Erziehung, Schule und Gesellschaft im pädagogischen Denken von Friedrich Adolph Diesterweg (1790-1866)


Bachelorarbeit, 2015

55 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Menschenbild und die Aufgabe des Menschen nach Diesterwegs Vorstellungen

3. Erziehungstheoretische Überlegungen Diesterwegs
3.1 Erziehungsbegriff und dessen Anforderungen
3.2 Erziehung und Bildung als sich ergänzende Kategorien

4. Schule als elementare Bildungseinrichtung
4.1 Schul- und Bildungssystem
4.2 Die Abwendung der Schule von der Kirche hin zum Staat
4.3 Rahmenbedingungen und inhaltliche Forderungen an die Schule
4.4 Unterricht im pädagogischen Konzept Diesterwegs
4.4.1 Begriffliche Abgrenzung von Pädagogik, Methodik und Didaktik
4.4.2 Zielvorstellungen des Unterrichts
4.4.3 Inhalte des Unterrichts
4.5 Der Lehrer
4.5.1 Allgemeine Anforderungen und Aufgaben des Lehrers
4.5.2 Unterrichtsprinzipien und -regeln

5. Die gesellschaftliche Sichtweise Diesterwegs
5.1 Sozialpolitisches Programm und die „Soziale Frage“
5.2 Volksbildung als zentrales gesellschaftspolitisches Ziel
5.3 Gesellschaftliche Einbettung von Schule und Erziehung

6. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Thematik „Erziehung, Schule und Gesellschaft im Denken von Friedrich Adolph Diesterweg“ wird im Rahmen einer Bachelorarbeit im Fach Bildungswissenschaften behandelt.

In dieser Bachelorarbeit geht es darum, die pädagogische Denkweise von Diesterweg näher darzustellen und die theoretischen sowie praktischen Vorstellungen zu erläutern. Die Pädagogik Diesterwegs stellt ein vielschichtiges Konstrukt dar, welches es näher zu analysieren gilt. Als Bezugspunkt dieser Analyse wird das Hauptaugenmerk auf die Erziehung, Schule und Gesellschaft gelegt, da gerade in diesen Bereichen der Beitrag Diesterwegs für die pädagogische und zugleich sozial-politische Entwicklung besonders hervorzuheben ist. Anhand Diesterwegs Buch „Wegweiser zur Bildung deutscher Lehrer“, der Sammlung verschiedener Schriften in „Volksbildung als allgemeine Menschenbildung“ sowie weiterer Sekundärliteratur, wie zum Beispiel das Werk von Eberhard Groß „Erziehung und Gesellschaft im Werk Adolph Diesterwegs“ oder Gert Geißlers Darstellung „Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg“, welche sich mit der pädagogischen Thematik Diesterwegs auseinandersetzen, soll die Denkweise hinsichtlich der Bezugspunkten Erziehung, Schule und Gesellschaft durchleuchtet werden. Diese drei Bezugspunkte stellen den zentralen Kern dieser Arbeit dar. Um zunächst einen thematischen Einstieg in die Materie zu schaffen und zugleich einen Grundstein der pädagogischen Denkweise von Diesterweg darzustellen, wird im zweiten Kapitel das Bild des Menschen und dessen Aufgabe näher erläutert. Das Menschenbild nach Diesterwegs Vorstellung beeinflusst die Forderungen seiner pädagogischen Sichtweise in besonderem Maße und soll aus diesem Grund den inhaltlichen Teil dieser Arbeit einläuten. Daher wird dieses Kapitel vom gesellschaftlichen Teil losgelöst. Darauf folgt in Kapitel drei die Darstellung des Erziehungsbegriffes. Laut Gert Geißlers Analyse hat Diesterweg in seiner Schaffenszeit keine explizite Erziehungslehre entwickelt, wie es andere Pädagogen taten (vgl. Geißler 2006, 127). Dennoch stellte er gewisse Forderungen an die Erziehung. Diese gilt es herauszuarbeiten und aufzuführen. In diesem Zusammenhang soll auch der Bezug der Erziehung zum Menschenbild hergestellt werden. Im vierten Kapitel wird die Vorstellung von der Schule behandelt. Hier ist es zunächst nötig, das Schulsystem zu analysieren, wie es nach Diesterwegs Vorstellungen zu sein hat, um im weiteren Verlauf den Unterricht und die Lehrperson im schulischen Rahmen zu erläutern. Gerade an die Lehrperson stellt Diesterweg einige Forderungen, welche ausführlich in seinem „Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer“ genannt werden. Erziehung und Schule sind nach Diesterwegs Auffassungen eng verbunden mit der gesellschaftlichen Konzeption. Aus diesem Grund wird im fünften Kapitel eine Verknüpfung zwischen Erziehung, Schule und Gesellschaft hergestellt. Außerdem wird Diesterwegs politisches Bild der Nation näher betrachtet und sein sozial-politischer Beitrag herausgearbeitet.

Die schematische Vorgehensweise dieser Arbeit basiert auf einem analytischen und darstellenden Hintergrund der Pädagogik von Diesterweg. Um einen terminologischen Einstieg zu gewähren wird deshalb, dem Menschenbild nachfolgend, auf den Erziehungs- und Bildungsbegriff eingegangen, bevor anschließend die Themen Schule und Gesellschaft bearbeitet werden. In der Analyse und Darstellung der einzelnen Punkte wird zudem ein Bezug zur Vorstellung Diesterwegs hinsichtlich der praktischen Umsetzung hergestellt.

2. Menschenbild und die Aufgabe des Menschen nach Diesterwegs Vorstellungen

Die Überlegungen Diesterwegs basieren auf einem speziellen Bild des Menschentums. Dieses Menschenbild lässt sich als Fundament seines Denkens und als Begründung der daraus resultierenden pädagogischen Sichtweise, welche er Zeit seines Lebens entwickelte, bezeichnen. Zentraler Punkt des Menschenbildes ist dabei die Lebensaufgabe des Menschen.

Nach Diesterwegs Auffassung wurde der Mensch von Gott als irdisches Lebewesen geschaffen, um seine Bestimmung zu erfüllen. Da die gesamte Schöpfung spezielle Ziele und Zwecke zu verfolgen hat, hat auch der Mensch von Gott ein Ziel gestellt bekommen. Dieses Ziel soll der Mensch durch die Erfüllung seiner irdischen Bestimmung erreichen (vgl. Diesterweg 1851, 13). Anders als die von Gott geschaffenen natürlichen Elemente, wie Sonne, Mond, Steine, Pflanzen usw., welche ihre Bestimmung stets verfolgen und niemals verfehlen, da sie den Gesetzen der Naturnotwendigkeit unterstehen, ist der Mensch einer freien Willkür ausgesetzt, wodurch seine Bestimmung in Teilen oder sogar in vollem Umfang verfehlt werden kann (vgl. ebd.). Er untersteht nicht der „äußeren Notwendigkeit, sondern [...] dem Gesetze der inneren Freiheit“ (ebd.). Nur über ein besonnenes Bewusstsein vermag der Mensch seine Ziele zu erfüllen. Er verfügt nicht über die Instinkte der Naturelemente, wodurch sein Weg nicht nach solch instinktgeleiteten Gegebenheiten beschritten werden kann. Viel mehr benötigt es ein klares Selbstbewusstsein, sowie die ständige Überprüfung und Untersuchung seines Geistes, um das Ziel überhaupt zu erkennen und zu erreichen. Interpretiert der Mensch seine Bestimmung falsch bzw. irrt er in deren Auffassung, so wird die Aufgabe des Lebens verfehlt und er wird nicht zu dem, was er hätte werden sollen (vgl. ebd., 13f). Ist dies der Fall, so lebte der Mensch nach Diesterwegs Auffassung umsonst, da er seine „Anlagen und Kräften, die über alles Glänzende und Herrliche der irdischen Welt hinausgehen“ (ebd., 14) nicht ausschöpfte und somit vergebens einsetzte.

Diese Anlagen und Kräfte sind nach Diesterwegs Auffassung von der Natur gegeben. Daraus folgt, dass „auch der Mensch [...] als ein Produkt der Natur anzusehen“ (Diesterweg 1830, 271) ist. Mit dieser Auffassung der Menschennatur liegt Diesterweg eng bei dem Menschenbild und den pädagogischen Vorstellungen von Jean-Jacques Rousseau (vgl. Weiß 1996, 70). Die Natur des Menschen ist eng verbunden mit dessen Bestimmung. Beide bedingen sich gegenseitig. Was die Bestimmung des Menschen überhaupt ist und was die daraus resultierende Aufgabe des Lebens darstellt, sollen, als wichtigste Lebensfragen, ein stetiger Begleiter der Menschheit sein. Der Mensch soll seine ganze Kraft darauf anwenden, diese Lösung zu finden. Da dies jedoch nicht auf einmal gelingen kann, sondern ein allmählich fortlaufender Prozess ist, liegt es an ihm selbst, den Fokus immer auf das Ziel gerichtet zu halten und es nie aus den Augen zu verlieren. Ab dem Zeitpunkt, an dem der Mensch ein klares Bewusstsein seiner Selbst besitzt, muss er das Ziel schon erahnen und erkennen. Das Erreichen des Lebensziels ist somit eng verbunden mit der Entwicklung eines jeden menschlichen Individuums (vgl. Diesterweg 1851, 14).

Diesterweg formuliert zwei Quellen aus denen der Mensch seine Aufgabe des Lebens schöpfen kann. Dies seien zum einen die Überlieferungen unserer Vorfahren sowie deren Erfahrungen und zum anderen der eigene Geist. Der Mensch soll „sich umsehen nach dem Ergebnis der Geschichte im Ablauf der Jahrtausende und dieses Gegebene mit prüfendem Geiste untersuchen“ (ebd.). Dazu muss der Mensch sich mit seinen Mitmenschen austauschen, Denkanregungen mit ihnen teilen, Bücher studieren und daraus die Erkenntnis ziehen, was seine persönliche Aufgabe ist und wie er diese erfüllen kann. Es ist vor allem für den Jugendlichen wichtig, dass sie diesen Erkenntnisweg beschreiten. Durch die autoritäre Erziehung der Eltern tritt er in die Fülle des Lebens ein, wo ihm die Frage nach seiner Bestimmung aufkommt und er dieser Aufgabe der Lösung mit all seiner Kraft nachgeht (vgl. ebd., 14f).

„Er will den Pol seines Lebens kennenlernen, damit er unwandelbar nach ihm strebe - den Mittelpunkt seines ganzen Daseins und Wirkens“ (ebd., 15). Die Bestimmung des Menschen wird dadurch zur Aufgabe des Lebens. Ob diese erreicht sei, kann vom Lebenden nicht beantwortet werden. Er erreicht sie nur über das Streben nach der Auflösung der Lebensfrage und muss das strebende Gemüt stets aufrechterhalten (vgl. Diesterweg 1851, 15).

Nach Diesterweg wäre es verwunderlich, wenn die Formulierung der Lebensfrage durch die Denker der Zeit immer den gleichen Ausdruck hätte. Dies erscheint ihm unmöglich. Dennoch würden sie im Geiste und im Kerngedanken übereinstimmen, da die Bestimmung für jeden Menschen die gleiche ist, sie sich allerdings im Ausdruck und der Bezeichnungsweise unterscheiden kann. Dazu ist zu beachten, dass der Mensch bezüglich seines Standpunktes und seiner Eigentümlichkeit sehr verschieden ist (vgl. ebd.). Aus diesem Grund „zeigt sich ihnen das Wahre der Dinge von verschiedenen Seiten“ (ebd.). Dies bedeutet, dass die Antwort auf die Frage des Lebens unterschiedlich ausfallen kann und von verschiedenen Seiten aus beleuchtet wird. Der Grundgedanke bzw. die Hauptsache istjedoch die gleiche (vgl. ebd.). Bezüglich der Bestimmung des Menschen nennt Diesterweg zwei Gesichtspunkte. Das materiale Element liefern philosophische Denker, welche das Ziel des Menschen hinsichtlich der Vernünftigkeit, der Glückseligkeit, der Wahrhaftigkeit, des Wahren, Schönen, Guten und der Humanität definieren. Das formale Element sieht das Ziel des Lebens in der Entwicklung aller Anlagen und Kräfte des Menschen, in der Vollendung der Bildung bzw. in der Selbsttätigkeit des Menschen (vgl. ebd., 16). Verbindet man formales und materiales Element miteinander, synthetisiert Diesterweg daraus die Bestimmung des Menschen als „die Selbsttätigkeit im Dienste des Wahren, Schönen und Guten“ (ebd.). Die Selbsttätigkeit des Menschen bedeutet, dass er seiner Bestimmung nicht leidend und in Selbstvernichtung, sondern in Tätigkeit und Anstrengung folgt. Der Grund für ein solches Handeln hat der Mensch in sich selbst zu finden und aus sich heraus anzuwenden. Daraus formuliert Diesterweg „das Prinzip der freien Selbstbestimmung, die Freiheit“ (ebd.). Das Wahre und Gute stellt eine ewig andauernde Zielsetzung für den Menschen dar, welcher er durch die reine Selbsttätigkeit und der damit verbundenen Kraftaufwendung zu folgen hat (vgl. ebd.). Es ist die Berufung jedes Menschen „Wahres zu erkennen, Schönes zu lieben, Gutes zu üben“ (Diesterweg in Geißler & Günther 1989, 70). Dies spiegelt das positiv gestimmte Menschenbild Diesterwegs wieder. Er widersprach der kirchlichen Auffassung, der Mensch sei sündhaft und in gleichem Maße verdorben, weshalb er in Demut und Unterwerfung leben müsse. Für Diesterweg war das Vertrauen in die Menschheit und deren Mut viel entscheidender als das negativ gestimmte Menschenbild der Kirchenlehre (vgl. Geißler & Günther 1989, 70). Die Bildsamkeit des Menschen und deren Entwicklungsfähigkeit stellt Diesterweg unter den Anspruchsbereich der Erziehung. Diese Forderungen an die Erziehung sollen im nächsten Kapitel unter Berücksichtigung des Menschenbildes dargestellt werden.

3. Erziehungstheoretische Überlegungen Diesterwegs

3.1 Erziehungsbegriff und dessen Anforderungen

Die Erziehung ist im pädagogischen Denken Diesterwegs ein elementarer Baustein für die Entwicklung des Menschen. Als Erziehung formuliert er „die Summe aller Einwirkungen, welche der Mensch von dem ersten Moment seines Daseins, leiblich und geistig, bewusst und unbewusst, empfangen hat“ (Diesterweg in Geißler & Günther 1989, 64). Im vorherigen Kapitel wurde die Bestimmung des Menschen schon genannt. Diese Bestimmung ist für Diesterweg gleichzeitig das oberste Erziehungsziel. Die Erziehung des Menschen soll demnach auf die Selbsttätigkeit im Sinne des Wahren, Schönen und Guten ausgerichtet sein. Es wird deutlich, dass das Menschenbild als grundlegender Ausgangspunkt für die Ausrichtung der Erziehung dient. Das genannte Erziehungsziel formulierte Diesterweg selbst als sehr allgemein gehalten. Diese Allgemeinheit sollte jedoch nicht ohne Zweck sein. Die Formulierung des Erziehungsziels regt den kritischen Beobachter an, dieses zu hinterfragen, was überhaupt das Wahre, Schöne und Gute sei. Für Diesterweg lässt sich genau diese Frage nicht beantworten. Diese Werte wandeln sich mit der Zeit und für einen Jugendlichen haben solche Werte eine andere Bedeutung als für einen älteren Menschen. Aus diesem Grund dürfe ein Erziehungsziel keine speziellen Bestandteile haben, lediglich eine formale Bestimmung (hier die Selbsttätigkeit des Menschen) und eine Zielsetzung, wohin dieses führen soll (zu Diesterwegs Wahrem, Schönem und Gutem), müssen allgemein formuliert werden (vgl. Diesterweg 1851, 18).

Mit dem Erziehungsziel bzw. dem Erziehungsprinzip stellte Diesterweg gleichzeitig eine Forderung auf, nach der man dem zu folgen hat, was einem seiner Überzeugung nach als das Wahre und Gute erscheint. In dieser Forderung steckt eine Anerkennung der Subjektivität der menschlichen Gedanken. Jeder Mensch besitzt eine unterschiedliche Überzeugung was das Rechte und was das Gute ist. Diese Überzeugung kann und dürfe sich ändern, jedoch müsse das Streben nach dem Rechten und Guten und danach worin man es erkennt stets aufrechterhalten bleiben (vgl. ebd.,19).

Die in Kapitel 2 beschriebene Selbsttätigkeit des Menschen stellt auch für die Erziehung ein wichtiger Aspekt dar. Diesterweg besagt, „das eigentlich Menschliche im Menschen ist dessen Selbsttätigkeit“ (ebd., 20). Es liegt also an der Erziehung, diese Selbsttätigkeit des Menschen weiter zu entwickeln und so zu formen, dass der Mensch in seinem fortlaufenden Leben sein eigener Wegbereiter ist (vgl. ebd.).

Damit die Erziehung zur Selbsttätigkeit auch gelingt, ist es nach Diesterweg notwendig, dass ein oberster Grundsatz formuliert wird, an dem sich die Erziehung zu orientieren hat. Diesterweg hält fest, „dass die Auffindung eines allgemeingültigen, allgemein anerkannten Grundsatzes der Erziehung eine Sache von Wichtigkeit sei“ (Diesterweg 1830, 267). Damit der Grundsatz als solcher auch in der Erziehungswissenschaft seine Berechtigung findet, stellt er vier Anforderungen auf, die ein möglicher Grundsatz zu erfüllen hat. Ein Grundsatz „darf weder eines Beweises fähig noch desselben bedürftig; er muss unmittelbar gewiß; er muss ein allgemeiner, ein einziger, ein formaler Satz sein“ (ebd., 268). Um diesen zu formulieren, betrachtet Diesterweg zunächst die Unzweckmäßigkeit von Erziehungsmaßnahmen. Als Begründung für eine fehlgeschlagene Maßnahme beobachtete er, dass der Begriff „Natur“ häufig benutzt wird. Es wird von Unnatürlichkeit oder Naturwidrigkeit gesprochen. Gleichzeitig findet eine bestimmte Handlung oder ein Verfahren Anklang, wenn es ganz natürlich erscheint oder gemäß der natürlichen Gesetzte sei. Aus diesem Zusammenhang formulierte Diesterweg das Prinzip der Naturgemäßheit. Dadurch, dass es in der Erziehung um den Menschen gehe, darf auch nichts angewendet werden, was der Natur des Menschen nicht entspreche oder ihn in seiner Individualität einschränke. Es muss alles nach dem Gesetz der Naturgemäßheit ablaufen (vgl. ebd., 268f).

Damit die Legitimation und die Rechtmäßigkeit dieses Prinzips als gegeben angesehen werden kann, prüft es Diesterweg hinsichtlich der zuvor genannten vier Anforderungen. Als Erstes ist festzustellen, dass der Mensch ein Produkt der Natur ist und aus diesem Grund die Natur nicht selbst gestaltet, sondern in sie hinein geboren wird. Alle Wesen der Natur tragen bestimmte Anlagen in sich, die sie dazu befähigen, das zu werden wozu sie geschaffen wurden. Ein Mensch ist also nur dazu beschaffen ein Mensch zu sein (vgl. ebd., 269). Durch die Klarheit dieses Aspektes betrachtet Diesterweg das Prinzip der Naturgemäßheit der Erziehung als selbstverständlich und es „kann nicht bewiesen werden und braucht nicht bewiesen werden“ (ebd., 270).

Als Zweites hebt Diesterweg die Allgemeinheit des Prinzips hervor. Dadurch, dass die Naturgemäßheit als einziges Merkmal vorhanden ist, ist das Wesen des Menschen der unmittelbare Bezugspunkt und Diesterweg betrachtet dessen Natur als zweckmäßigste Bedeutung für die Erziehung (vgl. ebd., 270).

Als Drittes beschreibt Diesterweg, dass der Grundsatz der naturgemäßen Erziehung der einzige angemessene ist. Wie schon in der ersten Begründung beschrieben wird, sind die natürlichen Anlagen des Menschen aus bestimmten Zwecken gegeben. Dadurch ist festzustellen, dass derjenige, der diesem Prinzip folgt, dem Zwecke der Natur dient und somit keinen anderen Grundsatz mehr benötigt (vgl. ebd.).

Als Viertes sieht Diesterweg das naturgemäße Prinzip als einen formalen Grundsatz, welcher nicht beschreibt wohin und wozu die Erziehung dienen soll. Das Prinzip stellt nur die Forderung auf, dass sich der Erziehende an der Natur zu orientieren hat (vgl. ebd.).

Aus diesen vier Begründungen schlussfolgert Diesterweg, dass „der Grundsatz 'Erziehe naturgemäß!' der oberste Grundsatz aller Menschenerziehung“ (ebd., 271) ist. Nach dieser Schlussfolgerung ist die Natur der einzig wahre Bezugspunkt der Erziehungswissenschaft und ebenso der Erziehungspraxis. Ist ein Erziehungsverfahren als gut und erfolgreich einzustufen, muss es zunächst die Zwecke der Natur erfüllen und diese begünstigen. Auf der anderen Seite muss auch bei der Verwerfung einer Erziehungsmaßnahme zunächst der Beweis geliefert werden, dass diese naturwidrig und naturschädigend ist (vgl. ebd.). Mit dem naturgemäßen Prinzip gehen zwei Forderungen einher. Als die negative Forderung formuliert Diesterweg: „Meide in der Erziehung das Naturwidrige!“ (ebd.). Die positive Forderung lautet demnach: „Übe das Naturgemäße!“ (ebd.). Es wird deutlich, dass nach Diesterwegs Vorstellungen die Natur des Menschen der Fixpunkt aller Erziehungsmaßnahmen sein muss. Dadurch, dass auch der Mensch ein Produkt der Natur ist, darf sich der Erzieher nicht anmaßen, er erziehe das Kind alleine. Vielmehr liegt es an dem Erzieher bzw. an der Erziehung, das Schlechte vom Menschen fernzuhalten, die naturgegebenen Anlagen zu fördern und im Sinne des Natürlichen weiterzuentwickeln (vgl. ebd.). Um seine Vorstellung der naturgemäßen Erziehung näher zu umschreiben zog Diesterweg mit dem Grundsatz des „laissez faire“ eine Begrifflichkeit heran, welche uns aus der Wirtschaftslehre bekannt sein dürfte. Dennoch zeigt dieser Grundsatz welche genaue Vorstellung Diesterweg von der Erziehung hatte (vgl. Rupp 1987, 103).

Erziehung ist für Diesterweg die wichtigste Form der Menschenbildung. Nur durch eine gute Erziehung kann der Mensch vollkommen werden und seine Bestimmung erfüllen. „Der Endzweck der Schule ist die Erziehung der Schüler; Hauptmittel zur Erreichung dieses Zieles ist der Unterricht“ (Diesterweg in Geißler 2002, 142). Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass die Erziehung im Bereich der Schule und des Unterrichts hohe Bedeutung besitzt. Dies soll jedoch ausführlich in Kapitel vier dargestellt werden.

Mit der Erziehung geht zudem der Begriff der Bildung einher. Im folgenden Teilkapitel wird diese Verbindung näher durchleuchtet.

3.2 Erziehung und Bildung als sich ergänzende Kategorien

Erziehung und Bildung sind zwei der grundlegendsten und elementarsten Begriffe der Pädagogik. Diese zwei Begriffe stellen in der pädagogischen Denkweise Diesterwegs mehr als eine reine Begrifflichkeit zu deren Selbstzweck dar. Sie werden zu Kategorien, da sie durch ihre Objektivität und Allgemeinheit gleichzeitig als Methode und Instrument anerkannt werden können (vgl. Fichtner 1992, 18). Mit der Bildung der Menschheit setzte sich Diesterweg ein Ziel, das er strikt verfolgte und sich als oberstes Kredo setzte.

Er verfolgte zudem ein nationales Interesse, welches sich in der Zeit Napoleons immer weiter ausprägte. Die Bildung der Menschen sollte einen Beitrag zur Schaffung eines einheitlichen Staatsvolkes leisten (vgl. Rupp 1990, 83). Damit forderte er, Bildung für jede gesellschaftliche Schicht zugänglich zu machen und somit jedem Individuum die Möglichkeit zu geben, seine Fähigkeiten zu bilden und sich einer umfangreichen Erziehung auszusetzen (vgl. ebd., 88). Genau in dieser Forderung lässt sich die ergänzende Beziehung von Bildung und Erziehung darstellen. Mit dem öffentlichen Zugang zu Bildung für Jedermann geht die Forderung nach einer allgemeinen, öffentlichen Schule einher, in welcher Bildung und Erziehung sowohl inhaltlich als auch organisatorisch miteinander verbunden werden können (vgl. Fichtner 1992, 20). Der Prozess der Erziehung muss demnach als Bildung und der Bildungsprozess als Erziehung gestaltet werden. Als Haupterziehungsmittel sieht Diesterweg den Unterricht, da in ihm der Bildungsgehalt vermittelt wird, welcher zur umfangreichen Erziehung des Menschen führen soll (vgl. ebd., 22). In diesem Zusammenhang muss jedoch wieder die Natur und das Naturgemäße berücksichtigt werden. Die natürlichen Anlagen des Menschen erlauben es, dass eine bestimmte Fähigkeit entwickelt wird. Dies setzt voraus, dass überhaupt Anlagen vorhanden sind, denn „nur wo Anlagen sind, ist Entwicklungsfähigkeit, d.h. Möglichkeit, aber noch nicht Wirklichkeit und Entwicklung“ (Diesterweg 1851, 68). Durch die natürlichen Anlagen verfügt der Mensch zugleich über einen Trieb zur Entfaltung von Entwicklung. Dennoch ist ein Impuls bzw. eine Erregung von außen notwendig, um die Entwicklung voranzutreiben (vgl. ebd.). „Ohne Erregung gibt es keine Entwicklung. Also können Anlagen unentwickelt bleiben. Erziehen heißt erregen“ (ebd.). Damit eine Erregung wirksam ist, muss sie nach Diesterwegs Vorstellungen der natürlichen Anlage des Menschen entsprechen und genau dieser Punkt ist die Bildung, welche über Inhalte und Ziele vermittelt wird (vgl. Fichtner 1992, 25). Diesterweg formulierte dazu, dass „wenn bilden 'nach einer Idee entwickeln' heißt, so besteht die Bildung einer Anlage in der Erregung derselben zu einem bestimmten Ziele“ (Diesterweg 1851, 68). Hier wird die ergänzende Funktion von Erziehung und Bildung nochmals deutlich dargestellt.

Die Einheit von Erziehung und Bildung verdeutlicht, dass die Schule mit dem Unterricht, den Lehrern und den Schülern in einem inhaltlichen Zusammenhang gesehen werden kann (vgl. Fichtner 1992, 26). Dieser Zusammenhang sowie dessen Elemente sollen im nächsten Kapitel näher dargestellt und herausgearbeitet werden.

4. Schule als elementare Bildungseinrichtung

4.1 Schul- und Bildungssystem

Betrachten wir das Schul- und Bildungssystem nach Diesterwegs Vorstellungen, so müssen wir zunächst einen Blick auf den Kindergarten werfen. Der Kindergarten stellt die erste Stufe eines einheitlichen Bildungswesens dar. Nach Diesterwegs Ansicht sollte der Kindergarten zugänglich für alle Kinder jeglicher Gesellschaftsschichten sein. Die Begründung einer solchen Institution besteht seiner Vorstellung nach darin, dass die naturgemäße Entfaltung der Kinder in allen Ständen nicht ausreichend zur Geltung kommt und somit im Kindergarten aufgearbeitet werden müsse. Zugleich solle die Entwicklung der Kinder nach der naturgemäßen Art und Weise weiter vorangetrieben werden. (vgl. Geißler & Günther 1989, 82). Innerhalb des Kindergartens sollten die Kinder ihre Glieder und Sinne spielerisch schulen. Das Spielen an sich sollte als eine pädagogische Maßnahme angesehen werden, wodurch die körperliche und geistige Erziehung des Kindes weiter vorangetrieben werden sollte (vgl. ebd., 82f). Der Kindergarten sollte keine Einrichtung sein, welche aus der Not vieler Eltern heraus entstand, sondern stellte „eine sinnvolle und notwendige Ergänzung der Familienerziehung“ (ebd., 83) dar. Ziel sei es die Kinder, ohne dass sie in ihrer Individualität eingeschränkt werden, in eine Gesamtheit hineinzuführen. Dies bedeutet, dass durch eine Vermittlung von gesellschaftsbezogenen Denk- und Handlungsweisen dem Kind ein bestimmter Sinn von Gemeinschaft, welcher für einen demokratischen Staat unabdingbar erscheint, beigebracht werden sollte (vgl. ebd., 83).

Nach dem Kindergarten folgte auf der zweiten Bildungsstufe die sogenannte Volksschule. Diesterweg stellte sie in das Zentrum seines Schulsystems. Diese Schulform endete normalerweise mit dem Erreichen des zwölften bis vierzehnten Lebensjahres (vgl. ebd., 82). Zu den Volksschulen zählte Diesterweg die sogenannten Elementar- und Bürgerschulen, „weil diese ihrem Wesen nach nichts anderes sind und sein können als gehobene, ausgedehnte, entwickelte Volksschulen“ (Diesterweg 1851, 63). Hauptaufgabe der Volksschule sei es, für eine allgemeine Menschenbildung mit einer allseitigen Persönlichkeitsentwicklung sowie einer grundlegenden und ausbaufähigen Allgemeinbildung zu sorgen (vgl. Geißler & Günther 1989, 74). Dadurch, dass nach Diesterwegs Auffassung der Unterricht in den Volksschulen den Bedürfnissen der damaligen Zeit nicht mehr gerecht werde, forderte er die Einführung von sogenannten Fortbildungsschulen. In solch' einer Einrichtung sollte den Schülern an einigen Tagen in der Woche eine weitere umfassende Bildung zugesprochen werden (vgl. ebd., 82).

Nachfolgend der Volksschule gehören die Real- bzw. höheren Bürgerschulen sowie das Gymnasium zur dritten Bildungsstufe. Die Real- und höheren Bürgerschulen hatten die Aufgabe, „ihre Schüler für das bürgerliche Leben reif zu machen und zu selbständigem Eingreifen in dasselbe zu befähigen“ (Diesterweg in ebd., 83). Dem Gymnasium kam die Aufgabe zu, die Schüler auf das Studium an einer Universität vorzubereiten. (vgl. Geißler & Günther 1989, 83). Durch die Tatsache, dass sich Diesterweg mit den Naturwissenschaften, dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt begeistert auseinandersetzte, da er sich von diesen Bereichen einen Beitrag zur Förderung der Zivilisation und deren Wohlstand erhoffte, wird die von ihm geforderte Anerkennung der Realschule als dem Gymnasium gleichwertige Bildungseinrichtung durchaus logisch (vgl. ebd.). Die „Real- und Bürgerschulen, die sich durch einen lebensverbundenen, auf praktische Ziele gerichteten Unterricht auswiesen“ (ebd.), sah Diesterweg als legitime Nachfolger der Volksschule an und nannte deren Eröffnung als „einen höchst bedeutenden Fortschritt“ (Diesterweg in ebd.) im deutschen Schulwesen. Diesterweg trat dem Anspruch, „dass allein das Gymnasium durch den altsprachlichen Unterricht formale Bildung vermittle und anspruchsvolle intellektuelle Erziehung biete“ (Geißler 2002, 38) entschieden entgegen und unterstrich dabei die Gleichstellung von Gymnasium und Realschule. Das Gymnasium und die Realschule sollten nach seiner Auffassung die allgemeine Bildung „auf eigene Weise fortsetzen, zum einen für den Gewerbe-, zum anderen für den Gelehrtenstand“ (ebd.). Eine Differenzierung im Verlauf der Bildungswege wollte Diesterweg jedoch erst zu einem möglichst späten Zeitpunkt. So sollte ein Gymnasium erst ab dem 12. Lebensjahr besucht werden, was nach seiner Vorstellung gesetzlich festgelegt werden müsse. Dadurch wurde der Volks- und Elementarschule eine größere Bedeutung zugesprochen (vgl. Geißler & Günther 1989, 75).

Diesterweg betrachtet zur damaligen Zeit ein bestimmtes Unterrichts- und Schulsystem besonders kontrovers. Das im damaligen dänischen Schleswig­Holstein, aber auch in Teilen Deutschlands verbreitete System der „wechselseitigen Schuleinrichtung“ lehnte er größtenteils ab. Bei dieser Schulform handelt es sich um eine Art Helfersystem, in dem eine Klasse anhand des Unterrichtsinhaltes untergliedert war und von einem Lehrer zu verschiedenen Zeiten unterrichtet wurde (vgl. Schröder 1978, 35). „Innerhalb jeder Abteilung wurden die Schüler je nach ihrer Leistungsstärke in Stufen zusammengefasst“ (ebd.). Dabei übten sie unter der Aufsicht einiger älterer Schüler, welche Monitoren genannt wurden, das Gelernte. Der Lehrer sollte diesen geübten Stoff dann überprüfen. Durch die unterrichtsbegleitenden Protokolle und Tabellen, fand eine starke Formalisierung statt. (vgl. ebd.)

Die erwähnte Ablehnung Diesterwegs gegenüber dieser Schulform war jedoch nicht von Anfang an vorhanden. So sah er durchaus positive Ansätze in diesem System, als er sich mit der Theorie der wechselseitigen Schuleinrichtung auseinander setzte. Erst nachdem er in Schleswig-Holstein im Jahre 1836 eine wechselseitige Elementarschule besuchte und zum ersten Mal die praktische Umsetzung beobachtete, wurde Diesterweg zum lauten Kritiker dieses Systems. Allerdings ist zu erwähnen, dass Diesterweg vereinzelte Elemente auch weiterhin als positiv auffasste (vgl. ebd.).

Als kritisch empfand er, dass durch diese Form des Unterrichts- und Schulsystems das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern aus seiner so wichtigen und lebendigen Verhältnismäßigkeit gerissen werde, da der Lehrer nicht mehr erste Bezugsperson der Schüler sei und sie sich vornehmlich an den Monitoren orientieren würden. Des Weiteren erfolge durch den formalen Charakter, welchen ein solches Schulsystem durch seine ständige Erfolgskontrolle mit sich bringe, eine dem Prinzip der Selbsttätigkeit gegenläufige Struktur (vgl. ebd., 36). Zudem führe das System mit bis zu 13 Stufen zu „einer ständigen Unruhe in der Schule“ (ebd.), welche nur durch eine straffe Disziplin und strenge Handhabe gebändigt werden könne. Als zusätzlichen Kritikpunkt führte Diesterweg außerdem die negative Rückwirkung eines solchen Systems auf die Lehrerbildung an, welche doch mehr und mehr professionalisiert wurde (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass in dieser Zeit eine Vielzahl der Lehrer Theologen und Geistliche waren. Gerade die kirchlichen Schullehrer waren dem System der wechselseitigen Schuleinrichtung besonders zugewandt und stellten sich entschlossen gegen die Kritik Diesterwegs (vgl. Schröder 1978, 37). Dieser Zusammenhang der Kirche mit der wechselseitigen Schuleinrichtung soll uns auch im nachfolgenden Kapitel beschäftigen, in dem die Auseinandersetzung der Schule mit der Kirche nach Diesterwegs Vorstellungen erläutert wird.

4.2 Die Abwendung der Schule von der Kirche hin zum Staat

Die institutionelle Verankerung des Schulwesens fand im pädagogischen Denken Diesterwegs eine fast schon revolutionäre Veränderung. Mit der Forderung, „dass die Volksschulen organisatorisch und verwaltungsmäßig der Aufsicht der Kirchen entzogen“ (Groß 1966, 78) werden sollten, stieß er zur damaligen Zeit die geistliche Schulaufsicht regelrecht vor den Kopf. Er warf ihr vor, dass sie „die Entwicklung des Elementarschul- und Seminarwesen bremsen und anstelle von Bildung und Wissenschaft ihre orthodoxen Glaubenssätze und ihre pessimistische Anthropologie“ (Rupp 1989, 56) verbreiten wolle. Diese Abwendung der Schule von der Kirche ist allerdings nicht ganz so radikal vorangeschritten wie dies den Anschein haben mag. Deshalb soll zunächst die Chronologie dieser Abwendung dargestellt werden. Diesterweg sah die Schule zunächst eng verbunden mit der Kirche und dem Staat. „Eine Schule ist [...] die Vorbereitungsanstalt für das Leben im Staate und in der Kirche“ (Diesterweg 1820, 115) formuliert er im Jahre 1820. Zu dieser Zeit war Diesterweg stellvertretender Direktor an einer kirchlichen Schule in Elberfeld, welche dem Staat nicht unterlag (vgl. Rupp 1987, 136). Dieser Zusammenhang lässt auf die damalige positive Gesinnung gegenüber der Kirche schließen. Bezüglich der Schulaufsicht forderte er sogar, dass „weder der Staat noch die Kirche die Einrichtung und Aufsicht über die Schulen dem anderen allein überlassen“ (Diesterweg 1820, 116) dürfe. Allerdings versuchte Diesterweg, den institutionellen Einfluss des Faktors Staat auf die Schule zu erhöhen und voranzutreiben. Dabei stieß er bei der geistlichen Zunft auf wenig Gegenliebe (vgl. Rupp 1987, 137).

Zum Ende seiner Zeit in Elberfeld sah Diesterweg die Problematik der kirchlichen Schulaufsicht immer größer werden, da er selbst den „ständig zunehmenden Einfluss des mystischen Elements auf die Volksschule erfuhr“ (Groß 1966, 75). Der kirchliche Einfluss entsprach nicht dem Menschenbild Diesterwegs, da die geistlichen Schullehrer die Erbsünde des Menschen sowie dessen Heilsbedürftigkeit in den Vordergrund ihres pädagogischen Handelns stellten (vgl. ebd.).

Das Recht, die Aufsicht über die Schule zu führen sprach Diesterweg der Kirche zwar noch nicht vollends ab, er forderte jedoch, dass sich die geistlichen Schulmänner umfassend mit dem Schulwesen zu beschäftigen haben, um ein solches Amt würdevoll auszuüben. Mit dem Beginn des Industriezeitalters kamen der Bildung immer umfassendere Aufgaben zu. Für diese war die Geistlichkeit nach Diesterwegs Auffassung allerdings nicht mehr kompetent genug. Er bemängelte die unzureichende pädagogische Ausbildung der Theologen immer stärker. Verfügten die Geistlichen jedoch über die nötige Sachkenntnis, könnten sie den Posten der Schulaufsicht durchaus weiterführen (vgl. Groß 1966, 76).

Diese Ansicht revidierte Diesterweg jedoch zum einen aufgrund der Kritik an der wechselseitigen Schuleinrichtung, welche im vorherigen Teilkapitel behandelt und gerade von den geistlichen Lehrkräften gefördert wurde, zum anderen durch den Übergang von der kirchlichen Schule in Elberfeld hin zum staatlichen Lehrerseminar in Moers. Seine kritische Haltung gegenüber der Kirche kam dem Höhepunkt immer näher (vgl. ebd., 77). Er forderte zum ersten Mal in schlagfertiger Art und Weise, dass die Schulen „staatliche Einrichtungen werden müßten“ (ebd., 79). Er sah die „schulpolitischen Übergriffe orthodoxer Kirchenmänner“ (Rupp 1989, 56) als nicht mehr hinnehmbar an. Der Kirche sprach er zwar in einer zurückhaltenden Art und Weise den Dank zur Stiftung der Volksschule aus, allerdings formulierte er zugleich, dass die Schulen, solange sie sich unter der kirchlichen Trägerschaft befanden, in einem äußerst desolaten Zustand wären. Aus diesem Grund solle die Schule in die Obhut des Staates fallen (vgl. Groß 1966, 83). Dass Diesterweg sich von der Religion komplett abwendete ist jedoch keineswegs der Fall. Er sah weiterhin die religiöse Erziehung als einen Aufgabenbereich der Schule an. Allerdings formulierte er ihn als nur einen Bereich von mehreren (vgl. ebd.). Auf diesen Kontext wird in Kapitel 4.4.3 näher eingegangen.

Diesterwegs Ansichten lassen sich demnach so deuten, dass lediglich der Staat „ein berechtigtes Interesse an der Erziehung künftiger Staatsbürger, auf der Grundlage allgemeiner Menschenbildung“ (Enders 2002, 36) habe. Diese Ansicht wird deutlich in der Ausarbeitung einer umfassenden Forderung an das Schul- und Erziehungswesen, mit der Diesterweg im Jahre 1948 von der Preußischen Nationalversammlung als Teilhaber eines Gremiums beauftragt wurde (vgl. Groß 1966, 84). Dieses sieben Punkte umfassende Programm beginnt mit der Forderung „die Schule ist Staatsanstalt; sie ist von der Kirche unabhängig“ (Diesterweg 1848, 229). Mit diesem Programm gestaltete Diesterweg einen Rahmen in dem sich die Schule einzufinden hat. Diese und weitere inhaltliche Forderungen an die Schule werden im nächsten Kapitel weiter dargestellt.

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Details

Titel
Erziehung, Schule und Gesellschaft im pädagogischen Denken von Friedrich Adolph Diesterweg (1790-1866)
Hochschule
Universität Koblenz-Landau
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
55
Katalognummer
V354841
ISBN (eBook)
9783668409569
ISBN (Buch)
9783668409576
Dateigröße
588 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erziehung, schule, gesellschaft, diesterweg
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Dieter Andruchowicz (Autor:in), 2015, Erziehung, Schule und Gesellschaft im pädagogischen Denken von Friedrich Adolph Diesterweg (1790-1866), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354841

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