibt der lebensschöpferische Sinnaspekt Teil der Sexualität bis ins hohe Alter. Er verliert nach Verlust der Gebärfähigkeit nicht an Bedeutung, sondern kann bis ins hohe Alter eine Quelle von Lebensmut und Energie bleiben und sich damit befruchtend auf andere Lebensbereiche auswirken. Ältere Menschen können Lust verspüren, sich mit dieser Energie noch etwas Neues in ihr Leben zu holen und ihre Gestaltungskraft im Lebensabschnitt des Alterns zu erfahren.

3.1.2. Freud

Freud führt Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem neuen Verständnis von Sexualität. Ausgehend von der offenen sexuellen Repression des 19. Jahrhunderts entwickelt er ein Modell der psychosexuellen Entwicklung. Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf sein Prinzip der Psychoanalyse eingehen, zumal einige Punkte bis heute verändert oder sogar widerlegt wurden. Die für das Verständnis insbesondere weiblicher Sexualität relevanten Aspekte werden dargestellt, da sie das Bild von Sexualität dieses Jahrhunderts prägten und noch heute das Verständnis älterer Generationen beeinflussen.

Freud bezeichnet mit Sexualität eine Art allgemeinen Lebens- und Schaffenstrieb[10]. Sexualität ist für ihn die Motivation für fast alle Handlungen, Gedanken und Gefühle, einschließlich auch nicht sexuell wirkender. Auf diese Weise wird jeder Handlung eine sexuelle Motivation zugewiesen. Freud vertritt eine Auffassung, die weit über das bis dahin gültige Verständnis von Sexualität hinausgeht. Die rein genitale Fortpflanzungsfunktion wird um den Lustaspekt erweitert, der sich auf orale, anale und taktile Gefühle bezieht (vgl. Sydow, 1991, S. 13 f.). Freud unterscheidet hierbei genau:

„Es ist notwendig, zwischen den Begriffen ‚sexuell‘ und ‚genital‘ scharf zu unterscheiden. Der erstere ist der weitere Begriff und umfasst viele Tätigkeiten, die mit den Genitalien nichts zu tun haben“ (Freud, zit. n. Brecher, 1971, S. 91. In: Sydow, 1993, S. 25).

Sexualität beginnt nach Freud bereits in frühester Kindheit. Diese galt bislang „als eine Zeit der Unschuld und des bedeutungslosen Spiels, die in keiner Beziehung zum Ernst des Erwachsenenlebens stand“ (ebd., S. 22), eine Zeit, der keine Bedeutung für die weitere Persönlichkeitsentwicklung zugeschrieben wurde[11].

„Es ist ein Stück der populären Meinung über den Geschlechtstrieb, daß er der Kindheit fehle und erst in der als Pubertät bezeichneten Lebensperiode erwache. Allein dies ist nicht nur ein einfacher, sondern sogar ein folgenschwerer Irrtum, da er hauptsächlich unsere gegenwärtige Unkenntnis der grundlegenden Verhältnisse des Sexuallebens verschuldet. Ein gründliches Studium der Sexualäußerungen in der Kindheit würde uns wahrscheinlich die wesentlichen Züge des Geschlechtstriebes aufdecken, seine Entwicklung verraten und seine Zusammensetzung aus verschiedenen Quellen zeigen“ (Freud, 1991, S.75).

In Freuds Sichtweise der Kindheit werden schon Kleinstkinder als sexuelle Wesen angesehen, die bei ihrer Geburt „polymorph pervers“ veranlagt sind. Damit ist gemeint, dass sie sich nach allem richten, was ihrer Lust Befriedigung verschafft: orale, anale oder taktile Reize. Diese verschiedenen Möglichkeiten sinnlicher Lust werden von Freud „Partialtriebe“ genannt, die sich dann im Laufe der Entwicklung dem Trieb der genitalen Sexualität unterordnen (vgl. Schmidt, 1993, S. 105). Später dienen diese untergeordneten Partialtriebe dann dem „...eigentlichen Ziel, dem Geschlechtsverkehr, als Anreiz und Vorbereitung, sie machen die Vorlust aus – Haut und Wärme zu spüren, riechen, sehen, zeigen, küssen usw. -, die zur Endlust des Geschlechtsverkehrs führt“ (ebd. S.105 f.).

Aus dieser Einbeziehung der Kindheit in die sexuelle Entwicklung ergibt sich eine neue Sichtweise weiblicher Sexualität. Laut Freud fühlen sich Mädchen kastriert, wenn sie entdecken, dass sie keinen Penis besitzen und entwickeln Minderwertigkeitskomplexe, die ihre gesamte sexuelle Entwicklung durchziehen. Der Kinderwunsch von Mädchen und Frauen wird mit dem Versuch einer Kompensation dieser Gefühle erklärt, vom Wunsch nach einem Penis zum Wunsch nach einem Kind (vgl. Sydow, 1993, S. 23).

Eine sich bis in die neunziger Jahre auswirkende Schlussfolgerung Freuds ist die Theorie vom „vaginalen“ und „klitoralen“ Orgasmus. Demnach bedienten sich kleine Mädchen der Stimulation ihrer Klitoris zum Erreichen der Lustgefühle eines Orgasmus. Später jedoch ist es nach Freud erforderlich, von dieser Technik Abstand zu nehmen, um während des Geschlechtsverkehrs zum reifen, d. h., vaginalen Orgasmus zu gelangen (vgl. ebd., S. 24):

„Ist die Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris auf den Scheideneingang gelungen, so hat damit das Weib seine für die spätere Sexualbetätigung leitende Zone gewechselt, während der Mann die seinige von der Kindheit an beibehalten hat“ (Freud, 1991, S. 121).

Freud vergleicht den Vorgang der Klitorisreizung beim Geschlechtsverkehr mit einem Span Kienholz, welches dazu benutzt wird, das härtere Brennholz in Brand zu setzen (vgl. Freud, 1991, S. 121). Frauen, denen diese Übertragung nicht gelingt, werden als psychisch unreif und „vaginal frigide“ bezeichnet. Da die sexuelle Entwicklung für Freud bereits mit 20 Jahren abgeschlossen ist, wäre es dann nicht möglich, diesen Transfer in späteren Lebensjahren nachzuholen.

Mittlerweile wurde nachgewiesen, dass die Klitoris entgegen Freuds Auffassung kein verkümmertes männliches Organ ist und physiologisch zur sexuellen Befriedigung dazugehört. Masters und Johnson haben in ihren Untersuchungen festgestellt, dass es keine Unterscheidung zwischen vaginalem und klitoralem Orgasmus gibt. Jeder Orgasmus wird durch die Stimulation der Klitoris ausgelöst, kann sich aber psychisch anders anfühlen. Freuds Zentrierung auf den „reifen“ Geschlechtsverkehr verhinderte eine ausreichende Stimulation der Klitoris, so dass Generationen von Frauen glaubten, frigide zu sein, da sie nicht beim Geschlechtsverkehr zum Höhepunkt kamen. Auch gibt es keinen generell existierenden anatomischen Penisneid bei Frauen, wohl aber einen weiblichen Neid auf die männliche Rolle. Denn nach Sydow merken Mädchen schon im Kindesalter, dass Jungen oftmals mehr Rechte und Möglichkeiten haben (vgl. Sydow, 1993, S. 27).

3.1.3. Laws

Im sozialpsychologischen Ansatz zur Konzeptualisierung menschlicher Sexualität von Judith Long Laws geht es speziell um die Entwicklung weiblicher Sexualität. Er ist für diese Arbeit von besonderer Bedeutung, da die gesamte weibliche Lebensspanne mit einbezogen wird. Es werden sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Faktoren, die zur persönlichen Entwicklung von Sexualität beitragen, berücksichtigt. Dabei wird deutlich, dass sich diese Entwicklung interaktiv zwischen Individuum und Gesellschaft vollzieht und nicht zu einem willkürlichen Zeitpunkt abgeschlossen ist. Somit ist hier eine Grundlage für die biographische Arbeit mit Frauen gegeben.

Sexualität wird von Laws enger definiert und stellt den Lustaspekt in den Mittelpunkt: „Sexualität – hier definiert als die Fähigkeit des Individuums, durch intimen körperlichen Kontakt Lust (pleasure) zu erleben – ist eine vitale menschliche Eigenheit, die in jeder Lebensphase des Lebenszyklus manifest ist“ (Laws, 1980, S. 208. Zit. n. Sydow, 1993, S. 32).

Nach dieser Definition ist Sexualität Teil jedes Lebensabschnitts aller Menschen. Die Frage, ab wann ein Körperkontakt als „intim“ zu bezeichnen ist, bleibt allerdings offen. Aktivitäten, die keine sexuelle Lust bereiten - wie Kindesmissbrauch und Vergewaltigung - werden nicht mit einbezogen (vgl. Sydow, 1991, S.20). Auch fehlen diejenigen sexuellen Ausdrucksmöglichkeiten und Erfahrungen, die ohne direkten körperlichen Kontakt erfahrbar sind, zum Beispiel erotische Träume. Dennoch ist dieser Ansatz von besonderer Bedeutung, da deutlich wird, wie wichtig (sexuelle) Werte und Normen einer Gesellschaft für die Entwicklung weiblicher Sexualität sind. Das sechsstufige Entwicklungsmodell der weiblichen sexuellen Identität, auf das ich nicht näher eingehen möchte, kombiniert biologische und soziale Ereignisse miteinander, „wobei nicht die Biologie an sich entscheidend ist, sondern die soziale und gesellschaftliche Bedeutung, die dem biologischen Ereignis zugeschrieben wird“ (Sydow, 1993, S. 32).

Die beiden Elemente des life-span orientierten Ansatzes sind „sexual scripts“ und „sexual identity“. Als „sexual scripts“ bezeichnet Laws ein „...Repertoire von Handlungen und Zuständen (...), die von einer sozialen Gruppe anerkannt werden, gemeinsam mit den Regeln, Erwartungen und Sanktionen, die diese Handlungen und Zustände bestimmen (Laws/ Schwartz, 1977, S. 1. Zit. n. Sydow, 1991, S. 19).

Zur Verdeutlichung möchte ich anführen, dass im viktorianischen Zeitalter angenommen wurde, dass Frauen weniger sexuelle Lust als Männer hätten. Obwohl diese Aussage nicht den Tatsachen entspricht und von Männern geprägt wurde, haben sich Frauen in ihrer Sexualität dieser über eine lange Zeit hinweg angepasst. Sexual scripts sind also soziale Konstruktionen, die zwar von Kultur und Gesellschaft abhängig sind, aber immer als „naturbedingt“ gelten (vgl. Sydow, 1991, S. 18 ff.)[12]. Sie geben an, „was Sexualität ist, und wie, wann, wo, mit wem usw. sie stattzufinden bzw. nicht stattzufinden hat“ (ebd., S. 18).

Während die Rollenvorstellungen heute einem Wandel unterliegen, haben die traditionellen Rollenvorschriften für ältere Kohorten meistens noch ihre Gültigkeit. Sexualität wird mit Ehe verknüpft, wobei die Wünsche des Mannes dominieren, während Frauen sich diesen unterordnen. Hinzu kommt der „Doppel-Standard“, der sexuelle Aktivitäten lediglich für Frauen auf die Ehe beschränkt, Männern hingegen vor-, außer- und nacheheliche sexuelle Beziehungen ermöglicht (vgl. ebd., S. 33). Nach Laws hat diese Norm „weitreichende negative Folgen für den Selbstwert und die sexuelle Entwicklung von Frauen..., da Frauen darin die Rolle des ‚policeman of the sexual interaction‘ zufällt und sie gezwungen sind, eigene sexuelle Wünsche zu unterdrücken“ (ebd., S. 33). Die Passivität, zu der Frauen erzogen wurden, um zu einem „attraktiven Objekt“ für Männer zu werden, erlaubt es ihnen nicht, auf einen Mann zuzugehen. „She must wait to be noticed, to be approached, to be asked, to be chosen“ (Laws, 1979, S. 181. Zit. n. Sydow, 1991, S. 22).

Dies ist in Alten- und Pflegeheimen besonders problematisch, da aufgrund der demographischen Gegebenheiten im höheren Lebensalter weniger Männer als Frauen leben. Zusätzlich bevorzugen diese Frauen aufgrund der Rollenvorstellung oft Partner, die ein paar Jahre älter sind als sie selbst (Sydow, 1993, S. 117), womit sich die Möglichkeiten noch einmal dezimieren. Wenn es dann einen adäquaten Partner geben könnte, verbietet es ihnen ihr Gefühl für Anstand und Moral, ihn direkt anzusprechen.

„Sexual identity“ bezeichnet die individuellen Erfahrungen und ist damit das Gegenteil der gesellschaftlich vorgegebenen Skripten. Definiert wird sie als „...individuelles Bewusstsein eigener Weiblichkeit und der Attribute, die diese Weiblichkeit ausmachen. Sexuelle Identität umfasst Wissen über den eigenen Körper und die Körperfunktionen, Vorstellungen von Weiblichkeit, eigene sexuelle Präferenzen und die sexuelle Geschichte. ...Sexuelle Identität...ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich aufgrund von Erfahrungen“ (Laws/ Schwartz, 1977, S. 21. Zit. n. Sydow, 1991, S. 19).

Hierzu gehört als eine Komponente die „sexuelle Selbstbestimmung“, die es ermöglicht, das eigene Sexualleben zu kontrollieren. Nach Laws wird die Selbstbestimmung durch Sexualerziehung und zunehmende sexuelle Erfahrenheit bestimmt (vgl. ebd., S. 23). Sydow sieht die sexuelle Selbstbestimmung als „Grad der Übereinstimmung zwischen Wunsch und tatsächlicher sexueller Aktivität – sowohl hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität sexueller Aktivität“ (Sydow, 1993, S. 49). Hierbei geht es nicht um messbare Faktoren wie z.B. Koitusfrequenz als Zeichen von sexueller Aktivität, sondern um das bewusste Erleben oder Vermeiden von sexuellen Handlungen. Frauen, die nur ihrem Partner zuliebe in den sexuellen Akt einwilligen, haben zwar somit vielleicht eine höhere Koitusfrequenz als Frauen, die dieses vermeiden, ihre sexuelle Selbstbestimmung ist jedoch geringer. Der Verzicht auf Sexualität kann bei vielen älteren Frauen durchaus eine bewusste Selbstbestimmung sein und muss nicht notwendigerweise mit demographischen Gegebenheiten begründet werden[13]. Nach Ebberfeld ist sexuelle Abstinenz im Alter unter Umständen aber auch das Resultat nie entwickelter eigener sexueller Entfaltung (vgl. Ebberfeld, 1992, S. 25 f.), d. h. sexueller Identität.

Ein weiterer Aspekt der sexuellen Identität ist „sexual alienation“, die sexuelle Entfremdung bzw. der sexuelle Rückzug. Hier wird auf die Menschen eingegangen, die unangenehme und belastende Erfahrungen mit Sexualität gemacht haben und darauf mit oft mit sexuellem Rückzug reagieren. Zu diesen Erfahrungen gehören z. B. unerwünschte Schwangerschaften, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung oder sexuelle Enttäuschungen (vgl. Sydow, 1993, S. 35).

Für die Arbeit mit älteren Frauen ist dieser Aspekt von besonderer Bedeutung. Erst mit der Antibabypille war es Frauen möglich, selbstbestimmt zu verhüten, so dass eine weitgehend angstfreie Sexualität möglich wurde. Schwangerschaftsabbrüche waren illegal und gefährlich, Schwangerschaften außerhalb der Ehe aber gesellschaftlich unmöglich. Nach einer Studie von Laws sind die negativen psychologischen Folgen für eine Frau bei einer unerwünschten ausgetragenen Schwangerschaft größer als nach einem legalen Schwangerschaftsabbruch (vgl. ebd., S. 98).

Sydow hat der sexuellen Identität eine weitere Dimension hinzugefügt, die „sexuelle Selbstkenntnis“. Sie beinhaltet das Wissen, das eine Person über ihren eigenen Körper und dessen sexuelle Reaktionen hat. Insbesondere ältere Menschen wissen aufgrund mangelhafter Aufklärung oft nur sehr wenig über sich selbst und ihre/n PartnerIn. Dies betrifft nicht nur die körperlichen Veränderungen des Alterns, sondern grundlegende anatomische Kenntnisse und physiologische Reaktionen[14]. So fehlt einigen Frauen das Wissen, wie sie zum Orgasmus kommen können oder was mit „sexuellem Höhepunkt“ überhaupt gemeint ist (vgl. Sydow, 1991, S. 24 f). Differenzen zwischen den eigenen physiologischen Reaktionen und denen, die z. B. von der Filmindustrie vermittelt werden, können diese Unsicherheiten noch verstärken.

Der Ansatz von Laws erscheint mir am geeignetsten, um mich in dieser Arbeit mit der sexuellen Biographie älterer Frauen auseinanderzusetzen.

[...]


[1] Siehe „Weibliche Alter(n)ssexualität“, Kap. 2.4.

[2] Siehe „Physiologische Veränderungen“, Kap. 2.3.

[3] Männer kommen mit der Situation der Verwitwung schlechter zurecht als Frauen. Sie fühlen sich stärker vereinsamt und neigen eher zu suizidalen Handlungen (vgl. Klingenberger, 1992, S. 125).

[4] Ich verwende in dieser Arbeit den Begriff „Selbstbefriedigung“, da sowohl „Onanie“ als auch „Masturbation“ mit einem negativen Stigma belegt sind.

[5] Siehe „Bedeutungswandel von Sexualität“, Kap. 2.2.; „Weibliche Alter(n)ssexualität“, Kap. 2.2.4.

[6] Ein weiteres Problem ist hierbei die männliche Sichtweise, unter der geforscht wird. Koitus, Selbstbefriedigung und Orgasmus sind nicht die Maßstäbe weiblicher Sexualität. Siehe dazu „Weibliche Alter(n)ssexualität“, Kap. 2.4.

[7] Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, daß die Gleichung „Sexualität = Geschlechtsverkehr“für ältere Generationen häufig noch Gültigkeit besitzt, so daß die Beendigung des Geschlechtsverkehrs häufig das Ende der Sexualität bedeutet.

[8] Alleinstehenden Frauen wird oft geraten, eine neue Beziehung einzugehen. Dieser Ratschlag ignoriert die demographischen Gegebenheiten (vgl. Ebberfeld, 1992).

[9] Unter dieser Art von Zärtlichkeit ist nicht Pädophilie zu verstehen, sondern Zärtlichkeitsaustausch (vgl. v. Sydow, 1993, S. 132.

[10] Dieser kann mit dem lebensschöpferischen Aspekt aus der Definition von Bültmann/ Sielert verglichen werden, siehe Kap. 2.1.1.

[11] Daraus läßt sich ableiten, daß Kindesmissbrauch oder die zeitweilig praktizierte Weggabe von Kindern an Ammen im 17. und 18. Jahrhundert für die damaligen Erwachsenen nicht in Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung der Kinder zu stehen schien.

[12] Siehe „Über die Selbstbefriedigung“, Kap. 2.2.1

[13] Siehe „Weibliche Alter(n)ssexualität“, Kap. 2.4.

[14] Unwissenheit über physiologische Veränderungen behindert eine positive Einstellung zu Sexualität im Alter, Kap. 2.3.

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
Sexuelle Biografien älterer Frauen als Grundlage der Sexualgeragogik
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Pädagogische Hochschule)
Note
1,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
96
Katalognummer
V354704
ISBN (eBook)
9783668402041
ISBN (Buch)
9783668402058
Dateigröße
848 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sexualgeragogik, Biografiearbeit, Sexualwissenschaft, Alter, Sexualität
Arbeit zitieren
Anja Drews (Autor:in), 1999, Sexuelle Biografien älterer Frauen als Grundlage der Sexualgeragogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354704

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