Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Gattungsproblematik
3. Amerikabild und Arbeitswelt
3. 1. Menschen und Hierarchie
3. 2. Technik und Räume
3. 3. Onkels Firma
3. 4. Hotel Occidental
3. 5. Unterschiede zwischen den Arbeitswelten
3. 6. Sozialkritik und soziale Verhältnisse
3. 7. Gerichtswelt, Tugenden und Werte
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
Abstract
HYBEN, Ľubomír: Das Amerikabild und die Darstellung der Arbeitswelt in Kafkas Roman „Der Verschollene“ [Seminararbeit]. Universität Wien. Philologischkulturwissenschaftliche Fakultät; Masterstudium Deutsche Philologie.
In der nachstehenden Seminararbeit beschäftige ich mich mit dem Bild Amerikas in Franz Kafkas unvollendeten Roman Der Verschollene. Der Zentralpunkt liegt in der Darstellung der Arbeitswelt und der Analyse von Motiven, die im Roman vorgeführt werden. Es werden zwei unterschiedliche Arbeitswelten, die Speditionsfirma des Onkels und das Hotel Occidental, verglichen. Des Weiteren werden auch amerikanische Werte und Tugenden unter die Lupe genommen. Es wird versucht die Frage zu beantworten, wie Kafka mit dem Amerikabild arbeitet und was durch seine Darstellung dem Leser vermittelt werden soll. Stichwörter: Mythos Amerika, Auswanderung, Amerikabild, Arbeitswelt, Hierarchie.
1. Vorwort
Die Auswanderung als literarisches Thema ist wohl so alt wie die Literatur selbst. Schon in zahlreichen Schriften der Antike und des Mittelalters werden verschiedene Genres mit der Instanz der Auswanderung thematisiert, z. B. die Auswanderung in das gelobte Land oder der Auszug aus Ägypten in der Bibel, Odysseus, Ödipus u. a. in der antiken griechischen Literatur, Laxdoela saga, Vínlandsagas, Grettis saga Ásmundarsonar, Yngvars saga víðförla, Orkneyinga saga in der skandinavischen Literatur oder zahlreiche Reiseberichte in der deutschen Mittelalterliteratur von Autoren wie Walther von der Vogelweise, Gottfried von Straßburg, Heinrich von Morungen und vielen anderen.
Das Thema der Migration ist daher nicht nur heute aktuell, sondern war in sämtlichen Zeitepochen allgegenwärtig, was sich auch im literarischen Schaffen zahlreicher Autoren der Weltliteratur widerspiegelt. Besonders im 19. Jahrhundert nahm die Welle der Auswanderung aus Europa zu. Die Gründe dafür waren unterschiedlich: Unzufriedenheit mit dem europäischen System, Armut, Kriege, Chancenlosigkeit und keine Perspektive für die Zukunft. Was die Europäer aber massiv in ein bestimmtes Land gelockt hat, was das maßgebende Motiv, das auch in der Literatur leicht zu finden ist - der Mythos Amerika. Mit diesem Thema beschäftigten sich zahlreiche europäische Autoren, unter ihnen auch Franz Kafka. Amerika als literarisches Thema beschäftigte Kafka schon länger vor der eigentlichen Entstehung des Romans Der Verschollene. In seinem Tagebuch schreibt er Folgendes: „Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb.“1 Bereits in dieser Aussage wird deutlich, dass Kafkas Intention ein Vergleich von den beiden Ländern bzw. Kontinenten sein wird. Kafka setzt sich kritisch mit der sozialen Situation auseinander, wobei sich hier die Frage stellt, was das Ziel dieser kritischen Auseinandersetzung ist. Ein Autor, der die Vereinigten Staaten nie selbst besuchte, müsste die Informationen für sein Werk entweder aus diversen Reiseberichten oder Briefen von Bekannten aus Amerika schöpfen. Diese Möglichkeit besteht tatsächlich, da Kafka Kontakte zu Personen in Amerika hatte, die ihm eventuell Informationen liefern konnten. Da es sich jedoch um keinen Reisebericht, sondern um einen Roman handelt, ist ein erheblicher Bestandteil dieses Romans bloße Erfindung und Phantasie Kafkas.
Diese Arbeit besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird auf die Gattungsproblematik eingegangen, indem der Begriff Bildungsroman im Zusammenhang mit dem Roman Der Verschollene näher erläutert wird. Kafkas Werk wird oft in vieler Hinsicht missverstanden und daher ist es in solchen Fällen notwendig, auf die Problematik der einzelnen Interpretationen einzugehen und diese womöglich auch zuzulassen. Hiermit geht es um zwei unterschiedliche Auslegungen des Romans und die damit verbundene Gattungszuordnung, die genauer analysiert werden soll. Die Intention dahinter ist, die Gründe für die jeweilige Gattungszuordnung zu analysieren.
Im zweiten Teil der Arbeit wird das Bild der Vereinigten Staaten analysiert. Bereits im ersten Teil der Arbeit wird die Arbeitswelt in Amerika erwähnt und im Zusammenhang mit der Gattungszuordnung herangeführt. Im zweiten Teil sollen die Arbeitswelt und die mit ihr zusammenhängenden Aspekte im Roman untersucht werden. Hierbei handelt es sich also um eine konkrete Analyse der Arbeitswelt, deren Hierarchie und Form und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft. Darüber hinaus werden auch die Figuren und ihr Handeln untersucht. Es soll erläutert werden, wie diese Gesellschaft im Kontrast zu derjenigen in Europa dargestellt wird, was an dieser Gesellschaft als positiv bzw. negativ wahrgenommen wird und welche Aspekte Kafka kritisch beurteilt. Letztendlich möchte ich die Frage beantworten, welche Auswirkungen diese „andere“ Arbeitswelt auf die alleinige Figur Karl Rossmanns hat und wie sie zu deuten sind.
2. Gattungsproblematik
Wenn man ein literarisches Werk einer einzigen Gattung zuordnen will, so tritt oft das Problem der konkreten Zuordnung auf, da nicht jedes Werk eindeutig zugeordnet werden kann. Die Ursache ist meistens die, dass im jeweiligen Werk unterschiedliche, mehreren Gattungen angehörende Merkmale vertreten sind. Dies ist auch bei Kafka der Fall. In der Forschungsliteratur wird der Roman oft als Bildungsroman eingestuft. Der Bildungsroman als Gattung wird zum ersten Mal von Friedrich von Blanckenburg in seinem 1774 erschienenen Beitrag Versuch über den Roman indirekt definiert.2 Er nennt die wichtigsten Merkmale dieser noch nicht erfundenen und ergründeten Gattung, doch beim Namen nennt er sie nicht. „Der Dorpater Ästhetikprofessor Karl Morgenstern (1770 -1852) wäre heute wohl vollständig vergessen, hätte er nicht dem Bildungsroman seinen Namen gegeben.“3 Eine weitere Persönlichkeit, die den Begriff des Bildungsromans geprägt hat, ist Wilhelm Dilthey: „Ich möchte die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen […], Bildungsromane nennen. Goethes Werk zeigt menschliche Ausbildung in verschiedenen Stufen, Gestalten, Lebensepochen.“4 Ein wichtiges Merkmal ist dabei der Bildungsweg des Helden im Werk. Bei Kafkas Der Verschollene bestehen Zweifel, ob es sich um einen eindeutig zuordenbaren Bildungsroman handelt.
Die Zweifel am Charakter des Bildungsromans beruhen auf mehreren Grundlagen. Der wesentliche Aspekt ist, dass im Roman zwar die Jugendjahre geschildert werden, doch es ist nur wenig aus Karl Rossmanns früherem Leben vorhanden. Der Leser erfährt, dass Karl eine junge Frau in seiner Heimat in andere Umstände gebracht hat und von seinen Eltern nach Amerika geschickt wurde. Der Titel kann als Anspielung gedeutet werden, dass die Frau mit Kind von einem „Verschollenen“ kein Unterhaltsgeld beanspruchen kann. Die Reise nach Amerika entpuppt sich hiermit als der erste Fehler des Helden, da er vor seiner Verantwortung flieht. Die neue Welt ist für die Hauptfigur eine neue Möglichkeit, auch ein neues Leben anfangen zu dürfen. In Anlehnung an Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre kommt man zum Schluss, dass diese Lehrjahre in der modernen Welt nichts anderes bedeuten, als weitere Kämpfe, an deren Ende sich der Held die Hörner abstößt, obwohl er vor Irrtümern und Rückschlägen nicht verschont bleibt.5 Als Vorbild dient dem jungen Helden Karl sein Onkel, durch dessen Erfolg auch Karls Illusion gestärkt wird, dass man sich mit ehrlicher Arbeit und Zielstrebigkeit nach oben ausarbeiten kann. Die Bildung des Helden und sein Lebensweg werden im Roman auf zweierlei Weisen geschildert: einerseits genießt Karl seines Onkels Unterstützung und die von ihm gewährte Bildung, andererseits ist die neue Welt um ihn herum eine Herausforderung, durch die er versucht, mit der neuen Welt klarzukommen und sich einzuleben. Die neue Kultur, die neue Lebensweise und auch die Arbeitswelt sind für den Protagonisten eine entgegengesetzte Welt im Hinblick darauf, was er bisher aus Europa kannte. Der Grund, warum dieser Roman zur Gattung Bildungsroman gezählt wird, ist auch ein anderer: „Ziel des Helden im klassischen Bildungsroman ist die Eingliederung in die Gesellschaft und der hbergang in ein tätiges Leben.“6 Dieses Merkmal ist im Roman vorhanden, obwohl die Kontinuität von Karls Handlung den Leser daran zweifeln lässt. Wohl deshalb wird er oft mehr als gesellschaftskritischer Roman abgestempelt. Da Karl nicht von solchen Persönlichkeiten umgeben ist, die zu seiner persönlichen Entwicklung beitragen könnten, ist sein Schicksal von deutlicher Individualität geprägt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum er in der neuen, für ihn unbekannten Welt des Individualismus immer wieder versagt. Alle Figuren samt Onkel sind ein Bestandteil dieser für ihn fremden Welt, die zugleich eine Art Arbeitswelt darstellt, in der Karl sich verläuft. „Die für den Helden eines Bildungsromans so entscheidende Auseinandersetzung mit der Welt wird somit im „Verschollenen“ zur Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt.“7 Da Karl sich jedoch in dieser Arbeitswelt nicht entwickeln kann, ist der Roman eine Sonderform des Bildungsromans.
3. Amerikabild und Arbeitswelt
Wenn man sich mit Kafkas Roman „Der Verschollene“ beschäftigt, stellt sich unter anderem auch die Frage, welche Art der Welt dem Leser durch diesen Roman vermittelt werden soll und wie viel Reales in dieser Welt steckt. Welche Bedeutung hat die Arbeitswelt und ihre Darstellung in diesem Roman und wie wird die äußere Welt dargestellt? Thalmann drückt sich äußerst skeptisch und abweisend zur sozialkritischen Interpretation aus. „Die endlosen Autoschlangen, der rasende Verkehr, die lächerlich übertriebenen Anstalten im Speditionsbetrieb und im Hotel“ sind laut Thalmann „keine hellsichtigen Enthüllungen, sondern ganz einfach Klischees.“8 Dem zufolge sei Kafkas Darstellung Amerikas eine pure hbertreibung und eine irreale Schilderung dessen, wovon Kafka nur schwer Kenntnis haben konnte. Man kann aber nicht ausschließen, dass Kafka Informationen über das Leben in Amerika hatte, da drei seiner Cousins nach Amerika auswanderten, nachdem sie mit ihren Familien in Konflikt geraten waren.9 Außerdem verwendete Kafka eine Vielzahl an authentischen Texten aus verschiedenen Berichten und Zeitschriften,10 weshalb der Roman auch authentische, reiseberichtähnliche Elemente enthält.
3. 1. Menschen und Hierarchien
Eines der am stärksten vertretenen Motive im Roman ist das Motiv der Ungerechtigkeit, was bereits im ersten Kapitel durch die Begegnung mit dem Heizer ersichtlich wird. Karl begegnet am Schiff einem Heizer, der zu Unrecht gekündigt wurde. Nach einem langen Gespräch mit dem Heizer setzt Karl sich für ihn ein und versucht ihm zu helfen. Nach einer Zeitlang begreift er die Zwecklosigkeit seines Handelns. An dieser Stelle wird Karl klar, dass die Arbeitswelt erbarmungslos hart ist und er gegen die Ungerechtigkeit nicht kämpfen kann. Die Moral hat in dieser Welt keinen hohen Stellenwert im Gegensatz zur Disziplin. In der Hierarchie ist der Heizer ganz unten und kann jederzeit ersetzt werden, weshalb das Humane in dieser Gesellschaft keinen Platz hat. Karl begreift es und ist zwar über die vermeintlich „bessere Welt“, die er sich in Amerika erhoffte, enttäuscht, schließt sich aber seinem Onkel an und folgt ihm. An dieser Stelle siegt die Disziplin über der Gerechtigkeit und der Moral in der Figur Karls.
Unmittelbar danach kommt das Schiff in New York an und Karl erblickt die Freiheitsstatue. Dieser Augenblick ist Kafkas Kunstgriff der Gegenüberstellung des Motivs der Freiheit einerseits und des Motivs der Gerechtigkeit andererseits. „Diese subjektive Sicht der Freiheitsstatue kann als Ausdruck der Hoffnungen eines sechzehnjährigen Einwanderers angesehen werden.“11 Bemerkenswert an der Freiheitsstatue ist, dass sie anstatt der Fackel ein Schwert in der Hand hält. Politzer interpretiert dieses Symbol folgendermaßen: „Das Schwert dieser Freiheit ist nicht gegen das soziale Unrecht gezückt, das der Kapitalismus Amerikas ausgebrütet hat. […] Es richtet sich gegen das Gewissen Karl Rossmanns.“12 Das Symbol des Schwertes ist aber auch als das Mittel zum Zweck zu interpretieren: man erreicht das Ziel nur dann, wenn man es sich erkämpft, wie es auch anhand der Figur des Onkels sichtbar ist.
Die Figur Karls zeichnet sich vom Alter her durch eine gewisse Naivität und Unschuld aus. Das bemerkt auch sein Onkel, der ihn vor den Gefahren in der neuen Welt warnt: „Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar […]“ und sagt „er selbst habe Neuankömmlinge, die […] statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, […] wie verlorene Schafe auf die Straße heruntergesehen hätten.“13 Durch diese Aussage vom Onkel wird Karl als ein Unschuldslamm dargestellt, das in der großen amerikanischen Welt ohne einen starken Begleiter verloren wäre. Das Motiv des verlorenen Schafes könnte an dieser Stelle auch als Anspielung auf das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn verstanden werden. Jedenfalls ist so eine Person sowohl in der Arbeitswelt als auch in der äußeren Welt auf den Schutz des Onkels angewiesen.
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1 Kafka, Franz: Tagebücher 1910 - 1923. Norderstedt: Books On Demand 2016, S. 41. 2
2 Vgl. Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 1994, S. 7.
3 Ebda, S. 9.
4 Dilthey, Wilhelm: Leben Schleiermachers. Erster Band/Erster Halbband. Hg. von Martin Redeker. Berlin: de Gruyter 1970, S. 299.
5 Vgl. Pütz, Jürgen: Kafkas „Verschollener“ - ein Bildungsroman? Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang 1983, S. 18.
6 Ebda, S. 29.
7 Ebda, S. 44.
8 Thalmann, Jörg: Wege zu Kafka. Stuttgart: Frauenfeld 1966, S. 108.
9 Vgl. Northey, Anthony: Kafkas Mischpoche. Berlin: Wagenbach 1988, S. 47-60.
10 Binder, Hartmut: Kafka. Der Schaffensprozeß. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 75-135.
11 Pütz, S. 45.
12 Politzer, Heinz: Franz Kafka. Der Künstler. Frankfurt/Main: S. Fischer 1965, S. 188.
13 Kafka: Der Verschollene, S. 56.