Kafka als Parodist der Trivialliteratur

Eine Untersuchung anhand von Kafkas "Die Verwandlung"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmungen
2.1 Parodie
2.2 Trivialliteratur
2.3 Der Familienroman

3 Kafka als produktiver Leser von Trivialliteratur

4 Analyse: Das Triviale in Die Verwandlung
4.1 Ästhetische Informationsträger
4.2 Ästhetische Information
4.3 Ästhetischer Informant
4.4 Synthese

5 Diskursanalyse: Die Verwandlung als Parodie der Trivialliteratur

6 Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Kafka als Parodist der Trivialliteratur? Diese Annahme steht in starkem Widerspruch zur Kafkaforschung, die den Autor im Zusammenhang von Höhenkammliteratur sieht. Dementsprechend ziehen Engel und Auerochs in ihrer Monographie „Kafka Handbuch. Leben - Werk - Wirkung" Dostojewskis Der Doppelgänger, Dickens‘ David Copperfield, Gogols Die Nase und Jensens Das Ungeziefer als mögliche Quellen für Kafkas Erzählung Die Verwandlung in Betracht.[1] In Manfred Engels und Dieter Lampings gemeinsam herausgegebenen Sammelband „Kafka und die Weltliteratur" wird Kafka als Subjekt von Lektüren - in der Rolle des produktiven Lesers - und als Objekt von Lektüren untersucht. Zum Kanon der Weltliteratur zählen Engel und Lamping Texte, die mit einander in Dialog stehen, also in Goethes Verständnis von Weltliteratur dynamisch sind. Die besprochenen Texte und Autoren, die im Sammelband in die Nähe Kafkas gerückt werden, offenbaren dabei ein weiteres konstituierendes Merkmal von Weltliteratur: Qualität. Untersucht wird der Einfluss von Autoren wie Goethe, Kleist und Kiergegaard auf Kafkas Werk. Folglich ist Engels und Auerochs Konzept von Weltliteratur vor allem eines: exklusiv. Nicht die Gesamtheit des Gedruckten betrachten sie als Literatur von Welt, sondern allein Hochliteratur, die eine Kommunikation mit Trivialliteratur ausschließt. In der vorliegenden Arbeit wird der Einfluss von Trivialliteratur und deren Parodie in Die Verwandlung untersucht. Die zentrale Frage lautet: Inwiefern parodiert Kafka in Die Verwandlung Trivialliteratur der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts und der Jahrhundertwende? Zunächst gilt es die in der Fachliteratur und Lexika verwendeten Begriffe Parodie und Trivialliteratur zu sichten um anschließend anhand der verschiedenen Definitionen jeweils eine Explikation für den analytischen Teil der Arbeit zu erstellen. Daraufhin wird geklärt, inwiefern Kafka als produktiver Leser von Trivialliteratur überhaupt in Frage kommt. In der Textanalyse von Die Verwandlung werden der sprachliche Zeichenaggregat, die Ebene der erzählten Geschichte und die Kommunikation bürgerlicher Ideologien auf Merkmale trivialer Literatur hin untersucht. Zuletzt wird in der Diskursanalyse geklärt, inwiefern Die Verwandlung als Parodie des Trivialen zu verstehen ist. Als Primärtext wird die Historisch-Kritische Ausgabe Die Verwandlung des Oxforder Quartheft 17 herangezogen, welche, von Roland Reuß und Peter Staengle herausgegeben, 2003 im Stroemfeld Verlag erschienen ist. Der editierte Text folgt der Ausgabe Die Verwandlung (Band 22/23) aus der Reihe „Der Jüngste Tag", erschienen im „Kurt-Wolff-Verlag" Leipzig (Dezember 1915) und wird in Zitaten mit dem Sigle Di abgekürzt.

2 Begriffsbestimmungen

In diesem Kapitel werden die für die vorliegende Arbeit zentralen Begriffe „Parodie" und „Trivialliteratur" nach Begriffsbestimmungen gesucht, welche sich für die Analyse von Die Verwandlung zielführend anwenden lassen. Statt feststellender oder festsetzender Definitionen wird nach Explikationen gesucht. Dabei werden zuerst die gegebenen Verwendungsweisen der Begriffe in der Sekundärliteratur und Lexikonartikeln festgestellt, um dann festsetzend eine neue und präzisere Verwendungsweise anzuführen, welche für die analytische Kriterien der Arbeit in Frage kommen.[2]

2.1 Parodie

Die Definitionen des Begriffes „Parodie" sind in der Sekundärliteratur weitestgehend übereinstimmend und unstrittig, weshalb es ausreicht, zwei Definitionen ergänzend gegenüberzustellen. Lamping bezeichnet die Parodie als „eine Form kritisch-komischer Textverarbeitung."[3] Gegenstand der Parodie ist, was dem subjektiven ästhetischen Geschmack des Parodisten zuwiderläuft: Sprache und Stil eines Autors oder eines Genres, wie auch das Rezeptionsverhalten des Lesers. Ziel der Parodie ist eine komische Wirkung, die den Leser zum Lachen reizt. Das komische Reizmoment beruht auf dem intertextuellen Verfahren des Parodisten, der die konstitutive Textnorm des Prätextes unter- oder überfüllt. Zudem beabsichtigt die Parodie, eine Diskrepanz „zwischen dem Gegenstand und der Art der Behandlung, zwischen Form und Inhalt, zwischen Text und textsortenspezifischer Erwartung."[4] Lamping unterscheidet zudem „zwischen der parodistischen Schreibweise[5], wie sie sich in Passagen innerhalb meist größerer literarischer Texte findet, und der Parodie als eigener Gattung, in der die parodistische Schreibweise dominant ist."[6] Das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie definiert die Parodie „als Nachahmung, die einen Originaltext imitiert und dabei das Werk, den Autor oder dessen Meinung verspottet."[7] Zudem bezeichnet das Metzler Lexikon die Parodie als „eine Form der Intertextualität, eine zwar andersartige, aber der Aussage des Original- bzw. Prätextes nicht unbedingt diametral entgegengesetzte und auch nicht unbedingt spöttische Abwandlung."[8] Laut dem Metzler Lexikon sieht die traditionelle Definition die Parodie eher als Gattung, während für die Vertreter des intertextuellen Ansatzes die Parodie eine Schreibweise darstellt.

Aus der Gegenüberstellung der beiden Definitionen geht hervor, dass Lamping und das Metzler Lexikon der Parodie dieselbe Funktion, Ziel und dieselben Gegenstände zuschreiben. Jedoch vernachlässigen beide Definitionen eine aufschlussreiche Beschreibung darüber, inwiefern die Parodie als intertextuelles Verfahren funktioniert. Da das Wissen um diese Funktion für das Verständnis von Kafka als produktiver Leser notwendig ist, wird dies im Folgenden kurz umrissen.

Julia Kristeva liefert folgende Definition der Intertextualität: „[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes."[9] Diese Definition setzt also voraus, dass ein Autor zuerst Texte gelesen (absorbiert) haben muss, bevor er schreibt (den gelesenen Text in einen anderen Text transformiert). Demzufolge ist Schreiben ein reproduktives Lesen, welches Kristeva als „Schreiben-Lesen"[10] bezeichnet.

Roland Barthes definiert einen Text als „ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur."[11] Den Autor erklärt Barthes für tot und setzt an dessen Stelle den Schreiber, dessen einzige Macht darin besteht, „die Schriften zu vermischen und miteinander zu konfrontieren."[12] Eine Folge der Intertextualität ist die Geburt des Lesers:

Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, und dieser Ort ist nicht der Autor (wie man bislang gesagt hat), sondern der Leser. Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges Wort verloren ginge.[13]

Zwar verwendet Barthes nicht den von Kristeva geprägten Ausdruck des „Schreiben­Lesens", jedoch sieht auch er in dem Verfasser von Texten einen Leser, der Zitate absorbiert und diese miteinander vermischt. Dabei spricht Barthes dem Schreiber die Originalität des von ihm verfassten Textes ab. Für das Parodieren von Texten muss der Autor - an diesem Begriff wird in der Arbeit festgehalten - diejenigen Texte, welche er nachahmt, zu aller erst gelesen haben. Auch der Rezipient von Parodien muss die parodierten Vorlagen gelesen haben, damit bei ihm die kritisch-komische Wirkung überhaupt zum Tragen kommt.

Nachdem die gegebenen Verwendungsweisen des Begriffes Parodie festgestellt wurden, erfolgt nun - festsetzend - eine Explikation, die diejenigen Merkmale einer Parodie umfasst, anhand derer Die Verwandlung im analytischen Teil untersucht wird.

Die Verwandlung wird in dieser Arbeit nicht als parodistische Gattung betrachtet, da die parodistische Schreibweise nicht dominant ist. Diese These stützt die Sekundärliteratur, welche Die Verwandlung bisher nicht der Gattung Parodie zuordnet. Stattdessen werden im analytischen Teil einzelne Passagen auf ihre parodistische Schreibweise hin untersucht. Einen Versuch, Die Verwandlung einer distinktiven Textgruppe zu zuordnen, wird in der vorliegenden Arbeit nicht unternommen, da der Fokus auf den verwendeten Schreibweisen des Prosawerkes liegt. Die Verwandlung wird eingehend auf intertextuelle Verfahren hin untersucht. Es wird zu prüfen sein, wie Kafka als Rezipient von Unterhaltungsliteratur deren Schreibweise nachahmt. Das zeitgenössische Rezeptionsverhalten der Leser kann mangels Quellen nicht rekonstruiert werden. Insofern kann eine komische Wirkung der parodistischen Schreibweise nicht verifiziert werden. Jedoch muss von einer Wirkung beim Rezipienten ausgegangen werden, wenn dieser in einzelnen Passagen die etablierte Schreibweise populärer Unterhaltungsliteratur des ausgehenden 19. beziehungsweise frühen 20. Jahrhunderts wiedererkennt. Ebenso problematisch ist der Nachweis, dass Kafka eine Schreibweise nachahmt, welche seinem subjektiv-ästhetischen Geschmack zuwiderläuft.[14] Die Autorenabsicht, eine komische Wirkung in der Anwendung trivialliterarischer Schreibweisen erzeugen zu wollen, entzieht sich qua fehlender Quellen ebenso eines eindeutigen Nachweises. Der Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, einer Kombination aus trivialliterarischen und tragischen Schreibweisen, die teils in Einklang, teils in starkem Kontrast zum Inhalt stehen, wird in der Diskursanalyse hingegen nachgegangen, denn gerade darin kommt das Parodistische zum Tragen.

Schließlich lautet die Explikation des in der Arbeit verwendeten Terminus Parodie: Bei der Parodie handelt es sich um eine Schreibweise, welchem dem Autor aus ihm bekannten Prätexten vertraut ist und in einzelnen Textpassagen nachahmt. Ferner handelt es sich bei der Parodie um ein intertextuelles Verfahren, bei der die konstitutive Textnorm des Prätextes unter- oder überfüllt wird. Die reizvolle Wirkung beim Rezipienten entsteht beim Wiedererkennen populärer Schreibweisen, welche im kulturellen Gedächtnis verankert sind.

2.2 Trivialliteratur

Die Sichtung von Forschungsliteratur, die sich um eine Definition von „TriviaNiteratur“ bemüht, zeigt, dass sie sich darin erschöpft, „gemeinsame Kennzeichen [Hervorhebung im Original] ausfindig zu machen und sie, das Ergebnis generalisierend, zum ästhetischen Wert beliebiger literarischer Texte in eine gesetzmäßige Beziehung zu bringen."[15] Ein weiteres grundlegendes Problem, welches in der Hochphase der Trivialliteraturforschung in den 1960er und 1970er Jahren zu beobachten ist, liegt in der Bildung von Tautologien in der Form von: Ein Text ist trivial, weil er einfach, gewöhnlich oder schlecht ist. Insbesondere, wenn offen bleibt, was einen Text oder eine Schreibweise als „einfach, gewöhnlich oder schlecht" auszeichnet. Von derartigen subjektiven Wertungen im Zusammenhang von Trivialliteratur wird in der vorliegenden Arbeit gänzlich abgesehen, da diese keinen wissenschaftlichen Kriterien entsprechen. Auch von der undifferenzierten Tautologie, ein Bestseller sei trivial, weil er ein Bestseller sei, wird in dieser Arbeit Abstand genommen. Zu beobachten ist diese Tautologie unter anderem bei Peter Nusser, der den Terminus Trivialliteratur in engem Bezug zu ihrer Auflagenzahl setzt.[16]

Die folgenden Begriffsdefinitionen der Sekundärliteratur werden aufgrund der erwähnten Problematiken, die eben angesprochen wurden, differenziert und kritisch betrachtet. Im Anschluss erfolgt eine Explikation von „Trivialliteratur", deren Merkmale im analytischen Teil untersucht werden.

Laut Nusser geht die Popularisierung der der sogenannten Trivialliteratur im 19. Jahrhundert mit „der massenhaften Verbreitung von Druckerzeugnissen [einher]."[17] Als Ursache für steigende Auflagezahlen von Printerzeugnissen nennt er deren niedrige Produktions- und Vertriebskosten, eine konstante Zunahme des alphabetisierten Bevölkerungsanteils und damit einhergehend ein zunehmendes Lesebedürfnis.[18] Günter Waldmann erkennt ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Auflage und Trivialliteratur, allerding bleibt er eine Erklärung schuldig, in welchem Zusammenhang Qualität und Quantität stehen: „Trivialliteratur ist der Quantität der Film-, Fernseh-, Buch, Taschenbuch, Heft-, Zeitschriftenproduktion wie der ihrer Konsumtion nach durchweg Massenliteratur, und sie befriedigt Massenbedürfnisse."[19] Nun ein Blick auf die diversen Medienarten, welche sich im 19. Jahrhundert etabliert haben und im Zusammenhang mit Trivialliteratur gedeutet werden. Zu den auflagestärksten Druckerzeugnissen des 19. Jahrhunderts zählt Nusser Heftroman-Serien und Heftroman­Reihen, Einzelhefte, literarische und belletristische Almanache, illustrierte Zeitschriften und Romane auf.[20] Doch welche belletristischen Subgenres geraten mit den genannten Medienarten in Zirkulation? Nusser nennt hierzu folgende Genres des Romans, die mit den neuen Vertriebsformen und Lesebedürfnissen im 19. Jahrhundert in Zusammenhang stehen: a) Familien- und Liebesromane; b) Schauer-, Geheimbund-, und Räuberromane; c) Verbrechens-, Mysterien- und Kriminalromane; d) Reise- und Abenteuerromane; e) Science Fiction; f) Historische und zeitgeschichtliche Romane; g) Heimatromane.[21] Domagalski ergänzt diese Aufzählung noch um den Wildwestroman.[22] Es gilt nun zu klären, welche gemeinsamen Merkmale jene Genres als trivial auszeichnen. Laut Metzler Lexikon erscheint die Trivialliteratur „als serielle Massenproduktion [...] durch platte und abgedroschene Formelhaftigkeit gekennzeichnet."[23] Insofern kann unter Trivialliteratur „Schemaliteratur" verstanden werden, die sich durch eine etablierte und immer wiederkehrende Formelhaftigkeit auszeichnet.

Im Folgenden wird gesichtet, welche Formeln die Sekundärliteratur in Sprache, Inhalt und Kommunikation feststellt. Das Metzler Literatur Lexikon schätzt die Trivialliteratur als „minderwertig gegenüber gelungener Unterhaltungslit., auch wenn im dt. Sprachgebrauch meist nur graduell zu bestimmende Unterschiede vorherrschen."[24] Mit einer solch vagen und subjektiv wertenden Bestimmung lässt sich ein Text nicht wissenschaftlich untersuchen.

Deshalb wird ein genauerer Blick auf das charakteristische und insbesondere formelhafte der trivialen Sprache - dem ästhetischen Zeichenträger - in der Romanliteratur geworfen werden. Peter Demetz, der in seinem Aufsatz „Theodor Fontane als Unterhaltungsautor" nach formalen und stilistischen Parallelen zwischen Fontanes Romanen und Fortsetzungsromanen aus Familienzeitschriften untersucht, stellt in L’Adultera floskelhafte, auswechselbare Beschreibungen von Zeitverläufen fest, die sich „ins widerstandslose Fließende auflöst: ‘und so vergingen Wochen‘;[...] ‘und nun kam der Tag heran‘; ‘und so verging der Sommer‘; ‘und bald sollte es sich herausstellen‘; ‘und nun folgten idyllische Wochen‘..."[25]

Thomas Hecken sieht die für Trivialliteratur vermeintlich spezifische Wortwahl in ihrer reizauslösenden Wirkung. Dementsprechend zitiert er Waldmann, der ebenfalls vorschlägt, Lexeme auf ihre rezeptionsästhetische Wirkung hin zu untersuchen:

Günter Waldmann zählt gewählte, gefühlsintensive Adjektive, reizgerichtete Zusammensetzungen verwandter Lexeme, Superlative, Diminutive, emotionale Einfühlung gewährende Alliterationen und Assonanzen, Kombinationen semantisch inkongruenter Lexeme auf.[26]

Eine bloße Aufzählung von Figuren und Tropen, ohne Rückschlüsse auf das eigentlich „Triviale" zu ziehen, reicht allerdings nicht aus. Waldmann empfiehlt Wortgebrauch, Syntax und Häufigkeit und Art der Dialoge zu untersuchen, ohne jedoch konkret zu benennen, inwiefern von vorgefundenen Sprachmittel und Sprachformen auf das Triviale zu schließen sei.[27] In der Analyse von Texten im Hinblick auf ihre Trivialität muss stets berücksichtigt werden, dass sprachlich-literarische Zeichen eine ästhetische Wirkung beim Rezipienten hervorrufen und somit mit der Wirkungsintention des Textes verflochten sind. Nachdem die Tiefenstruktur von trivialen Texten unter die Lupe genommen wurde, wird kurz zusammengefasst, worin das spezifisch Triviale in seiner Oberflächenstruktur - der Ebene der erzählten Geschichte - auszumachen ist. Nusser betont die Klischeehaftigkeit der Trivialliteratur: „Dabei bezieht sich der Klischeevorwurf nicht nur auf sprachliche Aspekte, sondern auch auf die Stereotypie der Figurenkonstellation und Handlungsstrukturen.“[28] Auch das Metzler Literatur Lexikon geht vom schematischen Spannungsaufbau, Melodramatik und Sentimentalität in der Handlung und Schwarz-Weiß-Zeichnung bei Figuren und eindeutige moralische Zuweisungen sowie Vortäuschung eines klaren Weltbildes durch Harmonisierungsbestrebungen aus.[29] Zu den stereotypen Handlungsmustern nennt Nusser außerdem das Happy-End.[30] Demzufolge ist Trivialliteratur als Schemaliteratur zu verstehen, die bekannte Muster aufgreift, wiederholt und den Erwartungshorizont des Lesers befriedigt. Jedoch steht außer Frage, dass sich Handlung und Figurenkonstellation, wie auch weitere Aspekte der erzählten Geschichte, je nach Subgenre des so genannten Trivialromans, distinktiv voneinander unterscheiden. Da Die Verwandlung in dieser Arbeit insbesondere als Parodie des Familienromans verstanden wird, wird dieses Subgenre im Anschluss an dieses Kapitel auf seine Charakteristika hin untersucht. Schließlich müssen noch Aspekte der Wirkungsintention in Bezug auf den Leser geklärt werden. Die Sekundärliteratur unterstellt den Autoren trivialer Texte die Intention, den Rezipienten ideologisch zu indoktrinieren. Nusser geht davon aus, dass der Trivialroman moralisch nützlich sein will, indem „er gesellschaftliche Handlungsanweisungen gab und exemplarische Verhaltensweisen vorführte.“[31] Darüber hinaus unterstellt Nusser dem Rezipienten, in der Lektüre trivialer Literatur etwas über das sozial Gültige zu erfahren.[32] Dieser Überzeugung schließt sich Waldmann an: „Praktisch ist die Wirkung von Trivialliteratur allerdings meist die, bestehende Einstellungen, Verhaltens- und Wertnormen, herrschende Ideologien zu bestätigen und Einstellungsänderungen, überhaupt auf Veränderung zielendes Bewusstsein zu verhindern.“[33] Es bleibt jedoch offen, ob der Rezipient unterhaltender Literatur tatsächlich die Absicht hegte, sich ideologisch indoktrinieren zu lassen. Die in der Gesellschaft vorherrschenden Werte und Normen können als im kulturellen Gedächtnis verankert angesehen werden. Es kann nicht abgestritten werden, dass der sogenannte Trivialroman vorherrschende Ideologien aufgegriffen und als gesellschaftliche Norm bestätigt hat.

Nachdem die Merkmale der Trivialliteratur anhand einer Sichtung festgestellt wurden, erfolgt nun eine Explikation des Begriffes Trivialliteratur. Die Merkmale der festzusetzenden Explikation werden im analytischen Teil der Arbeit herangezogen.

Nicht die hohen Auflagen von Romanen - gleichwohl in welchem Printformat - machen einen Text zu einer trivialen Lektüre. Jedoch begünstigt die massehafte Produktion die Etablierung und Popularisierung bestimmter Genres, wie den Familienroman, Liebesroman u.a., die von einer trivialen Schreibweise dominiert sind. Trivialliteratur umfasst als Schreibweise jedoch alle literarische Gattungen und ist durch Formmerkmale vieler literarischer Epochen bestimmt. Die hohen Auflagen und serielle Produktion von Trivialromanen etablierten zudem eine austauschbare Formelhaftigkeit in Bezug auf Sprache (den ästhetischen Informationsträger), auf Ebene der erzählten Geschichte (die ästhetische Information) und in Hinblick auf die Wirkungsintention des Textes (der ästhetische Informant). Die sprachlichen Zeichenträger trivialer Texte zeichnen sich durch austauschbare Floskeln und deren reizauslösende Wirkung aus. Worin der spezifische Reiz (wie Sentimentalität, Schauder, Lachen u.a.) der Zeichenträger liegt, ist abhängig von der Wirkungsintention des Textes und dem Erwartungshorizont des Lesers. Die Ebene der erzählten Geschichte ist durch stereotype Figurenkonstellationen und vorhersehbaren Handlungsstrukturen gekennzeichnet, die sich in den unterschiedlichen Genres des sogenannten Trivialromans gattungsspezifisch stets aufs Neue wiederholen. Die vermeintliche Wirkungsintention eines Romans lässt sich nicht gänzlich nachweisen. Nicht bestätigt ist die Annahme, der Rezipient hege Interesse an einer ideologischen Indoktrination. Allerdings zeichnet sich der sogenannte Trivialroman durch eine Bestätigung gesellschaftlich gültiger Werte und Norme aus, welche die Ideologie des Rezipienten entweder bestätigen oder zuwiderlaufen. In der Bestätigung oder Ablehnung textimmanenter Ideologien, welche eine vermeintlich textexterne Gültigkeit suggerieren, entsteht wiederum ein Reiz - eine Reaktion - beim Leser. In der Trivialliteratur sind also ästhetische Zeichenträger, ästhetische Information und ästhetischer Informant eng miteinander verwoben.

2.3 Der Familienroman

Im vorherigen Abschnitt wurde festgestellt, dass es sich bei der sogenannten Trivialliteratur um eine Schreibweise handelt, die alle Gattungen umfasst und durch Formmerkmale vieler literarischer Epochen bestimmt ist. Das 19. und beginnende 20. Jahrhundert haben jedoch eine Reihe bestimmter Gattungstypen hervorgebracht, deren triviale Schreibweisen sich distinktiv voneinander unterscheiden. Bevor mit der Analyse von Die Verwandlung begonnen werden kann, besteht also noch Bedarf zu klären, welche gattungsspezifische Schreibweise der Trivialliteratur Kafka nachahmt. Damit schließt sich die Arbeit Nussers Desiderat an, ästhetische Urteile eines Textes innerhalb eines historisch-soziologischen Kontexts zu fällen:

Wichtig bleibt [...] ästhetische Urteile in einem historisch-soziologischen Bezugsrahmen zu stellen und triviale Texte nur unter Berücksichtigung des literaturgeschichtlichen Prozesses und ihrer kommunikativen und sozialen Funktionszusammenhänge rational und nach eingehender Analyse zu bewerten.[34]

Welche Titel trivialer Literatur als Quellen für Die Verwandlung in Frage kommen, wird im anschließenden Kapitel untersucht. Zunächst also ein allgemeiner Blick auf die Subgenres des Trivialromans der Jahrhundertwende. Die in Kapitel XX genannten Untergattungen des Trivialromans umfassen: a) Familien- und Liebesromane; b) Schauer-, Geheimbund-, und Räuberromane; c) Verbrechens-, Mysterien- und Kriminalromane; d) Reise- und Abenteuerromane; e) Science Fiction; f) Historische und zeitgeschichtliche Romane; g) Heimatromane und h) Wildwestromane. Parallelen lassen sich insbesondere zum Sujet des Familien- und Liebesromans nachzeichnen. Nusser fasst die Merkmale des Familien- und Liebesromans folgendermaßen zusammen:

Für die Bewahrung dieses Raumes [gemeint ist das familiäre Haus; Anmerkung d. Verf.] und für die ,gemütliche‘ Stimmung in ihm hatte die Frau zu sorgen, die dabei rollenspezifische Verhaltensweisen verinnerlichte. Der Rückzug in den Innenraum der Familie war verbunden mit einer sich ausprägenden Empfänglichkeit für Gefühle, die dem Wunsch nach einem ungestört harmonischen Zusammenleben entgegenkamen. Zuneigung, Zärtlichkeit, Vertrauen, die im Kreis der Familie offen geäußert werden konnten, waren die ans Gefühl gebundenen Tugenden, die nun auch in der Literatur zur Bestätigung der eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen gesucht wurden[35]

Im Familien- und Liebesroman findet der Leser auf Ebene der erzählten den semantischen Raum des Häuslichen vor. Die Figurenkonstellation setzt sich aus Mitgliedern der Familie zusammen, die den semantischen Raum bewohnen. Das Beziehungsgeflecht ist dem Diktat der Harmonisierung unterworfen. Auf Ebene der Wirkungsintention kommuniziert der Familien- und Liebesroman stereotype Rollenverteilungen und die damit verknüpften spezifischen Verhaltensweisen. Der Roman vermittelt Wertvorstellungen und Verhaltensnormen der bürgerlichen Klasse. Einige Kriterien von Nussers Merkmalkatalog des Familien- und Liebesromans finden sich auch in Kafkas Die Verwandlung wieder. Zwar stört Gregor Samsas Verwandlung in ein Ungeziefer die häusliche Idylle. Dennoch bestehen offensichtliche Parallelen zwischen Die Verwandlung und Nusser Beschreibung des Familien- und Liebesromans, welche in der Textanalyse eingehend untersucht werden. Die übrigen Subgenres, welche zuvor aufgezählt wurden, können als Grundlage für Die Verwandlung kategorisch ausgeschlossen werden, da Kafkas Erzählung weder strukturelle Parallelen zu einem Western, Kriminalroman oder anderen Gattungen aufweist.

[...]


[1] Vgl. Engel, Manfred/Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Metzler: Stuttgart, Weimar, 2010, S. 164f.

[2] Vgl. Jannidis, Fotis/Simone Winko: Begriffsbildung. In: Vera Nünning (Hg.); Schlüsselkompetenzen. Qualifikationen für Studium und Beruf. Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, S. 64-77, S. 53.

[3] Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. In Zusammenarbeit mit: Sandra Poppe, Sascha Seiler, Frank Zipfel. Stuttgart: Kröner, 2009, S. 570.

[4] Ebd. S. 571.

[5] Hempfer definiert Schreibweisen „als transhistorisch[e] Invarianten wie dem Narrativen, dem Dramatischen, dem Komischen, dem Tragischen, dem Satirischen u.a. [...].“ Hempfer, Klaus: Zum begrifflichen Status der Gattungsbegriffe: von 'Klassen' zu 'Familienähnlichkeiten' und 'Prototypen'. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 120. Stuttgart: Franz Steiner 2010, S. 14-32, S. 24.

[6] Lamping, S. 571.

[7] Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie [MLLK]. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Ansgar Nünning (Hg.), 5., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar: 2013, S. 585.

[8] Ebd., S. 585.

[9] Kristeva, Julia: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin. Übers. v. Michel Korinman u. Heiner Stück, in: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Frankfurt/Main: Athenäum 1972, S. 345-375, S. 348.

[10] Ebd., 346.

[11] Barthes, Roland [TA]: Der Tod des Autors. Übers. v. Matías Martínez, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, S. 185-193, S. 190.

[12] Ebd., S. 190.

[13] Ebd., S. 192.

[14] In Kapitel 3 werden Theodor Fontane und Fortsetzungsromane in Zeitungen und Zeitschriften als mögliche Prätexte diskutiert, deren triviale Schreibweise Kafka in Die Verwandlung nachahmt. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass Kafka die Lektüre Fontanes als auch die von Zeitungen und Zeitschriften, in denen Fortsetzungsromane publiziert wurden, gerne las.

[15] Domagalski, Peter: Trivialliteratur. Geschichte - Produktion - Rezeption. Freiburg: Herder 1981, S. 8.

[16] Vgl. Nusser, Peter: Trivialliteratur. Stuttgart: Metzler 1991, S. 34-36.

[17] Ebd., S. 37.

[18] Vgl. Ebd., S. 33-36.

[19] Waldmann, Günter: Theorie und Didaktik der Trivialliteratur. Modellanalysen - Didaktikdiskussion - literarische Wertung. 2., verbesserte und bibliographisch ergänzte Auflage. München: Fink 1977, S. 8

[20] Vgl. Nusser, S. 33-35.

[21] Vgl. Ebd.: Kapitel 3.2.1, S. 57-87.

[22] Vgl. Domagalski, S. 33.

[23] MLLK, S. 766.

[24] Ebd., S. 766.

[25] Demetz, Peter: Theodor Fontane als Unterhaltungsautor. In: Annamaria Rucktäschel, Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Trivialliteratur. München: Fink 1976, S. 80-138, S. 199.

[26] Waldmann, Günter: Literarischer Kitsch als wertungsästhetisches Problem. In: Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Literarischer Kitsch. Texte zu seiner Theorie, Geschichte und Einzelinterpretationen. Tübingen: Niemeyer 1979, 89-120. Zit. n.: Hecken, Thomas: Der Reiz des Trivialen. Künstler, Intellektuelle und die Popkultur, in ebd. (Hg.): Der Reiz des Trivialen. Idealistische Ästhetik, Trivialliteraturforschung, Geschmackssoziologie und die Aufnahme populärer Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 13-48, S. 26.

[27] Waldmann, S. 164.

[28] Nusser, S. 7.

[29] MLLK, S. 766.

[30] Nusser, S. 5.

[31] Ebd., S. 5.

[32] Ebd., S. 53.

[33] Waldmann, S. 8.

[34] Nusser, S. 10.

[35] Ebd., S. 58.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Kafka als Parodist der Trivialliteratur
Untertitel
Eine Untersuchung anhand von Kafkas "Die Verwandlung"
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Seminar für Deutsche Philologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
27
Katalognummer
V354731
ISBN (eBook)
9783668412064
ISBN (Buch)
9783668412071
Dateigröße
1310 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kafka, Fontane, Weltliteratur, Parodie, Trivialliteratur, Familienroman
Arbeit zitieren
Daniel Nagelstutz (Autor:in), 2016, Kafka als Parodist der Trivialliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354731

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