Unzuverlässiges Erzählen in "Welcome to Night Vale"

"We report only the real, the semi-real, and the verifiably unreal."


Hausarbeit, 2014

43 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Erzählform des Hörspiel
2.1 Entstehung
2.2 Erzähltheorie und Hörspiel

3. Unzuverläsiges Erzählen
3.1 Begriffsbestimmung
3.2 Signale für die Bestimmung von unreliable Narration nach Gaby Allrath

4. Analyse von Welcome to Night Vale
4.1 Umriss der Struktur
4.2 Unzuverlässiges Erzählen auf inhaltlicher Ebene
4.3 Unzuverlässiges Erzählen auf textueller Ebene

5. Schluss
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Transkriptionen
Episode 1 - Pilot
Episode 19A - The Sandstorm (Night Vale)
Episode 19B - The Sandstorm (Desert Bluffs)
Episode 55 - The University of What It Is

1. Einleitung

"We report only the real, the semi-real, and the verifiably unreal"[1]. Bei Welcome to Night Vale [2] handelt es sich um eine seit 2012 von Commonplace Books[3] produzierte Podcast-Serie. Inhalt ist eine fiktive Radiosendung "in the style of community updates for the small desert town of Night Vale"[4]. Die Rolle des Moderators und zugleich Erzählers 'Cecil Palmer' wird gesprochen von Cecil Baldwin, einem am 18. Februar 1979 geborenen, in New York lebenden Theaterschauspieler und -Regisseur. Die Autoren der Serie sind Joseph Fink und Jeffrey Cranor. Von Joseph Fink stammt die Idee zu Welcome to Night Vale. Er arbeitet in Brooklyn als Autor und Redakteur. Zu seinen Veröffentlichungen gehören What It Means To Be A Grown-Up (2012) und A Commonplace Book of the Weird: The Untold Stories of H. P. Lovecraft (2010)[5]. Sein Partner und zugleich Mit-Inhaber von Commonplace Books, Jeffrey Cranor, schreibt und führt Regie für verschiedene Theater und Künstlergruppen in New York, wie beispielsweise den 'New York Neo-Futurists', häufig in Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau, der Choreographin Jillian Sweeney. Zu Beginn hatte er außerdem Gastauftritte in Welcome to Night Vale als Stimme von 'Carlos, the Scientist', bevor die Rolle im Dezember 2013 übernommen wurde von Dylan Marron[6].

Seit der Pilotfolge vom 15. Juni 2012 erscheinen monatlich zwei Episoden von ungefähr 30 Minuten Länge. Diese werden auf verschiedenen Internet-Plattformen wie iTunes, Podbay, Soundcloud oder Feedburner veröffentlicht und kostenlos zum herunterladen angeboten. Finanziert wurde die Produktion zunächst ausschließlich aus Spenden von Zuhörern, auf Grund ihrer Beliebtheit inzwischen aber auch durch Merchandise-Artikel, Eintrittskarten für Live-Shows in größeren Städten und der Verkauf von Aufnahmen dieser Sondersendungen.

Neben der Podcast-Serie Welcome to Night Vale [7] steht im Zentrum der nachfolgenden Haus­arbeit auch der Theorieansatz hinsichtlich Unzuverlässiger Erzählweise von Gaby Allrath. Die Untersuchung verfolgt dabei zwei Leitfragen: Erstens ist es ihr Ziel, zu ermitteln, ob die Serie unzuverlässig erzählt und mit welchen Mitteln. Zweitens sollen die ermittelten Ergebnisse dahingehend kontextualisiert werden, welche verschiedenen Lesarten der vorhandene Stoff und sein Medium möglicherweise erlauben. Aus dieser Fragestellung ergibt sich die Gliederung der Arbeit: In einem ersten Schritt sollen anhand einschlägiger Einführungen die Medienspezifik der Erzählform 'Podcast' in der Nachfolge des klassischen Radiohörspiels rekonstruiert, also kurz seine Entstehung genannt (Kapitel 2.1) und durch einen Blick in neuere Forschungsliteratur seiner Verbin­dung zur literarischen Erzähltheorie erläutert werden (Kapitel 2.2). Es folgt in Kapitel 3 eine Einführung in die Theorie des Unzuverlässigen Erzählen. Kapitel 3.1 beinhaltet eine kurze Begriffsbestimmung von Unzuverlässigkeit und Kapitel 3.2 stellt zusammenfassend die zentralen Thesen von Gaby Allraths Aufsatz „But why will you say that I am mad?“. Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration [8] dar, nach dessen Kriterien der Stoff beispielhaft untersucht werden soll. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet die genaue Analyse der ausgewählten Serie hinsichtlich ihres Umgangs mit der Thematik (Kapitel 4): Hier sollen nacheinander möglichst genau untersucht bzw. bestimmt und beschrieben werden: der strukturelle Aufbau der Episoden (Kapitel 4.1) und eine genauere Betrachtung der möglichen unzuverlässigen Erzählweise, auf textueller (Kapitel 4.2) und auf inhaltlicher (Kapitel 4.3) Ebene. Den Schluss (Kapitel 5) bildet ein eine Zusammenfassung aller Ergebnisse durch die kurze Wiederholung und den Vergleich der wichtigsten Erkenntnisse. Dieser Vergleich gibt eine knappe Antwort auf die Frage, in wie weit der Stoff das literarische Motiv der Unzuverlässigkeit auch Medienübergreifend verwenden kann und präsentiert einen Entwurf, was für die Untersuchung von Unzuverlässigkeit in diesem Medium von Be­deutung sein könnte.

2. Die Erzählform des Hörspiel

2.1 Entstehung

Die Entstehung der Kunstgattung 'Hörspiel' ist zunächst zurückzuführen auf die Entste­hung des Rundfunks. Ursprünglich war dieser nicht zur Unterhaltung gedacht, sondern hatte als Möglichkeit, Nachrichten an viele Empfänger zu übermitteln, vor allem kommerzielle und militärische Funktion. Er bildete aber auch das Grundgerüst für die Ent­wicklung von künstlerischen Formen innerhalb dieses Mediums. In Deutschland ist dies auf die frühen 1920er Jahre anzusetzen. "Eines der ersten Experimente, die das Radio so­gleich anstellte, war das Experiment Kunst. Das Ergebnis wurde Hörspiel genannt"[9]. Dies wiederum geht zurück auf Hans S. von Heister, der die neue Gattung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der deutsche Rundfunk erstmals 1924 so bezeichnete[10]. Mit Benennungen wie "Sende- und Funkspiel, Hördrama, Hörbild, Radioplay usw."[11] wurde das Hörspiel in der Literatur verankert wurde. Das live gesendete 'Radio-Theater' gehörte zu den Anfängen dieser Experimente. Es verarbeitete lyrische, dramatische und epische Elemente in Verbindung mit Musik und Hintergrundgeräuschen. Später sollte es abgelöst werden durch "eine originale Rundfunkgemäße Literatur"[12] mit akustischen Mitteln.

In Großbritannien kam in den 1930- und 1940er Jahren die Erfahrung von Dramen für den durchschnittlichen Bürger eher vom Radio als von der Bühne. Trotzdem schreibt Peter Lewis, dass "to judge from the interest shown in radio drama [...] it might almost not exist"[13]. Mit dem Aufblühen von Science Fiction in den 1940er Jahren und dem 'Theatre of the Absurd'[14] 1950 bis 1960 änderte sich die Situation für das radio drama. "Suddenly, radio's major weakness, its failure to present a consistent reality, became a major strenght"[15].

Doch während in Deutschland und Großbritannien der Staatsrundfunk lange dem Anspruch gerecht werden musste "eine nationale Kultureinrichtung zu sein"[16], wollte das Radio in Amerika "aufgrund seiner Organisation aus einem Netz von privaten Sendern"[17] und deren Wettbewerb um Marktanteile in der Wirtschaft, seinem Publikum einfache Unterhaltung bieten. Dafür orientiere man sich an den Inhalten und Formen populärer Unterhaltungsme­dien, griff auf vorhandene Literatur zurück und präsentierte vor allem unterhaltende Dialoge daraus. "Das Duo wurde gleichsame die Urform der Radiounterhaltung"[18]. Es gab Kurzhörspielserien mit Gesang und Sketchen oder es wurden Seifen­opern gesendet, die sich an Hausfrauen richteten und in Anlehnung an die 'Domestic novel'[19] des 19. Jahrhundert geschrieben wurden. Solche 'Daily Soaps' wurden in Serie produziert und täglich zu einer festgelegten Zeit übertragen.

In Deutschland etablierte sich das serielle Hörspiel bei den öffentlich-rechtlichen Sende­anstalten erst nach dem Zweiten Weltkrieg[20] und der Begriff 'Serie' wird dabei wenig präzise verwendet. Das angelsächsische Radio unterscheidet dagegen zwischen 'serial', bei dem "Personen und Grundsituationen von Folge zu Folge gleich sind"[21] und getrennt von­einander existieren, und 'series', einer Geschichte in zukunftsorientierter Fortsetzung[22]. In der Gegenwart ist die Gattung des seriellen Hörspiels weiterhin lebendig und wird "in Unterhaltungsformaten des öffentlich-rechtlichen Hörfunk gerne eingesetzt"[23]. Dabei wer­den fortlaufend Versuche unternommen, "Kurzhörspielserien zu dynamisieren und für das Publikum, insbesondere das jüngere, interessanter und attraktiver zu machen"[24].

Das Radio allerdings nicht mehr die einzige Möglichkeit, auditive Erzählungen zu verbreiten. Auf Kassetten, CDs oder in digitaler Form können diese erworben, aber auch direkt in Internet von den Verantwortlichen verbreitet werden. Die Erscheinungsform ist dabei mitbestimmend, welches Publikum von der jeweiligen Serie angesprochen wird.

2.2 Erzähltheorie und Hörspiel

Erzähltheorie wird zumeist in Verbindung gebracht mit Literatur, vor allem dem Roman. Seine Ausdrucksmöglichkeiten und gattungsspezifischen Merkmale setzen dabei den Rah­men für den Erzählbegriff. In neuerer Zeit nehmen in der Forschung zum Erzählen aber auch andere Erzählmedien mit ihren eigenen medienspezifischen Leistungspotentialen ihren Platz ein. Die Transmedialität behandelt "das Narrative als formales Verstehens- und Kommunikationsmedium"[25] aller medialer Erscheinungsformen. Dazu gehören beispiels-weise der Comic, das Hörspiel, der Film oder die Hyperfiktion. Nicole Mahne sagt in ihrer Einführung in die transmediale Erzähltheorie, dass "das umfangreiche Analyseinstrumentarium der Erzählforschung [...] methodisch hauptsächlich an dem Untersuchungsobjekt Roman ausgerichtet"[26] wurde. Daraus ergeben sich Faktoren, die vom Roman festgelegt werden, aber auch relevant für die Betrachtung anderer narrativer Medienformen sein können. Bei einer solchen medienübergreifenden Betrachtung sind beispielsweise die Aspekte Fokalisierung und Zeitgestaltung von Bedeutung. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese "im Kontext des jeweiligen narrativen Mediums geprüft, überarbeitet und weiterentwickelt werden"[27] müssen. Für die Besprechung des Hörspiels führt Nicole Mahne daher auch an, dass "viele der sprachgebundenen Ausdrucksmöglichkeiten bereits am Beispiel des Romans zur Diskussion stehen"[28]. An Besonderheiten integriert das Hörspiel zum Beispiel "die medienspezifischen Möglichkeiten des akustischen Raums und damit auch die Gestaltungsoptionen der Erzählerrolle"[29] und die Stimme des Erzählers hat die Möglichkeit, Informationen zu übermitteln, "die in der Schriftsprache des Romans nicht enthalten sind"[30]. Aufgrund seiner Darstellungsform reguliert das Hörspiel außerdem die Rezeptionsreihenfolge. Allerdings ist das für diese Arbeit relevante narrative Hörspiel abzugrenzen "von reinen Klangkunstwerken ohne erzählerische Elemente"[31] und vom Hörbuch, bei dem durch das Vorlesen einer Textvorlage ein Medienwechsel vollzogen wird, ohne jedoch "die medialen Möglichkeiten des akustischen Raums zu berücksichtigen"[32]. Zu diesen Möglichkeiten gehören die Darstellung von Emotionen und Spannung durch Stimmlenkung, das Einbringen von Hintergrundgeräuschen, die Informationen hinsichtlich Umgebungssituation und Handlungsort transportieren oder das Einbringen von Musikelementen "als Übertragungsmarkierung, um einen Ortswechsel oder Zeitsprung anzukündigen"[33].

Dass die Präsenz eines Erzählers für das Hörspiel möglich ist, gehört zu den Parallelen zum Roman. Dieser "übernimmt die Generierung raum-zeitlicher Konstituenten der Geschichte, stellt das Figurenpersonal vor und beschreibt den Handlungsverlauf"[34]. Dabei kann zwar im Hörspiel im Gegensatz zum Roman "der Erzählertext auf kommunikativer Ebene auf mehrere Erzähler aufgeteilt"[35] werden oder auch durch den Einsatz mehrerer Sprecher die 'Einheit der Erzählerfigur'[36] bedroht sein, aber ebenso wie im literarischen Text hat er auch die Möglichkeit, sich zur Selbstreflexion oder für 'kommentierende oder allgemeine Überlegungen'[37] vom gegebenen Handlungsraum abzuwenden. Dass es sich bei dem Hörspiel um eine Gattung handelt, die trotz ihrer Darstellungsart mit literarischen Betrachtungen in Verbindung gebracht werden kann, bestätigt zusammenfassend auch das Metzler Lexikon Literatur. Dieses bezeichnet es als "eigenständige, durch den Rundfunk entstandene und an dieses Medium gebundene Lit.gattung"[38], welche sich durch "seine offen gehaltene, vielfältige Form"[39] auszeichnet.

3. Unzuverläsiges Erzählen

3.1 Begriffsbestimmung

Die klassische Definition von Unzuverlässigkeit stammt von Wayne C. Booth von 1961. Sie besagt: "I have called a narrator relia ble when he speaks for or acts accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author's norm), unreliable when he does not"[40]. Er führte das Konzept mit Rhetoric of Fiction in die moderne Literaturtheorie ein[41]. Als Bezugsgröße für die Bestimmung von Unzuverlässigkeit einer Erzählinstanz gilt üblicherweise der ebenfalls erstmals von Booth postulierte implied author[42]. In jüngerer Forschung ist das unzuverlässige Erzählen laut J. Alexander Bareis ausgezeichnet worden als "genuin fiktionsspezifische erzählerische Darstellungsform"[43]. Diese Auffassung wird von Monika Fludernik mit der Aussage unterstützt, dass dieser Effekt nur in fiktionalen Texten möglich ist, "because only in fiction do we assume there to be someone who writes another's (the narrator's) discours with the purpose of making fun of that person"[44].

Ein Faktor, mit dem die Kategorisierung von Unzuverlässigkeit zusammenhängt ist der Typus des Erzählers. Laut Greta Olson sind Erzählungen mit stark anthropomorphisierten Erzählern, also vor allem auto- und homodiegetisch erzählte Texte, von dieser Erzählstrategie betroffen[45]. Anonymes Erzählen, bei dem "eine geringe Mimesis des Erzählens gegeben ist, [kann] im Regelfall nicht so leicht als unzuverlässig charakterisiert werden"[46]. Martinez und Scheffel unterteilen in ihrem Theorieansatz außerdem zwischen drei Formen: Zunächst das 'Theoretisch unzuverlässige Erzählen'[47], für das sich Texte mit einem 'dramatisierten' oder intradiegetischen Erzähler eignen, "weil ein Erzähler, der als Figur an der erzählten Welt teilnimmt, gegenüber den anderen Figuren nach dem logischen System der literarischen Fiktion nicht privilegiert ist"[48]. Das 'mimetisch teilweise unzuverlässige Erzählen'[49] bezeichnet Erzähler, "bei denen nicht nur die theoretischen, sondern auch mimetische Sätze falsch oder zumindest irreführend sind"[50]. Zur Erklärung führen sie das Beispiel[51] eines extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählers an, dessen mimetische Sätze der Leser zunächst unzweifelhaft für wahr hält, bevor sie sich am Ende des Romans als intern-fokalisierte Phantasievorstellungen des Erzählers herausstellen. 'Mimetisch unentscheid-bares Erzählen'[52] nennen sie schließlich Fälle, "in denen es schlicht nicht mehr möglich ist, eine stabile fiktionale Welt anhand der Erzählerrede zu (re)konstruieren"[53].

Obwohl die literarische Forschung zum unzuverlässigen Erzählen umfangreich ist, besteht keine tatsächliche Einigkeit darüber, was genau 'unzuverlässiges' Erzählen ist, wie es "typologisch darzustellen und wie es zu definieren"[54] ist. Fludernik zielt auf die Intentionen des Autors selbst ab. Bei Booth sollten die Ausführungen abgeglichen werden mit der moralischen Größe und Instanz des 'implied author'. Nünning sprach sich dagegen aus und betonte, dass "allein die Wertvorstellungen des Lesers"[55] als Vergleichsgröße gelten sollen. Von Nünning stammt auch die Frage: "Unreliable, compared to what?"[56].

Insgesamt lässt sich sagen, dass es sich bei dieser Erzählstrategie nicht um ein "fiktionstheoretisch verankertes Merkmal fiktionaler Erzählungen"[57] handelt. Die Interpretation eines Textes als 'unzuverlässig' stellt vielmehr einen Vorgang dar, bei dem ein Rezipient sich nach pragmatischer Überlegung für diese fiktionale Rezeptionsweise entscheidet. Zentral ist dabei der Aspekt der 'Entscheidung' anstelle der 'Unterscheidung'[58].

3.2 Signale für die Bestimmung von unreliable Narration nach Gaby Allrath

Gaby Allrath versucht in ihrem Aufsatz „But why will you say that I am mad?“. Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration eine Antwort auf die Frage zu geben, warum ein Rezipient bestimmte Erzählinstanzen als unzuverlässig empfindet. Dabei behandelt sie Unzuverlässigkeit nicht als 'Eigenschaft' eines Textes oder Erzählers, sondern als Interpretationsstrategie des Lesers. Ziel des Aufsatzes ist es, einen systematischen Katalog von textuellen Signalen für Unzuverlässigkeit auf verschiedenen Kommunikationsebenen zu erstellen[59].

Innerhalb der vom Text erzählten Welt befasst sie sich zunächst mit der Perspektive der psychologischen Konstitution des 'mad monologist'. Dabei handelt es sich um eine als handelnde Figur immer subjektiv auftretende Person, deren Verhalten bestimmt wird durch "Kommunikationsunfähigkeit mit ihren Mitmenschen"[60], einer gestörten Beziehung zur Außenwelt und einem abgekapselten Leben als Außenseiter mit Sehnsucht nach Anerkennung. Diese Person kann sich zum Teil ihres normabweichenden Verhaltens bewusst sein, ist aber entweder "unsicher bezüglich eines adäquaten Verhaltens"[61] oder ausgestattet mit einem übersteigertem Selbstbild. Problematisch ist, dass das monoperspektivistische Erzählen die Informationen über die Perspektive anderer Figuren monopolisiert. Der Rezipient kann abgesehen von Dialoganteilen und Körpersprache der restlichen Personen also keine Informationen unabhängig von der Sicht des Erzählers erhalten.

Zeitliche, aber kaum moralische Distanz zwischen erzählendem 'Ich' und seinem an der Handlung teilnehmendem früheren 'Selbst', sowie die 'Häufung von interner Fokalisierung'[62] bei Vergangenheitsschilderungen sind weitere Hinweise darauf, dass es sich bei einer erzählenden Figur um einen mad monologist handeln könnte. Bei letzterem Merkmal versucht der Sprecher, seine Gefühle wie in der Vergangenheit erlebt wiederzugeben, verweist den Leser damit allerdings gleichzeitig auf "möglicherweise problematische retrospektive Sinnstiftung"[63]. Ebenso kann die 'Semantisierung des Raums', beispielsweise durch "die strikte Trennung von mehreren Lebensbereichen"[64], eine Aussage treffen über die psychologische Disposition der Erzählinstanz. Bei 'moralisch defizitären Erzählinstanzen' hängt eine Einordnung häufig von den Normalitätsvorstellung des Rezipienten ab, da es sich dabei um "intelligente und hochgradig perzeptive Sprecher [handelt], deren Werte- und Normensysteme weitgehend mit gängigen Vorstellungen von 'Normalität' übereinstimmen"[65]. Bei epistemologisch defizitären Instanzen, die den gängigen Vorstellungen von 'Verrücktheit' entsprechen, kann dagegen die psychologische Konstitution "von einer leichten Verwirrung bis hin zu einer als pathologisch zu bezeichnenden Einschränkung der Erkenntnisfähigkeit reichen"[66].

Auf Ebene erzählerischer Vermittlung kann der Erzähler durch bewusste Themenwahl, sowie 'explizite autoreferentielle Reflexionen'[67], den Fokus des Rezipienten beeinflussen. Die "Thematisierung der eigenen Verrücktheit"[68], sowie der Versuch, diese zu widerlegen zeugt zweifelhafte Glaubwürdigkeit, lenkt aber auch den Fokus auf dieses Thema. Bei Vergangenheitsschilderungen wird außerdem keine tatsächliche Rekonstruktion der vergangenen Ereignisse wiedergegeben, sondern eine gelenkte Vergangenheitskonstruktion. Neben der Thematisierung der eigenen Verrücktheit und der Reflexion des eigenen Erinnerungsvermögens gehören auch der Widerspruch eigener Aussagen, eine starke Ich-Fixierung und Digressionen zu den Hinweisen auf perspektivische Defizite. Ein letztes Beispiel für Signale auf erzählerischer Ebene ist die "Durchbrechung der konventionalisierten Muster, die dem Vortrag der Erzählinstanz zugrunde liegen"[69]. Dies trifft zu, wenn beispielsweise ein Erzähler schon zu Beginn eines Textes krankheitsbedingt nicht zu Äußerungen fähig ist, aber dennoch Erzählinhalte vermittelt werden oder ein homodiegetischer Erzähler Gedanken und Empfindungen einer anderen Person wiedergibt.

Linguistische Indikatoren liefern "Rückschlüsse auf die psychologische Konstitution des Erzählers"[70]. Unvollständige Satzfetzen und Häufung von Interjektionen verweisen auf hohe emotionale Involviertheit des Erzählers, Nervosität oder Unsicherheit hinsichtlich des Handlungsverlaufs. Die Verwendung von evaluierten Ausdrücken, "durch die ein Sprecher kommentiert und bewertet"[71] und die seine eigene emotionale Relation zum Beschriebenen deutlich machen, und das semantische Aufladen einzelner Wörter und Sätze als Projektionsfläche für Ängste und Wünsche lenken sprachlich die Aufmerksamkeit auf das gewünschte Thema. Euphemismen können außerdem als eine Form der Realitäts-verdrängung das problematische Werte- und Normensystem des Erzählers betonen. Dabei erfasst der Erzähler sein Handeln durch sprachliche Beschönigung auch gedanklich nicht. Ebenfalls ein Signal auf syntaktischer Ebene ist das Zurücktreten der Erzählinstanz bis zur Übernahme der Rezipientenrolle durch ein 'personifiziertes Stück Papier'[72], wie beispielsweise ein Tagebuch. Häufig spricht der mad monologi st auch den narratee an, um sich zu rechtfertigen. Bei diesem handelt es sich um einen fiktiven Leser, der "konstitutiver Bestandteil jedes narrativen Textes"[73] ist. Er wird dabei durch 'phatische Floskeln'[74], in den Erzählvorgang einbezogen. Die "Unterstellung von Fragen und Hypothesen sowie appellative Rück-versicherungen"[75] und Grußformeln zählen dazu. Oft wird diese Rolle des Ansprech-partners von einem Sozialarbeiter oder Therapeuten übernommen, dessen Perspektive aus den Reaktionen des Erzählers zu erschließen sind, aber auch weitere Einsicht in den 'ver-rückten Monologisten' geben.

Zuletzt schildert Allrath die möglichen Signale auf Ebene der strukturellen Relationen. Multiperspektivisches Erzählen ist dabei ein entscheidender Faktor. Perspektiven werden kontrastierend dargestellt, die Kommunikation der Figuren scheitert und als Folge des Fehlens einer über- oder gleichgeordneten Senderinstanz ist der Rezipient gezwungen, die Übereinstimmungen zwischen den Wirklichkeitsmodellen selbst zu konstruieren. Wiederholungen und die gewählte Anordnung der Erzählung betonen "eventuelle Defizite einer Perspektive zusätzlich"[76], während die Reihenfolge, in der bestimmte Informationen eingeführt werden, Einfluss auf die Sympathie und Aufmerksamkeit eines Lesers haben können. Am Anfang stehende Informationen bilden beispielsweise "die Basis für die Zuordnung von Referenzrahmen und damit für das (zumindest vorläufige) Verständnis des Textes"[77]. Durch Metatextuelle Vorinformationen wie Titel, Mottos, Kapitelüberschriften, Vor- und Nachwort werden Rezipienten schon vor Beginn der Lektüre auf für die Handlung zentrale Figuren oder Themen hingewiesen. Diese Signale sind zu unterscheiden in unmittelbar, also ohne Kontext verständlich, oder mittelbar, wenn sie "erst durch die Lektüre des Gesamten Textes mit Bedeutung aufgeladen werden"[78]. Mottos können außerdem von sich aus auf die verzerrte Perspektive des Protagonisten hinweisen oder auch "erst durch intertextuelle Referenz auf andere, meist ebenfalls vom 'verrückten Monologisten' erzählte literarische Werke an Bedeutung gewinnen"[79]. Durch intertextuelle Einzeltext- und Systemreferenzen können außerdem Bezüge hergestellt werden auf einzelne Prätexte, Gattungen, "einzelne Elemente der erzählten Welt wie den Namen des Protagonisten"[80] oder die Gesamtstruktur des Textes.

Zusammenfassend stellt Gaby Allrath fest, dass es auf allen intertextuellen Kommunikationsebenen Signale gibt, auf denen die Projektion von unreliable narration beruhen kann, aber erst die Häufung dieser Signale im Text eine solche Interpretation hinreichend begründen, wenn die einzelnen Signalisierungsmöglichkeiten sich gegenseitig verstärken und überlagern. Die Antwort von Poes Erzähler auf die Frage „But why will you say that I am mad?“ kann allerdings nur von jedem Rezipienten selbst gegeben werden, da die "Festlegung eines spezifischen 'Normalität' determinierenden Erfahrungs- und Wissenshintergrunds bedarf, vor dem ein Monologist als 'normal' oder 'verrückt' eingestuft werden kann"[81]. Die Parameter für reliable oder unreliable werden daher von jedem Leser individuell festgelegt.

[...]


[1] Welcome to Night Vale: Episode 23.

[2] Die Serie wird nachfolgend mit dem Kürzel 'NV' versehen und zitiert nach den Transkriptionen von Google Drive: Welcome to Night Vale Transcripts. https://drive.google.com/folderview?id=0BzHmbPv95-KpybW5mcXJBLUdSaHc&usp=sharing (Stand: 07.12.2014). Die angegebenen Seitenzahlen entsprechen den Seiten der Transkriptionen, die im Anhang dieser Arbeit zu finden sind.

[3] Fink, Joseph; Cranor, Jeffrey: Commonplace Books. http://commonplacebooks.com/ (Stand: 07.12.2014).

[4] Fink, Cranor: Commonplace Books. Night Vale. About.

[5] vgl. Welcome to Night Vale Wiki. External Links. http://nightvale.wikia.com/wiki/Welcome_to_Night_Vale

_Wiki (Stand: 07.12.2014).

[6] vgl. Welcome to Night Vale Wiki. External Links.

[7] Die Arbeit behandelt die Ereignisse der Serie von Episode 1: Pilot, erschienen am 15.06.2012, bis Episode 55: The University of What It Is, erschienen am 01.10.2014.

[8] Der Aufsatz wird nachfolgend mit dem Kürzel 'Allrath: Textuelle Signale' versehen und zitiert nach der Ausgabe: Arrath, Gaby: "But why will you say that I am mad?" Textuelle Signale für die Ermittlung von unrelible narration. In: Ansgar Nünning (Hg): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, S. 59-79.

[9] Schöning, Klaus: Akustische Literatur: Gegenstand der Literaturwissenschaft? In: Rundfunk und Fernsehen, Nr. 4, 27. Jg., Hamburg: Hans Bredow Verlag 1979, S. 464.

[10] vgl. Menger, Klaus: Kurzhörspielserien. Fallstudien zur radiophonen Unterhaltungsliteratur. Diss. München: Fern-Universität Hagen 2003, S. 1.

[11] Menger: Kurzhörspielserien. S. 1.

[12] Ebd.

[13] Lewis, Peter (Hg.): Radio drama. London; New York: Longman Group Limited 1981, S. 2.

[14] vgl. Gray, Frances: The nature of radio drama. In: Peter Lewis (Hg.): Radio drama. London; New York: Longman Group Limited 1981, S. 56.

[15] Gray: The nature of radio drama. S. 56.

[16] Menger: Kurzhörspielserien. S. 15.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] "Serien von Frauenromanen, die in den USA verbreitet waren. Sie waren hauptsächlich in Dialogform geschrieben. spielten in häuslichen Milieus, handelten meist von weiblichen Figuren, die ein neues Bilder der eigenverantwortlichen und sozial engagierten Frau entwarfen [...]". Menger: Kurzhörspielserien. S. 16.

[20] vgl. Menger: Kurzhörspielserien. S. 17.

[21] Menger: Kurzhörspielserien. S. 25.

[22] vgl. Menger: Kurzhörspielserien. S. 25.

[23] Menger: Kurzhörspielserien. S. 23.

[24] Ebd.

[25] Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG 2007, S. 9.

[26] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 10.

[27] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 10.

[28] Ebd.

[29] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 127.

[30] Ebd.

[31] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 104.

[32] Ebd.

[33] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 107.

[34] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 104.

[35] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 105.

[36] vgl. Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 105.

[37] Mahne: Transmediale Erzähltheorie. S. 105.

[38] Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moennighoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. Aufl. Stuttgart: Metzler 2007, S. 328.

[39] Ebd.

[40] Allrath: Textuelle Signale. S. 59.

[41] vgl. Bareis, J. Alexander: Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe. Göteburg: Acta Universitatis Gothoburgensis 2008, S. 172.

[42] vgl. Allrath: Textuelle Signale. S. 59.

[43] Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 172.

[44] Fludernik, Monika: Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations. In: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH 2001, S. 100.

[45] vgl. Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 173.

[46] Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 175.

[47] vgl. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie. S. 101.

[48] Martinez,Scheffel: Erzähltheorie. S. 101.

[49] vgl. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie. S. 102.

[50] Martinez,Scheffel: Erzähltheorie. S. 102.

[51] Leo Perutz: Zwischen neun und neun (1918).

[52] vgl. Martinez, Scheffel: Erzähltheorie. S. 103.

[53] Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 177.

[54] Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 176.

[55] Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 172.

[56] vgl. Nünning, Ansgar: Unreliable, Compared to what? Towards a Cognitive Theory of Unreliable Narration: Prolegomena and Hypotheses. In: Walter Grünzweig; Andreas Solbach (Hg.): Grenz-überschreitungen: Narratologie im Kontext/Transcending Boundaries: Narratology in Context. Tübingen: Narr 1999, S. 53-73.

[57] Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 188.

[58] vgl. Bareis: Fiktionales Erzählen. S. 188.

[59] vgl. Allrath: Textuelle Signale. S. 60.

[60] Allrath: Textuelle Signale. S. 62.

[61] Allrath: Textuelle Signale. S. 63.

[62] vgl. Allrath: Textuelle Signale. S. 65.

[63] Ebd.

[64] Allrath: Textuelle Signale. S. 64.

[65] Ebd.

[66] Allrath: Textuelle Signale. S. 64.

[67] vgl. Allrath: Textuelle Signale. S. 68.

[68] Allrath: Textuelle Signale. S. 67.

[69] Allrath: Textuelle Signale. S. 68.

[70] Allrath: Textuelle Signale. S. 70.

[71] Ebd.

[72] vgl. Allrath: Textuelle Signale. S. 72.

[73] Allrath: Textuelle Signale. S. 71.

[74] vgl. Allrath: Textuelle Signale. S. 71-72.

[75] Allrath: Textuelle Signale. S. 72.

[76] Allrath: Textuelle Signale. S. 74.

[77] Allrath: Textuelle Signale. S. 75.

[78] Ebd.

[79] Allrath: Textuelle Signale. S. 76.

[80] Allrath: Textuelle Signale. S. 77.

[81] Allrath: Textuelle Signale. S. 78.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Unzuverlässiges Erzählen in "Welcome to Night Vale"
Untertitel
"We report only the real, the semi-real, and the verifiably unreal."
Hochschule
Universität des Saarlandes
Veranstaltung
Proseminar Unzuverlässiges Erzählen
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
43
Katalognummer
V356869
ISBN (eBook)
9783668417243
ISBN (Buch)
9783668417250
Dateigröße
637 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
WTNV, Welcome to Night Vale, Unzuverlässiges Erzählen, Narration, Unzuverlässigkeit, Hörspiel, Transmediale Erzähltheorie, Podcast, Webseries, Gaby Allrath, unreliable narration, Erzähltheorie
Arbeit zitieren
Jenny Spanier (Autor:in), 2014, Unzuverlässiges Erzählen in "Welcome to Night Vale", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/356869

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