Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Vorgeschichte des Ortes
3. Die Vorgeschichte der Debatte
4. Die Debatte
4.1 Themen und Akteure
4.2 Das Geschichtsbild und sein Ausdruck in der Gestaltung
4.3 Rückschlüsse auf die Geschichtspolitik beider Gruppen
5. Schluss
6. Literatur
1. Einleitung
Am 14. November 1993, dem Volkstrauertag, wurde die Neue Wache unter den Linden als „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland“ für „die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ eingeweiht. Im von Karl Friedrich Schinkel erbauten Nutzbau, der nach Entwürfen Heinrich von Tessenows in den 1930er-Jahren zur Gedenkstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgestaltet worden war und danach der DDR als zentrales Mahnmal für die „Opfer von Faschismus und Militarismus“ gedient hatte, befand sich nun eine auf Lebensgröße „aufgeblasene“[1] Skulptur der Künstlerin Käthe Kollwitz, die „Mutter mit totem Sohn“. Der Einweihung der Gedenkstätte war ein kurzer, aber heftiger Streit um ihre künstlerische Gestaltung und die Widmung vorausgegangen.
Die Debatte um die Neue Wache hatte einmal mehr die Deutung der NS-Vergangenheit zum Thema, wie dies in den 1980er-Jahren schon in vielen Diskussionen um Geschichte, Erinnerung und Gedenken stattgefunden hatte. Ob in der Diskussion um Helmut Kohls „Museumsgeschenke“, ein zentrales „Ehrenmal“ für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Bonn, den 8. Mai 1985 oder dem Historikerstreit – immer wieder wurde die Geschichte zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen.
In diesem Fall entzündete sich der Streit sowohl an dem durch die Umgestaltung der Neuen Wache ablesbaren Geschichtsbild wie an der Geschichte des Ortes selbst. Wiederholt wurde in Frage gestellt, ob die Neue Wache wegen der verschiedenen historischen Verwendungen als zentrale Gedenkstätte überhaupt geeignet sei. So hatte das Gebäude bereits vier verschiedenen politischen Systemen als Mahnmal oder Gedenkstätte gedient: Im Kaiserreich war sie Denkmal für die Befreiungskriege gewesen, in der Weimarer Republik Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, in der NS-Zeit wurde sie als „Reichsehrenmal“ in politisch-militärische Inszenierungen und Aufmärsche einbezogen und die DDR widmete sie zur zentralen Gedenkstätte für beide Weltkriege und den zum Gründungsmythos der DDR hochstilisierten Anti-Faschistischen Widerstand der NS-Zeit um.
Im Folgenden soll der Streit um die Neue Wache von 1993 untersucht werden. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welches Geschichtsbild die verschiedenen Akteure der Debatte vertreten. Lässt sich dieses auch in den Vorschlägen zur Gestaltung der Neuen Wache ablesen? Und inwiefern kann dieses Geschichtsbild in Geschichtspolitik[2] umgesetzt werden?
Der Geschichtspolitik dient in modernen Demokratien der Legitimation von Herrschaft. Mithilfe von Geschichte können Gruppenidentitäten hergestellt werden, indem auf gemeinsame Vergangenheit rekurriert wird. Erinnerungspolitik ist eine Unterform der Geschichtspolitik, die sich auf das Handlungsfeld der Erinnerungskultur bezieht, d.h. die Errichtung von Museen und Gedenkstätten, Denkmälern aber auch die Institutionalisierung von Gedenktagen an denen auf bestimmte Weise an bestimmte Ereignisse und Personengruppen erinnert wird – und an andere nicht. Politik mit der Erinnerung ist somit
„in ihrer Wahrnehmung selektiv und in ihrer Strategie konfliktorientiert angelegt. Immer geht es um symbolische Besetzung von Gedächtnisorten und die Aneignung bzw. Nutzung der Ressource Geschichte für die eigene Traditionsbestimmung und Herrschaftslegitimierung.“[3]
Um die oben aufgeführte Fragestellung beantworten zu können, soll jedoch zunächst eine kurze Geschichte der Neuen Wache und ihrer Nutzung in den letzten knapp 200 Jahren als Hintergrund für den Streit von 1993 vorangestellt werden, um die von den Kontrahenten auf beiden Seiten der Debatte herangezogene Baugeschichte und ihre Bedeutung beurteilen zu können. Danach folgt eine knappe Beschreibung der in den 1980er-Jahren stattfindenden zentralen geschichtspolitischen Debatten, besonders jedoch des Streits um ein „zentrales Ehrenmal“ in Bonn ab 1983, die auf bereits vor der Debatte von 1993 bestehende Konflikte und Streitlinien eingehen wird. Damit soll später dann auch der Frage nachgegangen werden, ob es sich beim Streit um die Neue Wache eigentlich um eine neuartige Debatte handelte, die nach der Wiedervereinigung schon auf die Debatten der späten 90er verwies, oder ob die Kontroverse um die Neue Wache nicht eher deutlich geprägt ist vom Umgang mit Geschichte in der Ära Kohl.
2. Die Vorgeschichte des Ortes
Die Neue Wache wurde von Karl Friedrich Schinkel 1816-18 als Wachlokal mit Arrestzellen und Sitz der zentralen Berliner Garnisonsbehörden erbaut. Sie war in der Form an ein „römisches Castrum“ angelehnt, d.h. ein annähernd quadratischer Grundriss wird von vier turmartigen Vorsprüngen an den Ecken eingerahmt und erinnert so an eine Burg. Das eher wuchtige Erscheinungsbild dieses Grundrisses durchbricht eine vorgelagerte dorische Säulenhalle. Gleichzeitig war die Wache als Denkmal für die Befreiungskriege konzipiert. Im Giebelfeld der Säulenhalle ist eine 1846 nachträglich hinzugefügte, aber von Schinkel bereits geplante Szene zu sehen: Die Siegesgöttin Victoria im Zentrum bekrönt die siegreichen Kämpfer. Die Säulen werden von zehn schwebenden Victorien betont. Zur Gesamtanlage gehörten auch die Denkmäler der Generäle Scharnhorst und von Bülow auf beiden Seiten der Neuen Wache.[4] Im Kaiserreich wurde die Neue Wache durch das tägliche Zeremoniell der Wachablösung zur (Touristen-)Attraktion. Sie fügte sich damit ein in die militaristische Ausrichtung und Traditionen des Kaiserreichs.[5]
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und des Kaiserreichs verlor die Neue Wache ihre Funktion. Sie diente vorübergehend als Sanitätsstation und Notunterkunft.[6] 1931 wurde sie nach einem Entwurf von Heinrich Tessenow zum zentralen Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgestaltet. Die Initiative hierzu war 1929 vom sozialdemokratischen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun ausgegangen. Der in einem Wettbewerb siegreiche Entwurf Tessenows sah vor, das Gebäude komplett zu entkernen, die äußere Form jedoch unangetastet zu lassen. Das Denkmal bestand so aus einem großen Innenraum, in dessen Zentrum ein altarartiger Granitblock stand. Auf dem Granitblock lag ein goldener Eichenkranz. Flankiert wurde der Granitblock von zwei schlanken Leuchtern. Seine besondere Ausdruckskraft und religiöse Stimmung erhielt der Raum durch ein in die Decke eingelassenes Oberlicht. Vor dem Granitblock war eine Tafel mit den Zahlen 1914-1918 eingelassen.[7]
Das Ehrenmal stellte einen Versuch der nationalen Einigung dar, dem sich jedoch Teile der Weimarer Gesellschaft entzogen: die soldatischen Verbände und die politische Rechte blieben der Einweihung fern.[8] In der Weimarer Republik entschied man sich gegen eine militärische Bewachung des Denkmals und postierte lediglich zwei Schutzpolizisten am Eingang.[9]
1933 wurde der Innenraum geringfügig umgestaltet: Hinter dem Granitblock war nun ein Holzkreuz an die Wand angebracht, was den sakralen Charakter des Raumes noch unterstrich. Von Außen veränderten zwei an den äußeren beiden vorstehenden Ecken der Front angebrachte Eichenkränze das Erscheinungsbild. Insbesondere wurde die Wache aber durch das auf sie bezogene symbolische Handeln umgedeutet, indem sie in Aufmärsche und militärische Inszenierungen der NS-Zeit eingebunden wurde.[10]
1945 wurde das Gebäude stark beschädigt. Auch der Granitblock wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die goldenen und silbernen Blätter des Eichenkranzes verschwanden in den letzten Kriegstagen. Es gab verschiedene Stimmen – unter ihnen auch Tessenow –, die die beschädigte Wache als Mahnmal in ihrem Zustand belassen wollten.[11] Dagegen forderte die FDJ 1949 einen Abriss des Gebäudes. Pläne des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds sahen eine Wiederherstellung des Gebäudes und eine Umwidmung vor. Bis 1956 hielt die Diskussion um den Umgang mit der Neuen Wache an. Dann wurde entschieden, den äußeren Schinkel-Bau ebenso wie Tessenows Raumgestaltung zu erhalten. Eichenkranz, Holzkreuz und Bodenplatte mit Inschrift wurden nicht wieder angebracht, die Leuchter jedoch rekonstruiert. Der Granitblock blieb in seiner lädierten Form bestehen. Statt des Kreuzes wurde an der Rückwand die Widmung „Den Opfern von Faschismus und Militarismus“ angebracht.[12]
1969 wurde die Neue Wache auf Beschluss des Politbüros nach Entwürfen des Architekten Lothar Kwasnitza umgestaltet. Im Zentrum des mit hellem Granitstein belegten Bodens lag nun eine Vertiefung aus grünem Marmor. Darauf stand ein prismatisch geschliffener Plexiglaswürfel als Behältnis für eine ewige Flamme, die sich im Glas brach. Der Raum wurde zusätzlich beleuchtet und so das von Tessenow beabsichtigte Halbdunkel mit zentralem Lichteffekt verändert. Vor dem Glaskubus wurden zwei Grabstätten für den „Unbekannten Widerstandskämpfer“ (Erde aus neun ehemaligen Konzentrationslagern) und den „Unbekannten Soldaten“ (Erde von neun Kriegsschauplätzen) angelegt. An der Stirnwand hinter der ewigen Flamme prangte das Staatswappen der DDR, die Widmung war nun an die rechte Seitenwand verlegt. Bereits ab 1962 wurden vor der Neuen Wache Posten der NVA aufgestellt. Auch jetzt wurde die wöchentliche Wachablösung mit Stechschritt in einem sehr speziellen Anachronismus wieder zur Attraktion.[13]
1990 wurden zunächst die Hoheitszeichen der DDR aus der Rückwand der Neuen Wache entfernt, der von Kwasnitza gestaltete Innenraum blieb ansonsten vorerst unverändert.[14] 1993 erfolgte der Umbau der Neuen Wache zu ihrer heutigen Form.
[...]
[1] Die Kritiker bezeichneten die Vergrößerung der Kollwitz-Skulptur wahlweise als „Blow-up“, aufgepumpt oder aufgeblasen. Vgl. Walter Jens: Vorwort. In: Akademie der Künste (Hg.): Streit um die Neue Wache. Zur Gestaltung einer zentralen Gedenkstätte. Berlin 1993, S. 5; vgl. Walter Jens: Offener Brief an den Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. In: Christoph Stölzl (Hg.): Die Neue Wache unter den Linden. Ein deutsches Denkmal im Wandel der Geschichte. München/Berlin 1993, S. 189; vgl auch der Diskussionsbeitrag Eberhard Roters in der Debatte in der Akademie der Künste am 24. März 1993. In: Akademie der Künste, S. 65.
[2] Geschichtspolitik soll hier nach Edgar Wolfrum verstanden werden als „ein Handlungs- und Politikfeld, auf dem verschiedene Akteure Geschichte mit ihren spezifischen Interessen befrachten und politisch zu nutzen suchen. Sie zielt auf die Öffentlichkeit und trachtet nach legitimierenden, mobilisierenden, skandalisierenden, diffamierenden usw. Wirkungen in der politischen Auseinandersetzung. Bei den beteiligten Akteuren handelt es sich im weiteren Sinne um konkurrierende Deutungseliten, um Politiker, Journalisten, Intellektuelle und Wissenschaftler (…).“ Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990. Darmstadt 1999, S. 25f.
[3] Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit. München/Wien 1995, S. 325.
[4] Vgl. Jürgen Tietz: Schinkels Neue Wache unter den Linden. Baugeschichte 1816-1993. In: Stölzl, S. 9-93, hier S.10-21; vgl. Hanna Vorholt: Die Neue Wache. Berlin 2001. (Berliner Ansichten Bd. 19); Stefanie Endlich: Die Neue Wache 1818-1993. Stationen eines Bauwerks. In: Sekretariat für kulturelle Zusammenarbeit nichttheatertragender Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen (Hg.): Deutsche Nationaldenkmale 1790-1990. Bielefeld 1993. S. 101-113, hier S. 101f.
[5] vgl. Vorholt, S. 10-28; vgl. auch Anja Büchten: Hundert Jahre im Dienst der Krone. In: Anja Büchten, Daniela Frey (Hg.): Im Irrgarten deutscher Geschichte. Die Neue Wache 1818-1993. Berlin 1993. S. 11-19.
[6] Vgl. Tietz, S.21.
[7] Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion der verschiedenen Wettbewerbsentwürfe sowie der Debatte um die Neue Wache in der Weimarer Republik vgl. Tietz, S. 25-61.
[8] Reichel, S. 236.
[9] Vgl. Hans-Ernst Mittig: Die bewachte Wache. In:Vera Böhm, Hans-Ernst Mittig, Thomas E. Schmidt: Nationaler Totenkult. Die Neue Wache. Eine Streitschrift zur zentralen deutschen Gedenkstätte. Berlin 1995. S. 151-155.
[10] Endlich 103-105, vgl. auch Jochen Meister: Die Neue Wache als „Ehrenmal deutschen heldischen Sterbens. In: Büchten/Frey, S. 31-36.
[11] Reichel, S. 238.
[12] Tietz, S. 75-82.
[13] Tietz, S. 82-93.
[14] Vorholt, S.55.