Benns kritische Haltung speziell dem Darwinismus gegenüber wird in der Forschungsliteratur vielfach problematisiert. Während Rübe aus der Darwin-kritischen Haltung ableitet, Benn sei schlecht unterrichtet gewesen, unterstellt Wellershoff dem Schriftsteller gar Obskurantismus. Die jüngere Forschung geht in dieser Frage differenzierter vor. Hahn, Müller-Seidel und Krichdörfer-Boßmann beleuchten den biologisch-historischen Hintergrund dieser Diskussion. Dabei wird deutlich: In der Opposition ist Benn nicht allein – er bezieht sich auf Entwicklungsbiologen seiner Zeit.
Doch wie sind die Schriften einzuordnen, die Benn dem „neuen Staat“, dem NS-Regime, zur Verfügung stellt? Wie lässt sich unter diesem Gesichtspunkt der Essay Züchtung (1933) lesen? Gibt Benn an der Stelle, wo seine „geistige Entäußerung […] die letzte Grenze [erreicht]“ auch seine entschiedene Ablehnung des Darwinismus zugunsten des Sozialdarwinismus auf? Diese Frage wird in der Benn-Forschung nur am Rande behandelt. Wellershof schreibt, dass Benn nicht mit sozialdarwinistischen Züchtungsprogrammen in Verbindung zu bringen sei, „bis auf den schauerlichen Essay Züchtung“. Was den wissenschaftlichen Darwinismus betrifft, so weist Gann darauf hin, dass der in Züchtung verwendete Mutations-Begriff sich nicht mit dem darwinistischen Entwicklungsprinzip zusammenbringen lässt. Diesen Gedanken möchte ich aufgreifen und weiterführen. Der folgende Aufsatz soll zeigen: Auch in Züchtung gibt Benn seine anti-darwinistische Haltung nicht auf.
Er bindet zwar seine Interpretation der geschichtlichen Vorgänge an zentrale Begriffe der darwinistischen Diskussion, auch äußert er sich positiv zu einer höchst fragwürdigen Eugenik – ein Bekenntnis zum Darwinismus lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten.
Dabei ist es zunächst nötig, den Begriff des Darwinismus in seiner wissenschaftlichen Form von seiner weltanschaulichen Steigerung zum Monismus und vom Sozialdarwinismus abzugrenzen. Im zweiten Schritt werden Benns Argumente gegen den Darwinismus aus gewählten Werken vor 1933 herausgearbeitet, um dann im dritten Schritt festzustellen, inwiefern sich diese in Züchtung widerspiegeln. Abschließend zeige ich auf, weshalb die Bennsche Züchtungsvision nicht mit der sozialdarwinistisch begründeten Eugenik des NS-Regimes kompatibel ist.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Hauptteil
- 1. Darwinismus
- 1.1 Darwinismus – ein wissenschaftliches Modell
- 1.2 Darwinismus in seiner weltanschaulichen Überhöhung
- 1.3 Sozialdarwinismus
- 1.4 Alternative Evolutionsmodelle
- 2. Benns Kritik am Darwinismus
- 2.1 Anfänge einer wissenschaftskritischen Haltung: Morgue, Ithaka
- 2.2 Das moderne Ich – Benns Bezug zu Hertwig und Meyer in der Widerlegung des Darwinismus
- 3. Der Essay Züchtung
- 3.1 Veröffentlichung, inhaltliche Struktur, Wirkung
- 3.2 Ein biologisches Geschichtsmodell
- 3.3 Der Anti-Darwinismus in Züchtung
- 3.4 Die Diskrepanz zu Züchtungsvisionen des NS-Regimes
- III. Abschließendes Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert Gottfried Benns Essay "Züchtung" (1933) und beleuchtet seine kritische Haltung gegenüber dem Darwinismus im Kontext seiner literarischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Evolutionslehre. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, inwiefern sich Benns Ablehnung des Darwinismus in "Züchtung" widerspiegelt und wie sich sein Verständnis von Züchtung von den sozialdarwinistischen Ideologien des NS-Regimes unterscheidet.
- Die Entwicklung des Darwinismus als wissenschaftliches Modell und dessen weltanschauliche Überhöhung
- Benns Kritik am Darwinismus und seine Auseinandersetzung mit alternativen Evolutionsmodellen
- Die Rolle des Mutations-Begriffs in Benns "Züchtung" und seine Verbindung zu biologischen Geschichtsmodellen
- Die Diskrepanz zwischen Benns Züchtungsvision und der sozialdarwinistischen Eugenik des NS-Regimes
- Die Einordnung von Benns "Züchtung" in den Kontext seiner literarischen und wissenschaftlichen Entwicklung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und erläutert die Relevanz von Benns kritischer Haltung gegenüber dem Darwinismus. Im Hauptteil wird zunächst der Darwinismus in seiner wissenschaftlichen und weltanschaulichen Form beleuchtet. Anschließend werden Benns Argumente gegen den Darwinismus aus seinen Werken vor 1933 herausgearbeitet. Der dritte Teil der Arbeit konzentriert sich auf den Essay "Züchtung" und analysiert dessen inhaltliche Struktur, die Rolle des Mutations-Begriffs und die Beziehung zu biologischen Geschichtsmodellen. Es wird auch untersucht, inwiefern sich Benns Züchtungsvision von der sozialdarwinistischen Eugenik des NS-Regimes unterscheidet. Die Arbeit endet mit einem abschließenden Resümee.
Schlüsselwörter
Darwinismus, Anti-Darwinismus, Evolution, Mutation, Züchtung, Sozialdarwinismus, Eugenik, Gottfried Benn, Literatur, Wissenschaft, Geschichte, NS-Regime, "Züchtung", "Morgue", "Ithaka", "Das moderne Ich".
- Arbeit zitieren
- Anonym (Autor:in), 2013, Zwischen Mutation und Führer. Anti-darwinistische Elemente in Gottfried Benns Essay "Züchtung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/355641