Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Bourdieus Theorie sozialer Ungleichheit - zentrale Aspekte
2.1 Habitus
2.2 Soziale Felder
2.3 Kapital
3 Illusion der Chancengleichheit
3.1 Bildungsexpansion
3.2 Chancengleichheit - Chancenungleichheit
3.3 Kulturelle Passung
3.4 PISA Studien und Bezüge zu Bourdieu
4 Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Dieökonomische und soziale Welt […] nimmt niemals, es sei denn in der Einbildung, bei außer Kraft gesetztem Realitätssinn, die Gestalt eines Universums von Möglichkeiten an, die jedem beliebigen Subjekt gleichermaßen offenstehen.“(Bourdieu 1981:180)
Bereits in den 1970er Jahren untersuchten Pierre Bourdieu und Jean- Claude Passeron den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen in Frankreich und fanden schon damals heraus, dass Chancengleichheit im Bildungssystem eine Illusion ist (Bourdieu/Passe- ron 1971).
Seither konnten verschiedenste Untersuchungen belegen, dass Bildungschancen nicht nur von den Leistungen und Fähigkeiten eines Einzelnen abhängen, sondern durch seinen sozialen Status bestimmt werden. Über die Ursachen und Mechanismen ungleicher Bildungs- chancen fehlt jedoch bisher eine umfassende und schlüssige Theorie (Geißler 2006).
In der vorliegenden Arbeit werden die theoretischen Annahmen Bourdieus zum Thema Chancengleichheit in der Bildung betrachtet. Es wird versucht anhand der wichtigsten Forschungsergebnisse aufzuzei- gen, wie Chancenungleichheiten im Bildungssystem entstehen.
Zunächst werden die zentralen, kulturtheoretischen Konzepte von Bourdieus Theorie, wie Habitus, Kapital und Feld, vorgestellt. Danach werden Erklärungsversuche für die Chancenungleichheit, basierend auf Bourdieus Konzept der kulturellen Reproduktion und seiner Illusion der Chancengleichheit dargestellt. Zuletzt wird anhand der PISA-Studie 2001 der Zusammenhang von Bildungschancen und sozialer Herkunft fokussiert und überprüft, ob Bourdieus Ansatz für eine plausible Erklä- rung der Bildungsungleichheiten herangezogen werden konnte. Abschließend wird dann festgehalten, wie Chancenungleichheiten entstehen und mit Bourdieu begründet werden können und was Gegen- stand einer an Bourdieu angelehnten lösungsorientierten Forschung sein kann.
2 Bourdieus Theorie sozialer Ungleichheit - zentrale Aspekte
2.1 Habitus
Der zentrale Begriff in Bourdieus Soziologie ist der Habitus. Er umfasst die Verhaltensweise des Einzelnen in der sozialen Umwelt sowie seine Wahrnehmung, seine Denk- und Bewertungsweisen, Einstellungen und Wertvorstellungen (vgl. Fuchs-Heinritz/König2011:107). Mit ihrem spezi- fischen Habitus nehmen die Menschen am sozialen Geschehen teil und bringen auch solches hervor. Dabei bewegt sich das Individuum nicht durch bewusste rationale Entscheidungen, persönliche Freiheit oder das Befolgen von Regeln in der sozialen Welt. Vielmehr ist es der Habitus, der Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster erzeugt, welche die soziale Wirklichkeit abbilden, ordnen und interpretieren. Der Habitus ist keine allgemeine Kategorie, sondern an eine spezifische soziale Lage gebunden. Er bildet die jeweiligen sozialen Merkmale der Akteure sichtbar nach außen hin ab und erhält sie. Bourdieu betont dabei, dass der Habitus das geschichtliche Ergebnis einer generatio- nenübergreifenden, individuell geprägten Praxis ist. Diese „inkorporierte Sozialität“ (Hillebrandt 2012:443) führt zu einem quasi aus der Geschichte heraus bestimmten Verhalten.
„Genau dies ist die Funktion des Begriffs Habitus: Er gibt dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, dass diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in der Praxis umsetzt.“ (Bourdieu 2001a:175)
Die an den Habitus geknüpften Handlungsweisen und Einstellungen erzeugen und erhalten sich selbst indem sie sich die passende soziale Umgebung suchen, in der eben diese Potentiale am besten zur Geltung kommen (vgl. Krais 1989:50f).
Das Habitus-Konzept erhält seine zentrale Bedeutung durch seine Zuweisung zu einer bestimmten Klassenposition. Die familiären, kultu- rellen und materiellen Dispositionen einer Familie bestimmen die Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten des dazugehörigen Individuums (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2011:113). Im weiteren Leben können sich diese Ressourcen zwar verändern, jedoch sind sie weitest- gehend durch die ursprünglichen Anlagen determiniert. Neue Handlungsweisen werden also nur sehr begrenzt zugelassen. „Der Habitus ist weder notwendigerweise angemessen noch notwendiger- weise kohärent.“ (Bourdieu 2001a:206)
Er kann als eine quasi „inkorporierte zweite Natur“ des sozialen Akteurs begriffen werden, der sich in Handlungs,- Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern in den Körper einschreibt und somit alle Facetten des menschlichen Daseins umfasst (Hillebrandt 2012:444). Das Äußere wird verinnerlicht und lagert sich im Habitus ein (Krais 1989:51). Ist das Entstehen des individuellen Habitus von einer bestimmten Klassenlage geprägt, so spricht Bourdieu von einem Klassen-Habitus. Hier stimmen Elemente des persönlichen Habitus mit denen der zugehörigen Klasse überein (ebd.).
„Der Habitus ist somit nicht nur Ausdruck und Resultat sozialer Ungleichheit, sondern reproduziert sie zugleich, in dem er als das Ergebnis der Geschichte sozialer Gruppen die Wirksamkeit zugrunde liegender Strukturen und Beziehungen bewahrt. Der Habitus prägt also die soziale Welt in einem spannungsvollen reziproken Gefüge und in einer Weise, dass sich die durch ihn geleiteten Handlungsweisen, Einstellungen und Bewertungen bestmöglich entfalten können“ (Rohlfs 2011:71).
2.2 Soziale Felder
Bourdieus Theorie sieht das Konzept des „sozialen Feldes“ als Pendant des Habitus-Begriffs vor. Ebenso wie der Habitus ist auch das Feld eine das Individuum strukturierende Struktur (Rohlfs 2011:72). Über die Prägung durch soziale Lage, Klasse oder Milieu wirkt das Feld auf das Verhalten des Individuums und kann somit in entgegengesetzter Weise als Ergänzung des Habitus wirken. Über das Feld wird den Einzelnen der Handlungs- und Möglichkeitsraum vorgegeben. Grundlegend ist hier, dass Bourdieu die soziale Welt über Relationen definiert und nicht über Interaktionen oder intersubjektive Beziehungen (Fuchs- Heinritz/König 2011). Relationen bilden ein Netz von Verbindungen zwischen unterschiedlichen Positionen. Diese Positionen sind definiert durch ihre aktuelle oder mögliche Verteilungsstruktur von Macht- oder Kapital. Die soziale Position eines Akteurs wird also anhand seiner jeweils spezifischen Stellung und seines verfügbaren Kapitals innerhalb der einzelnen Felder bestimmt (Bourdieu 1985:10).
Die Vermittlungsinstanz zwischen Habitus und Feld ist die soziale Praxis. „Die Erfahrung von sozialer Welt und die darin steckende Konstruktionsarbeit vollziehen sich wesentlich in der Praxis, jenseits expliziter Vorstellung und verbalem Ausdruck.“ (Bourdieu 1985:17) Durch die im Habitus ausgeformten Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster wird eine permanente soziale Konstruktionsarbeit geleistet, die dazu führt, dass die soziale Welt „so wie sie ist“ (ebd.) hingenommen wird.
Aus Bourdieus Sichtweise besteht zwischen Habitus und Feld „ein unauflösliches Komplementärverhältnis“ (Schwingel 2005:76). Er bezeichnet es als „Leib gewordene und Ding gewordene Geschichte“ (ebd.). Die Strukturen der sozialen Felder und die Habitus-Strukturen verbinden sich in den Praxisformen. Der Gesellschaftsbegriff wird laut Bourdieu damit aufgehoben, da dieser sich nun nicht über Gemeinsam- keiten, wie Kultur, Sprache oder Traditionen definiert. Vielmehr findet hier ein Zusammenspiel verschiedener, relativ autonomer Bereiche statt, die auch den Begriff Klassenlage obsolet machen. Die Stellung eines Individuums im sozialen Feld gibt eine präzisere Auskunft über die jeweilige Position als es durch eine Einteilung zu einer bestimmten sozialen Lage ermöglicht würde. Man unterscheidet sich also qua des gegebenen Habitus für ein Feld oder einen „Spiel-Raum“1. Dabei müssen sich die Spieler „für das, worum es geht, interessieren, müssen ein Engagement für den nach fachspezifischen Regeln vor sich gehen- den Wettkampf bzw. Konflikt mitbringen“ (Fuchs-Heinritz/König 2011:130): Dieser Glaube an den Sinn des Spiels erzeugt das Feld im eigentlichen Sinn und macht die doxa oder illusio2 des Feldes aus. Die spezifische illusio eines Feldes ist für Außenstehende meist unver- ständlich.
„Die Position, die jemand im sozialen Raum einnimmt, das heißt in der Distributionsstruktur der verschiedenen Kapitalsorten, die auch Waffen sind, bestimmt auch seine Vorstellungen von diesem Raum und die Positionen, die er in den Kämpfen um dessen Erhalt oder Veränderung bezieht.“ (Bourdieu 1998:26) Vorteile ergeben sich für jene, die direkt ins Feld hineingeboren werden, da Spielregeln und Gesetze ganz selbstverständlich bekannt sind. Diejenigen die nicht durch direkte Geburt in das jeweilige Feld kommen, haben erheblich Nachteile.
2.3 Kapital
Bourdieu definiert Kapital als „die Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit“ (Bourdieu 1983:183). Er unterscheidet zwischen ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital. Die Verfügung über Kapital bestimmt die soziale Praxis oder die „Handlungs- und Profitchancen“ (Schwingel 2005:85) in den verschiedenen Feldern und das Volumen des Kapitals die Position der sozialen Akteure (Hillebrandt 2012:441). Die Kapitalsorten geben dabei die Grenzen und damit auch die Möglichkeiten vor, wie und wie wirksam das zur Verfügung stehende Kapital in einem spezifischen Feld eingesetzt werden kann.
Das ökonomische Kapital setzt sich bei Bourdieu aus Geld, materiellen Gütern und Produktionsmitteln zusammen. Seine Hauptbedeutung liegt jedoch in der Transformierbarkeit, was bedeutet, dass damit kulturelles oder soziales Kapital erworben werden kann. Jedoch gibt es nicht nur die Möglichkeit einer direkten Umwandlung von ökonomischem Kapital in Güter oder Dienstleistungen, sondern auch mit Hilfe von Transforma
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1 Bourdieu hat aus einer Vorliebe für Vokabular aus dem Wettkampfbereich Felder auch als „autonome Sphären, in denen nach jeweils besonderen Regeln 'gespielt' wird“ definiert (Schwingel 2005:83).
2 doxa oder illusio ist das eingeschriebene Handeln oder Routine eines Feldes. Alle Zugehörigen eines Feldes stimmen stillschweigend der doxa zu (Fuchs-Heinritz/König 2011:131)