Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Nivellierung von Freiheit in der Kausalität
2.1. Roths Verständnis von Freiheit
2.2. Autonomie und Determinismus
3. Von der Idee der Freiheit zur Freiheit im Handeln
3.1. Empirische Welt und Verstandeswelt
3.2. Vernunft und Freiheit
3.3. Handeln aus Freiheit
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Hirnforschung konnte durch den technischen Fortschritt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Vorgänge innerhalb des Gehirns immer genauer beobachten. So ließen sich beispielsweise mit der in den 1980er Jahren entwickelten Magnetresonanztomographie erstmals Aktivitäten verschiedener Hirnareale und deren Veränderung unter bestimmten Umständen beobachten. Diese Beschreibbarkeit von Vorgängen im Gehirn bis auf Ebene der Neuronen veranlasste einige Neurowissenschaftler sich auch Fragen zuzuwenden, die bisher als Domäne der Philosophie oder Theologie galten, allen voran, der nach der Freiheit des Willens. So unternahm der Physiologe Benjamin Libet 1979 ein Experiment mit dem er die Existenz eines freien Willens anhand neuronaler Aktivitäten nachweisen wollte. Dies führte jedoch zu einem Ergebnis, das nicht in seinem Sinne war. Seitdem gilt dieses Experiment als der empirische Nachweis für die naturkausale Determiniertheit des menschlichen Willens.
Auch wenn dies nicht von allen Neurowissenschaftlern in dieser Konsequenz unterstützt wird, so vertreten doch einzelne Forscher an exponierter Stelle eine solche Position. Zu nennen sind hier vor allem Wolf Singer, der mit seinem in der FAZ erschienen Artikel „Keiner kann anders als er ist“ eine streng deterministische Position einnahm.[1] Ebenso vertrat dies Ansicht Gerhard Roth in einem Interview mit der ZEIT, sowie in zahlreichen Fachartikeln und populärwissenschaftlichen Publikationen.[2] Es handelt sich bei diesem naturkausal verstandenen Determinismus zwar nicht unbedingt um eine weit verbreitete Position. Dennoch drängt sie in die öffentliche und fachliche Wahrnehmung und sollte daher beachtet werden. Zumal eine tatsächliche Wiederlegung des freien Willens für die Philosophie äußerst folgenschwer wäre, nicht zuletzt für Immanuel Kants, in dessen Denken die Freiheit eine zentrale Position einnimmt.
Daher soll im Folgenden überprüft werden, ob die These einer Nichtexistenz des freien Willens wegen der vollständigen naturkausalen Determiniertheit des Menschen Kants Konzeption eines Handelns aus Freiheit trifft. Hierzu werde ich zeigen, wie die bei Kant metaphysisch verankert Freiheit sich im Handeln realisieren und damit in der empirischen Welt real werden soll. Dabei werde ich mich in erster Linie auf die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ stützen. Um dies in einem dem Umfang der Arbeit angemessenen Rahmen zu bewerkstelligen werde ich dabei exemplarisch vorgehen und auf Seiten der Hirnforschung ausschließlich die Positionen Gerhard Roths betrachten.
2. Die Nivellierung von Freiheit in der Kausalität
2.1. Roths Verständnis von Freiheit
Hier soll Roths Ansatz dargestellt werden, Willensfreiheit zu widerlegen sowie das Verständnis von Freiheit, welches daraus resultiert problematisiert werden.
Gerhard Roths Freiheitsbegriff leitet sich von seinem streng materialistischen Weltbild ab, demzufolge jede Form von Geistigkeit eine individuelle Ausprägung des Ichbewusstseins ist, also der Wahrnehmung des Wollens und Erinnerns etc. Da diese Phänomene naturwissenschaftlich beschreibbar sind, betrachtet er „den Geist“ als einen rein empirischen Gegenstand, der experimentell erforscht werden könne und zwar ausgehend von seinem „Substrat“, dem Gehirn.[3] Gesetzmäßigkeiten des Geistes seien somit identisch mit den ihnen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten der neuronalen Prozesse.[4] Einen wesensmäßigen Dualismus zwischen Gehirn und Geist verwirft Roth dementsprechend, da dies dem naturwissenschaftlichen Denken widersprechen würde.[5] Statt dessen betont er, dass geistige Prozesse, da sie der Naturkausalität unterlägen, auch deren Gesetzen gehorchen müssen. Als Versuch Wirkursachen jenseits dieser Kausalität festzustellen, führt er das Libet Experiment an. Hierbei wird das zeitliche Verhältnis zwischen dem Auftreten eines Aktionspotentials im Gehirn der Probanden und deren subjektivem Empfinden eine bestimmte Entscheidung getroffen zu haben, gemessen. Dabei ging das Aktionspotential der Empfindung sich entschieden zu haben ca. 550 Millisekunden voraus. Hieraus folgert Roth, dass ein freier Wille nicht existiert, sondern dieser eine Illusion sei, der für die Konstitution des Bewusstseins notwendig ist, um sich als Subjekt seiner Handlungen zu begreifen.[6] Die Willensfreiheit, die Roth zuvor als ein nicht verursachtes Wollen unter der Bedingung tatsächlicher Alternativen definiert, lässt sich in diesem Experiment freilich nicht ausfindig machen. Denn wie Christine Zunke bemerkt, wird Freiheit hier als eine der Kausalität enthobene Ursache verstanden, was den Naturgesetzen widerspricht und folglich nicht experimentell ermittelt werden könne.[7] Auch wenn die so verstandene Freiheit im Experiment hätte nachgewiesen werden können, wäre sie letztlich auch in den Kausalzusammenhang der Natur eingegliedert worden und somit kein autonomer Beweggrund.[8] Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem an Roths Freiheitsbegriff. Denn er erkennt unter Verweis auf Kant zwar an, dass Freiheit im metaphysischen Sinne nicht empirisch ermittelbar ist, verlangt aber dennoch den Nachweis über deren kausales Eingreifen in den Naturprozess.[9] So steht von vornherein fest, dass Roth die Willensfreiheit, deren Existenz er widerlegen will, nicht finden kann. Denn die „Lücke in der Kausalität“ in der Gerhard Roth zufolge der freie Wille eingreifen könnte, kann es in einer kausal geschlossenen Welt nicht geben.
2.2. Autonomie und Determinismus
In diesem Kapitel sollen Roths Begriff von der Determination des Handelns und seinem Konzept der Handlungsorganisation erläutert werden.
Dass die Welt nach Naturgesetzen bestimmbar und damit kausal geschlossen ist, sieht Roth seit der Newtonschen Physik als erwiesen an, zumal sich im 19. Jahrhundert die Erkenntnis durchsetzte, dass für belebte wie unbelebte Materie die gleichen chemischen und physikalischen Gesetze gelten.[10] Dies wird auch nicht durch chaostheoretische Forschungen und unvorhersagbare Phänomen der Quantenphysik beeinträchtigt, da sich auch diese in einem mathematisch beschreibbaren System abspielen. Hieraus folgert Roth jedoch keinen strikten Determinismus, da dieser sich nicht einzig aus der Berechenbarkeit der Vorgänge ableiten lasse.[11] Die Frage nach der Determiniertheit von Naturvorgängen verliert für ihn daher an Bedeutung:
Letztlich können wir die Frage, ob das menschliche Gehirn deterministisch arbeitet oder nicht, im Zusammenhang mit der Frage, nach der Willensfreiheit getrost bei Seite legen, sofern es uns nicht gelingt, nachzuweisen, dass die Nichtvorhersagbarkeit des menschlichen Gehirns und des von ihm hervorgebrachten Verhaltens auf tatsächlich indeterministische Prozesse im Gehirn zurückzuführen ist (…) und der freie Wille hier lenkend eingreift.“ [12]
Auch wenn die Prozesse im Gehirn als nicht determiniert angesehen werden, so betrachtet Roth doch das menschliche Handeln als in diesen Prozessen determiniert. Hier führt sein Materialismus erneut zu einem Widerspruch, da er einen freien Willen nur außerhalb der Naturkausalität verorten kann, der trotzdem auf diese einwirken soll. Daher stellt er der Willensfreiheit den Begriff der Autonomie gegenüber. Diese definiert er als die Fähigkeit zur innengeleiteten Handlung, die erfahrungsgestützt sei und daher die Beurteilung komplexer Situationen erlaube. Diese Eigenschaft sei evolutionär bedingt und diene dem Überleben in einer natürlichen und sozialen Umwelt. Ein freier Wille wäre dagegen das Handeln wider die im Hirn abrufbaren Erfahrungen und da diese auch das Ergebnis der Sozialisation sind, sozial unverträglich. [13]
Roths Ansatz die Bedingungen für Bewusstsein und Handeln einzig in der Deutung neuronaler Prozesse zu suchen, führt der Methode entsprechend zu rein empirischen Ergebnissen. So hat das was er mit Autonomie bezeichnet zwar nichts mit Autonomie im Sinne Kants gemein, ist jedoch ein empirisch konsistentes Ergebnis.Wo er aber versucht metaphysische Begriffe empirisch zu widerlegen, treten Widersprüche auf, auch wenn das erwartbare Ergebnis erzielt wird.
3. Von der Idee der Freiheit zur Freiheit im Handeln
3.1. Empirische Welt und Verstandeswelt
An dieser Stelle wird Kants Vorstellung von der sinnlichen und der Verstandeswelt und deren Verknüpfung dargelegt.
Für Kants Moralphilosophie ist entscheidend, dass der Mensch zwei Welten angehört. Dies ist zunächst die materielle Welt, die sinnlich erfahrbar ist und den Gesetzen der Kausalität unterliegt. Sie ist uns zwar nur über die indirekt vermittelten Sinneseindrücke zugänglich, trotzdem können nur anhand dieser „Erscheinungen“ Erkenntnisse erlangt werden.[14] Um zu solchen Erkenntnissen zu gelangen müssen wir jedoch auf die Verstandeswelt zurückgreifen, da sich aus Erfahrungen keine Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen. Zunke führt hier als Beispiel die Gravitation an: Erfahrbar sei nur die Beobachtung fallender Körper. Hieraus ein Naturgesetz abzuleiten dagegen eine Leistung des Verstandes, der die Beobachtungen unter der Kategorie der Kausalität verknüpft und somit die Bedingung der Erkenntnis ist.[15] Daraus folgt für Kant eine grundlegende Beschränktheit der Erkenntnis. Denn da wir alles Gegenständliche nur affiziert wahrnehmen, können „die Dinge an sich“ auch unter größter Verstandesleistung nie erkannt werden.[16] Da uns die Sinnlichkeit nur Eindrücke liefert, ist uns die Natur nur durch den Verstand zugänglich. Sie beweist jedoch ihre Gesetzmäßigkeit in der Empirie.[17] Dies gilt auch für die eigene Person, die einem selbst ebenfalls in Form von Erscheinungen gegenüber tritt. Der Mensch gehört nach Kant insofern zur intellektuellen Welt, als er Nichtaffiziertes in seinem Bewusstsein hat, das auf sein „Ich an sich“ verweist.[18] Ein solches Nichtaffiziertes wäre beispielsweise die Kategorie der Kausalität, die vor der Erfahrung steht und diese bedingt.
3.2. Vernunft und Freiheit
Kants Ansatz, Freiheit ausschließlich in der intelligiblen Welt zu verorten soll hier erklärt werden.
Auf der Seite der intelligiblen Welt sieht Kant dem Verstand die Vernunft vorangestellt: Denn der Verstand erzeugt Kategorien, welche zwar nicht affiziert, aber dennoch in der sinnlichen Welt enthalten sind, die Vernunft dagegen produziert Ideen aus sich selbst heraus, die in der empirischen Welt nicht zu finden seien. Dabei ist die Idee der Freiheit die für das vernünftige Handeln maßgebliche, da sie in der „Sinnenwelt“ nicht vorkommt und so die Zugehörigkeit des Menschen zur Verstandeswelt kennzeichnet.[19] Diese Freiheit muss jedoch transzendent verankert sein. Denn wie Kant in der dritten Antinomie der „Kritik der reinen Vernunft“ ausführt, kann die kausal geschlossene Welt nicht eine endlose Kette von Ursache und Wirkung sein, da sie dann nicht mehr geschlossen wäre und muss somit einen Ursprung haben. Also einen unbewegten Beweger, bzw. ein „Handeln aus Freiheit“, welches Kausalketten in Gang setzt. Dies wiederum ist mit dem Kausalitätsgesetz nicht vereinbar. Dieser Widerspruch ist aufzulösen in dem die empirische Welt als der Kausalität unterworfen betrachtet wird, die Freiheit dagegen als eine metaphysische. Letztere ist für uns aber vorstellbar, also eine Idee der Vernunft.[20] Die Notwendigkeit zur Transzendenz der Freiheit unterstreicht Kant in der Anmerkung zur dritten Antinomie:
„Denn es läßt sich neben einem solchen gesetzlosen Vermögen der Freiheit, kaum mehr Natur denken; weil die Gesetze der letzteren durch die Einflüsse der ersteren unaufhörlich abgeändert, und das Spiel der Erscheinungen, welches nach der bloßen Natur regelmäßig und gleichförmig sein würde, dadurch verwirrt und unzusammenhängend gemacht wird.“ [21]
Wäre die Idee der Freiheit also in der sinnlichen Welt auffindbar, würde diese nicht mehr nach Naturgesetzen bestehen. Somit wären auch keine Erkenntnisse über die Natur möglich. Der hier vertretene Kompatibilismus von Freiheit und Determiniertheit ist also nur durch die strikte Trennung zwischen empirischer und intelligibler Welt möglich. Daher ist der Ansatz Gerhard Roths, bzw. der Ansatz des Libet Experiments, Freiheit innerhalb der Kausalität zu suchen, widersinnig. Denn wäre dies möglich, würde die empirische Forschung die Naturgesetzlichkeit selbst und damit ihre eigene Grundlage widerlegen.
[...]
[1] SINGER, Wolf, Keiner kann anders als er ist, in: Frankfurter Allgemeine, 8.1.2004, URL [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hirnforschung-keiner-kann-anders-als-er-ist-1147780.html] (13. Juni 2016)
[2] ROTH, Gerhard, Niemand ist frei, in: Zeit Online, 11.4.2008,URL [http://www.zeit.de/campus/2008/02/interview-freier-wille] (13. Juni 2016)
[3] ROTH, Gerhard, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S.251 ff.
[4] Ebd., S. 277.
[5] Ebd., S. 261
[6] ROTH, Fühlen, Denken, Handeln, S.524. ff.
[7] ZUNKE, Christine, Kritik der Hirnforschung, S.20.
[8] Ebd., S.116. f.
[9] ROTH, Denken Fühlen Handeln, S.499.
[10] Ebd., S.505.
[11] Ebd., S.507.
[12] Ebd., S.511.
[13] Ebd., S.533.
[14] KANT, Immanuel, GMS, AA, B IV, S.450.
[15] ZUNKE, S.113 f.
[16] KANT, GMS, AA, B IV, S.450 f.
[17] Ebd., S.455 f.
[18] Ebd., S.451.
[19] Ebd., S.452.
[20] KANT, KrV, AA, B III, S.308.
[21] Ebd., S.309.