Regieren in föderalistischen und zentralistischen Regierungssystemen

Föderalismus und Zentralismus als Staatsorganisationsprinzipien und die Rolle der Zweiten Kammer in Deutschland und Frankreich


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

46 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Föderalismus und Zentralismus als Idealtypen
1.1. Föderalismus und Bundesstaat
1.2. Zentralismus und Einheitsstaat

2. Föderalismus: Der Fall Deutschland
2.1. Zur historischen Genese des Föderalismus in Deutschland
2.2. Formalverfassung und Architektur des föderalen Systems
2.3. Der Bundesrat in der Gesetzgebung
2.4. Fazit

3. Zentralismus: Der Fall Frankreich
3.1. Zur historischen Genese des Zentralismus in Frankreich
3.2. Formalverfassung und Architektur des zentralistischen Systems
3.3. Der Senat in der Gesetzgebung
3.4. Fazit

4. Das deutsche und französische Modell in der Bewertung
4.1. Das deutsche föderalistische Modell
4.2. Das französische zentralistische Modell

5. Resümee und Ausblick

Bibliographie

Quellen

Sekundärliteratur

Internetquellen

Einleitung

So mannigfaltig sich der europäische Kontinent insgesamt darstellt, so verschieden sind die Strukturgrundsätze der europäischen Raumordnung ausgeprägt, die durch die Idealtypen „Föderalismus“ und „Zentralismus“ bestimmt werden: Gespeist von spezifischen historischen Entwicklungen, getragen von divergierenden politischen Kulturen, neigen die politischen Systeme in den einzelnen Staaten dem einen oder dem anderen staatsorganisatorischen Leitprinzip zu, dies nicht zuletzt in Abhängigkeit von den verfolgten Zielkategorien gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Die Unterschiedlichkeit in der Zielsetzung impliziert gleichsam unterschiedliche Vor- und Nachteile, die föderalistische und zentralistische Systeme auf sich vereinigen. Entsprechend schwer fällt es, a priori der einen oder anderen Alternative vorbehaltlos den Vorzug zu geben und als „besser“ zu qualifizieren. Vielmehr muss es Aufgabe jeder den Anspruch von Objektivität erhebenden Betrachtung sein, auf Basis kritisch-analytischer Herangehensweise zu einer differenzierten Evaluation zu schreiten, die auf potentielle Stärken und Schwächen gleichermaßen hinweist.

Aufgabe dieser sich des Mittels des politikwissenschaftlichen Vergleichs bedienenden Seminararbeit mag es dementsprechend sein, am Beispiel von Deutschland und Frankreich wissenschaftlich fundiert der Frage nach Rahmenbedingungen, Funktion und konkreter Gestalt der föderalistischen beziehungsweise zentralistischen Ordnung in diesen Ländern nachzugehen und auf diesem Wege zu einer Bewertung zu gelangen, die auch etwaige Reformbedürfnisse und Reformchancen in den Blick zu nehmen hat. Besonderes Augenmerk sei im Rahmen dessen auf die sich in Gestalt von Bundesrat und Senat repräsentierenden Zweiten Kammern und deren jeweilige Bedeutung für das Regierungssystem gelegt.

Konsequenter gefasst lassen sich daraus drei – gleichsam einen inhaltlichen Rahmen absteckende und die Thematik strukturierende – forschungsrelevante Hauptfragestellungen formulieren:

1) Auf welchen historischen Grundlagen und Zielkategorien fußt der Föderalismus in Deutschland, der Zentralismus in Frankreich?
2) In welcher konkreten Gestalt repräsentieren sich diese beiden Staatsorganisationsprinzipien und welche Rückwirkungen zeitigen Föderalismus und Zentralismus als „Handlungsrahmen“ auf Rechte und Tätigkeit der Zweiten Kammern?
3) Wie lassen sich das „deutsche“ und das „französische Modell“ bewerten und welche Reformbedürfnisse sind zu konstatieren?

Unter Bedachtnahme dieses grundsätzlichen Forschungsinteresses stellt sich der Aufbau vorliegender, auf inhaltliche Verdichtung Wert legenden Arbeit folgendermaßen dar:

Das erste, auf die Einleitung folgende Hauptkapitel sucht „Föderalismus“ und „Zentralismus“ als politikwissenschaftliche Idealtypen zu fassen, dies gleichermaßen zum Zwecke einer eindeutigen Begriffsbestimmung und einer Verortung des deutschen und französischen politischen Systems.

Die beiden folgenden, länderspezifischen Kapitel nehmen sich sodann dezidiert den unterschiedlichen Leitprinzipien in Deutschland und Frankreich an, wobei jeweils einem Dreierschema gefolgt wird: Zunächst soll die historische Genese des Föderalismus in Deutschland beziehungsweise des Zentralismus in Frankreich beleuchtet, anschließend die „Praxis“ des jeweiligen Systems thematisiert und auf die Rolle der Zweiten Kammern eingegangen werden, ehe ein Zwischenfazit die erhaltenen Ergebnisse zusammenzufassen versucht.

Aufgabe des vierten, an die Länderdarstellungen anschließenden Hauptkapitels ist es in Folge, zu einer Bewertung des „deutschen“ und „französischen Modells“ zu schreiten, wobei der Fokus nicht zuletzt auf die „Praktikabilität des Regierens“ zu richten ist. Gleichsam gilt es zu beleuchten, ob sich die beiden Modelle als statisch erweisen oder sich aber Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Reformen ergeben.

Beschlossen werden die Ausführungen durch ein Resümee, das unter Zusammenfassung der Forschungsergebnisse zu einer Beantwortung der eingangs formulierten Hauptfragestellungen zu gelangen und einen Ausblick in breiterem Kontext zu eröffnen sucht, gefolgt von einem Verzeichnis der verwendeten Quellen und der zu Rate gezogenen Literatur.

Ergänzt einerseits durch die den bundes- beziehungsweise einheitsstaatlichen Charakter Deutschlands und Frankreichs konstituierenden Verfassungstexte beider Länder (vgl. Grundgesetz 2001; Constitution [2004]), zum anderen durch statistisches Material zur Tätigkeit der jeweiligen Parlamente (vgl. Assemblée Nationale [2004]; Maus 1998; Bundesrat [2004]), dient primär Sekundärliteratur als Grundlage für diese Abhandlung. Eingedenk des Umfanges der behandelten Thematik und der großen Anzahl an zur Verfügung stehenden Werke erweist sich ein selektiver Zugang unumgänglich, wobei für die dahin getroffene Auswahl neben zeitlicher Aktualität nicht zuletzt auch persönliche – immer bedingt subjektive – Einschätzungen über die jeweilige wissenschaftliche Relevanz verantwortlich zeichnen.

Von den verwendeten Monographien gilt es in Hinblick auf Deutschland neben Gesamtdarstellungen des politischen System des Landes (vgl. Rudzio 2003; Schmidt 2003) zuvorderst die einen guten Einstieg in die Thematik eröffnenden Überblickswerke zum föderativen System des Landes von H. Laufer und U. Münch (vgl. Laufer/Münch 1998), R. Sturm (vgl. Sturm 2001) sowie H. Kilper und R. Lhotta (vgl. Kilper/Lhotta 1996) zu nennen. Spezifischeren Aspekten des deutschen Föderalismus nehmen sich darüber hinaus etwa die durch ihre scharfsichtige Analyse glänzenden Abhandlungen G. Lehmbruchs über den „Parteienwettbewerb im Bundesstaat“ (vgl. Lehmbruch 1998) und U. Wachendorfer-Schmidts über „Politikverflechtung im vereinigten Deutschland“ (vgl. Wachdendorfer-Schmidt 2003) an. Gewinnbringend verwerten lassen sich daneben durchaus auch etwas ältere Werke, so das 1994 erschienene „Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa“ F.W. Scharpfs (vgl. Scharpf 1994).

Umfangreich wie im deutschen Falle ist das selbständige Schrifttum ebenfalls zu Frankreich gehalten: Einführungen in das politische System (vgl. Kempf 1997; Müller-Brandeck-Bocquet/Moreau 2000)[1] werden ergänzt durch ein breites Set an Literatur, das sich spezifischen Aspekten und Problemen des französischen Zentralismus annimmt, so der „Staatswerdung“ Frankreichs (vgl. Rosanvallon 2000) oder der Relativierung des unitarischen Prinzips durch „regionale Innovationspolitik“ (vgl. Eberlein 1997).

In Bezug auf verwendete Sammelwerksbeiträge und Aufsätze in Zeitschriften sei mit Blick auf den deutschen Föderalismus und seine Probleme allen voran auf die 2001 in der Politischen Vierteljahresschrift erschienene Abhandlung „Thesen zur Reform des Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland“ verwiesen (vgl. Schmidt 2001). Der Sammelband „Föderalismus und Zentralismus: Europas Zukunft zwischen dem deutschen und dem französischen Modell“ seinerseits sucht den deutschen Bundesstaat mit dem französischen Einheitsstaat in vergleichende Beziehung zu setzen und nach dem „besseren Modell für Europa“ zu fragen (vgl. Ammon 1996), während sich J. Astorg in ihrem 2002 editierten Aufsatz „Zentralisierung in Frankreich – Föderalismus in Deutschland. Zwei Modelle im Wandel“ den Veränderungen dieser beiden Staatsorganisationsprinzipien in jüngster Zeit zuwendet (vgl. Astorg 2002). Deutschland und Frankreich gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkt ebenfalls das von G. Riescher herausgegebene Werk „Zweite Kammern“, wo sich einführende Beiträge sowohl zum deutschen Bundestag als auch zum französischen Senat finden (vgl. Edith 2000; Ruß 2000).

Letzterem dezidiert an nehmen sich ebenfalls die schon bejahrten, nach wie vor aber brauchbaren Aufsätze in Pouvoirs 1988 44 (Sonderband „Le Sénat“), die einen sehr detaillierten Eindruck von der Geschichte und Funktion der französischen Zweiten Kammer vermitteln (vgl. insbesondere Mastias 1988; Tardan 1988; Maus 1988). Erwähnt seien letztlich auch noch zwei Aufsätze von S. Bernard und J.-P. Camby, die ihre Aufmerksamkeit der „Commission mixte paritaire“ – vergleichbar dem deutschen „Vermittlungsausschuss“[2] und aktiv im Falle von Dissens zwischen den beiden Parlamentskammern – und ihrer Rolle widmen (vgl. Bernard 2001; Camby 2000).[3]

So wenig Klage insgesamt über eine fehlende Quellen- und Literaturbasis zu führen ist, diese ganz im Gegenteil als sehr reichhaltig qualifiziert werden kann, so bescheiden müssen die Ansprüche gehalten sein, die an dieses Schriftstück zu stellen sind. Eingedenk des nur beschränkt zur Verfügung stehenden Raumes und dem Charakter einer Seminararbeit entsprechend sind nämlich deutliche Abstriche in Hinblick auf die wissenschaftliche Durchdringung der Thematik zu machen.

Wenn es aber auch unmöglich sein mag, eine vollständige vergleichende Analyse des deutschen föderalistischen mit dem französischen zentralistischen Systems zu bieten, wohl noch nicht einmal, einen alle wesentlichen Aspekte in Betracht nehmenden, gleichgewichtigen Überblick zu verschaffen, so kann die Intention doch folgende sein: In zumindest schlaglichtartiger Manier Strukturen und Prozesse der beiden Vergleichsmodelle herauszuschälen, darüber zu grundsätzlichen Aussagen über das Regieren in föderalistischen und zentralistischen Regierungssystemen zu gelangen und letztlich selbst über solch bruchstückhaft anmutende Wege zu einer kritisch-würdigenden Darstellung des bundesdeutschen wie französischen politischen Systems zu finden.

1. Föderalismus und Zentralismus als Idealtypen

1.1. Föderalismus und Bundesstaat

Vom lateinischen foedus (= Bund, Vertrag) abgeleitet, ist unter Föderalismus grundsätzlich eine horizontal oder vertikal gegliederte politisch-staatliche oder auch gesellschaftliche Ordnung zu verstehen, in der die Mitglieder des „Bundes“ über eigene Rechte, Kompetenzen und Legitimität verfügen, sprich, „in denen mehr oder weniger selbständige Glieder zu einem übergeordneten Ganzen zusammengeschlossen sind, in denen also das bündische Prinzip oder der Bund die Grundlage der Staatsorganisation sein soll“ (Kilper/Lhotta 1996: 31).

In Anlehnung an B. Reissert (1992: 238f.) lassen sich vier verschiedene – jeweils zweit „politische“ und „gesellschaftliche“ – Verständnisse von „Föderalismus“ unterscheiden:

1) ein verfassungsrechtliches: Im Bundesstaat als idealtypischem staatsrechtlichten Ausdruck des Föderalismus sind die drei Staatsgewalten im Gesamt- wie in den Gliedstaaten vorhanden und wird ihre Existenz verfassungsrechtlich geschützt.
2) ein institutionell-funktionales: Im Föderalismus erweisen sich die staatlichen Aufgaben so zwischen den beiden staatlichen Ebenen aufgeteilt, dass in bestimmten Bereichen eigenverantwortliches Entscheiden garantiert ist.[4]
3) ein soziologisch-behavioristisches: Als föderal sind Gesellschaften mit territorial verfestigten ethnischen, religiösen, ökonomischen oder historisch-genetischen Gliederungen zu bezeichnen, dies unabhängig von ihrer politischen Organisation.
4) ein sozial-philosophisches: Föderal sind gesellschaftliche Ordnungen, die auf der freiwilligen Assoziation weitgehend autonomer dezentraler Einheiten aufbauen.

In ihrem Bemühen, Einheit mit Vielfalt zu verbinden, verfolgen föderale Systeme unterschiedliche Funktionsziele, zu denen insbesondere zu zählen sind (vgl. Schultze 1998: 187):

a) Machtaufgliederung mittels Gewaltenteilung oder Gewaltenbalancierung
b) Minderheitenschutz mittels territorialer Eigenständigkeit
c) Integration heterogener Gesellschaften, insbesondere wirtschaftliche, politische, militärische Integration bei soziokultureller Eigenständigkeit.
d) Aufgabenbewältigung durch funktionale Ausdifferenzierung und Dezentralisierung bei gleichzeitiger „Wiederverflechtung“

Unverkennbar steht Föderalismus damit in einem Spannungsfeld von Subsidiarität, Vielfalt und Autonomie auf der einen, der Notwendigkeit von Kooperation, dem Versuch der Herstellung gleichartiger Lebensverhältnisse und politischer Integration auf der anderen Seite.

Vom Einheitsstaat (siehe Kapitel 1.2.) unterscheiden sich föderale politische Systeme nicht durch den Tatbestand der vertikalen Ausdifferenzierung, sondern vielmehr durch den Grad der Autonomie der Gliedstaaten beziehungsweise Art und Weise ihrer „Wiederverflechtung“. Die vielfältigen Erscheinungsformen des Föderalismus lassen sich hierbei wie folgt subsumieren:

I) Differenzierung nach normativen Kriterien:

- Zentripetaler Föderalismus: Dominanz der Zielkategorie Integration und Gleichheit von Lebensbedingungen

- Zentrifugaler Föderalismus: Dominanz der Zielkategorie Autonomie und Vielfalt der Lebensbedingungen

II) Differenzierung nach politisch-institutionellen Kriterien:

- Intrastaatlicher Föderalismus: funktionale Aufgabenteilung nach Kompetenzarten und Gewaltenverschränkung, hoher Grad an Politikverflechtung (z.B. Österreich, Bundesrepublik Deutschland).
- Interstaatlicher Föderalismus: Kompetenzverteilung nach Politikfeldern und Gewaltentrennung (z.B. Schweiz, Kanada, USA).

Als wichtige dahingehende Unterscheidungsmerkmale lassen sich unter anderem die verschiedenartige Beteiligung der Gliedstaaten an der Willensbildung des Gesamtstaates – in der Regel bundesratsähnliche Vertretung der Gliedstaaten im intrastaatlichen Föderalismus, vom Volk gewählte Zweite Kammer im interstaatlichen Föderalismus – und die andersartige Struktur des Finanzföderalismus – Steuerverbund, gleiche Steuersätze sowie vertikaler und horizontaler Finanzausgleich im intrastaatlichen, konkurrierende, getrennte Steuerkompetenz und gliedstaatlich variierende Steuersätze im interstaatlichen Föderalismus – nennen.

Wiewohl sich damit die Bandbreite an föderalen Systemen als groß erweist und der Übergang zur bloßen Allianz wie zum Zentralstaat eher ein fließender denn ein bruchartiger ist (vgl. Abbildung 1), lassen sich bei konstitutionell-gewaltenteiliger Betrachtung doch fünf für alle Bundesstaaten charakteristische Merkmale nennen (vgl. Schultze 1992: 97):

1) Gliederung des Staates in territoriale Einheiten
2) Aufteilung der exekutiven und legislativen Gewalt auf Bund und Länder
3) Vertretung der Gliedstaaten im Bundesparlament, Beteiligung an der Willensbildung
4) Konfliktlösungen, die auf dem Prinzip des Aushandelns aufbauen und aus Gründen des Minoritätenschutzes zusätzlich häufig qualifizierte Entscheidungsprozeduren erfordern
5) Verfassungsgerichtsbarkeit als Schiedsrichter bei Organstreitigkeiten zwischen beiden staatlichen Ebenen

Abbildung 1: Erscheinungsformen des Föderalismus (Schultze 1992: 96)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.2. Zentralismus und Einheitsstaat

Unter Zentralismus im politikwissenschaftlichen Sinne sind die normativen und strukturellen Tendenzen zur Konzentration kultureller, politischer, administrativer und ökonomischen Steuerungskapazitäten in Staat und Gesellschaft in einem „Zentrum“ zu verstehen. Ziel des zentralistischen Leitprinzips ist, „von einer einzigen Entscheidungszentrale und von einem festen Punkt im Raum ausgehend das gesamte zugehörige, in den Verfassungen als unteilbar definierte Territorium sowie alle gesellschaftlichen Bereiche maximal zu durchdringen, zu gestalten und zu steuern“ (Brücher 1992: 15).

Prototyp des Zentralismus ist der Einheitsstaat, der neben der Kommune keine weitere subnationale Ebene kennt und hoheitliche Rechte ungeteilt wahrnehmen kann. Aufgrund von Kompetenzverlagerungen auf die supranationale Ebene und die Ausübung staatlicher Funktionen in Kooperation mit gesellschaftlichen Akteuren aber gilt es, „Zentralismus“ besser als

a) prozesshaftes Geschehen und
b) in unterschiedlichen Graden der Zentralisierung beziehungsweise Dezentralisierung

zu fassen (vgl. Nohlen 1998: 734).

Staatstheoretisch verweist der Begriff „Einheitsstaat“ auf die in Anlehnung an J.-J. Rousseaus Identitätstheorie in der Französischen Revolution entwickelte Doktrin, die den Staat als Instrument der Volonté générale sieht. Als Ausdruck des gemeinschaftlichen Willens freier und gleicher Staatsbürger erscheint der Staat „unteilbar“, weder horizontal durch Gewaltenteilung noch vertikal durch die Eigenständigkeit territorialer Kollektive unterhalb des Gesamtstaates. Bestimmend erweist sich der Einheitsgedanke, wobei „Einheit“ innere Sicherheit, Schutz gegen äußere Bedrohung und Unterdrückung gewährleisten wie auch Ungleichheiten verhindern soll (vgl. Schultze 1998a: 138).

In der Staatsformenlehre bezeichnet „Einheitsstaat“ ein politisches System, das nur eine Staatsgewalt und Rechtsordnung, indes keine staatliche Eigenständigkeit von Gebietskörperschaften unterhalb der gesamtstaatlichen Ebene kennt, in dem der vertikale Staatsaufbau hierarchisch organisiert ist und die nachgeordneten Institutionen der Verwaltung damit weisungsabhängig sind.

Zu unterscheiden gilt es (vgl. Schultze 1998a: 138f.; Thibaut 1998: 121):

I) den zentralisierten Einheitsstaat: die gesamte Staatsgewalt ist in den zentralen Staatsorganen konzentriert.
II) den dezentralisierten Einheitsstaat: die nachrangigen Staatsaufgaben sind dezentralen Organen der Selbstverwaltung übertragen, darunter politische Institutionen der regionalen oder lokalen Ebene (z.B. Regionen, Departements, Kommunen); diese üben staatliche Aufgaben im Auftrag und unter Aufsicht des Zentralstaates aus, verfügen jedoch über keine eigenen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen. Diese Form der Dezentralisierung, die sich im Begriff „Devolution“ fassen lässt, zeichnet sich demnach dadurch aus, dass die Aufgaben- und Kompetenzzuweisungen an die dezentralen administrativen Organe unter dem Vorbehalt einer möglichen Zurücknahme oder Änderung – unter Umständen sogar in Bezug auf einzelne Entscheidungen oder administrative Vorgänge – seitens der Zentralgewalt stehen.

2. Föderalismus: Der Fall Deutschland

2.1. Zur historischen Genese des Föderalismus in Deutschland

Die historischen Wurzeln des deutschen Föderalismus sind bis in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zurückzuführen, wo sich bereits im Mittelalter eine Differenzierung in geistliche und weltliche Fürstentümer sowie freie Reichsstädte, damit ein „Vielzentrismus“ und die Koexistenz verschiedenartiger Regime, herausbildete. Mit dem Westfälischen Frieden von 1648 entzog sich die Machtpolitik der deutschen Territorialstaaten fast vollständig der Einwirkung des durch den Kaiser verkörperten Reiches und bewirkte, dass dieses zum Zeitpunkt seiner Auflösung 1806 wenig mehr denn einen losen Staatenbund repräsentierte.[5]

Die Neuordnung der deutschen Staatenwelt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trug diesem Faktum einer Fragmentierung Rechnung, indem 1815 in Gestalt des „Deutschen Bundes“ – 1806 bereits im Rheinbund als dessen Vorläufer – bewusst eine föderative Ordnung ohne weitergehende Integration forciert wurde: Nicht nur wurden die Souveränitätsrechte der einzelnen Staaten respektiert, auch wurde jegliche Initiative zur weitergehenden Integration der Gliedstaaten in den Bund vermieden. Wiewohl der diese neue politische Ordnung prägende Gedanke der Verteidigung staatlicher Souveränität und politischer Eigenständigkeit im 19. Jahrhundert in Konflikt mit den nationalstaatlichen Bestrebungen zur Einigung Deutschlands geriet, blieb doch sowohl der Charakter des Norddeutschen Bund von 1866 als auch jener des Deutschen Reich von 1871 der eines – wiewohl durch die Dominanz Preußens „ungleichgewichtigen“ – Staatenbundes. Tatsächlich nämlich erlaubte es der Formalföderalismus des Deutschen Reiches nicht,[6] das Reich als gesamtstaatliche Einheit mit genügenden Kompetenzen und entsprechenden Finanzmitteln auszustatten, als dass tatsächlich der Sprung vom Staatenbund zum Bundesstaat gelungen wäre.

Im Gefolge des revolutionären Umbruches nach dem Ersten Weltkrieg verlor der föderale Gedanke machtpolitisch an Boden, zumal die Träger der gliedstaatlichen Eigenständigkeit in Gestalt der Herrschenden ihren Einfluss eingebüßt hatten. Nicht zuletzt der Wille zum demokratischen Neubeginn auf Grundlage der Einheit des Volkes bedingte, dass man die Weimarer Republik als unitarischen Staat mit beschränkten föderalen Elementen ausgestaltete, im Rahmen dessen der Reichsrat – in Nachfolge des bisherigen Bundesrates – als Vertretung der Gliedstaaten seine bislang dominierende Rolle verlor und die Länder – in Nachfolge der früheren Staaten – vom Reich finanziell abhängig wurden. Die Kompetenzen der zentralstaatlichen Ebene erhöhte man insgesamt deutlich, auch konnte das Reich Gesetzgebungsmaterien an sich ziehen, ohne dass hierfür ein zwingendes Bedürfnis vorliegen musste (sogenannte „Bedarfsgesetzgebung“), desgleichen Richtlinien für die Gesetzgebung der Länder vorgeben (sogenannte „Grundsatzgesetzgebung“; vgl. Kilper/Lhotta 1996: 48-50; Laufer/Münch 1998: 59-67). Allemal blieb aber trotz der neuen Verfassungsgrundlage und der Betonung der nationalen Einheit der grundsätzliche föderalistische Charakter des politischen Systems gewahrt, wenngleich nunmehr in bundesstaatlicher Spielart.

[...]


[1] E. U. Grosse und H.-H. Laufer ihrerseits bieten eine Einführung in das politische System Frankreichs, die gleichsam den Versuch eines Vergleiches mit der Bundesrepublik Deutschland unternimmt (vgl. Grosse/Laufer 1996).

[2] Zur Tätigkeit des Vermittlungsausschusses und seiner Bedeutung für das politische System hat T.L. Bauer eine durch großen Detailreichtum glänzende, nicht im Druck erschienene Dissertation vorgelegt (vgl. Bauer 1998).

[3] Für sonstige, nicht explizit genannte Literatur, sei auf Anmerkungsapparat und Bibliographie verwiesen.

[4] Sowohl der Zentralstaat als auch die Gliedstaaten sind demnach davor geschützt, dass die jeweils andere Ebene sie nach Belieben und ohne Mitentscheidungsbefugnis ihren Entscheidungen ausliefert, womit ein „Dualismus von Entscheidungszentren“ (Laufer/Münch 1998: 16) besteht.

[5] Zum Ende des Reiches hatte nicht zuletzt dessen weitgehende machtpolitische Fragmentierung beigetragen: „So hat schließlich die große Anzahl unterschiedlicher Territorien und die Verschiedenheit der inneren Strukturen die Funktionsfähigkeit beeinträchtigt, ja gar die Reformunfähigkeit und die gänzliche Schwächung des Reichsgebildes herbeigeführt.“ Ammon/Hartmeier 1996: 15

[6] Das Deutsche Reich verfügte qua Verfassung über ein eigenes Bundesgebiet, eine Reichsbürgerschaft und eine Kompetenzteilung zwischen Bund und Ländern. Als Träger der staatlichen Gewalt war nach der Reichsverfassung der Bundesrat definiert, in dem Preußen 17 der 58 Stimmen zukamen. Da für Verfassungsänderungen eine Dreiviertelmehrheit vorgesehen war, konnte Preußen immer auf eine Sperrminorität im Bundesrat bauen, zumal die Abgabe der Stimmen einheitlich erfolgen musste. Zu Organisation und Strukturproblemen der politischen Ordnung von 1871 im Detail vgl. Laufer/Münch 1998: 49-58.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Regieren in föderalistischen und zentralistischen Regierungssystemen
Untertitel
Föderalismus und Zentralismus als Staatsorganisationsprinzipien und die Rolle der Zweiten Kammer in Deutschland und Frankreich
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Institut für Politische Wissenschaften)
Veranstaltung
Oberseminar "Deutschland und Frankreich im Vergleich"
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
46
Katalognummer
V36281
ISBN (eBook)
9783638359498
ISBN (Buch)
9783638692366
Dateigröße
1826 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Vorliegende Arbeit sucht in vergleichender Perspektive der Frage nach Rahmenbedingungen, Funktion und konkreter Gestalt des föderalistischen Regierungssystems Deutschlands einerseits, des zentralistischen Regierungssystems Frankreichs andererseits nachzugehen. Besonderes Augenmerk wird im Rahmen dessen auf die Bedeutung der Zweiten Kammern in beiden Ländern für das jeweilige Regierungssystem gelegt.
Schlagworte
Regieren, Regierungssystemen, Oberseminar, Deutschland, Frankreich, Vergleich
Arbeit zitieren
Markus Josef Prutsch (Autor:in), 2004, Regieren in föderalistischen und zentralistischen Regierungssystemen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36281

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