Kreatives Arbeiten im Basalen Förderbereich

Spritze, Zapfen, Angelschnur


Bachelorarbeit, 2016

137 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1 EINLEITUNG
1.1 Problematik
1.2 Zielstellung
1.3 Methodische Vorgangsweise

2 ÜBER KREATIVITÄT UND KOMPLEXE BEHINDERUNG
2.1 Kreativität - ein schwacher Begriff?
2.1.1 Der Beginn der Kreativitätsforschung
2.1.2 Kreativität und Flow bei Cziksentmihaly
2.1.3 Von Hentig über einen "schwachen Begriff“
2.1.4 Kreative Aspekte bei Daniela Braun
2.1.5 Kreativität und Resilienz
2.2 Der Kreativitätsbegriff im Kontext komplexer Behinderung
2.2.1 Komplexe Behinderung - eine Klärung
2.2.2 Kreativität und intellektuelle Beeinträchtigung - geht das?
2.2.3 Kreativität und Identität
2.3 Ästhetische Bildung - wozu?

3 ZUR METHODIK BASALEN ARBEITENS
3.1 Kurzer Abriss über das Konzept der Basalen Förderklassen
3.2 Ausgewählte Methoden und Arbeitsformen
3.2.1 Basale Kommunikation nach W. Mall
3.2.2 Basale Stimulation nach A. Fröhlich
3.2.3 Sensorische Integration nach A. J. Ayers
3.2.4 Snoezelen - eine Erfindung aus den Niederlanden
3.2.5 Unterstützte Kommunikation
3.2.6 Pädagogische Kunsttherapie (therapeutisch-ästhetische Erziehung)
3.3 Das dialogische Prinzip im pädagogischen Dialog

4 DAS PROJEKT "SPUREN HINTERLASSEN" - EIN VERSUCH
4.1 Setting, Methode und Vorgangsweise
4.1.1 Beobachtung und Forschertagebuch im Feld der Handlung
4.1.2 Der Raum als dritter Pädagoge
4.1.3 Der Malort nach Arno Stern - eine Inspiration
4.2 Die basale Klasse
4.2.1 Schüler A
4.2.2 Schülerin B
4.3 Der Prozess des Gestaltens - der gestaltete Prozess
4.3.1 Thematische Teilbereiche und Phasen des Projekts
4.3.2 Spritze - Zapfen - Angelschnur

5 RESÜMEE UND AUSBLICK

6 FOTOTAFELN

7 ABBILDUNGSVERZEICHNIS

8 LITERATURVERZEICHNIS

9 ANHANG
9.1 Forschertagebücher
9.2 Narratives Interview mit Christa Veith(Mal- und Gestaltungstherapeutin)
9.3 Danksagung

Kurzzusammenfassung

In vorliegender Arbeit wird der Versuch unternommen, ausgehend vom Phänomen der Kreativität, schöpferisch-ästhetische Fragestellungen im Kontext komplexer Behinderungen zu betrachten. Anhand einer Projektbeobachtung im basalen Förderbereich werden positive Aspekte und Einflüsse kreativen Arbeitens auf Kinder mit komplexen Beeinträchtigungen beschrieben.

Besonderes Augenmerk wird dabei auf die unmittelbare Wirkung der kreativen Aktivität und die Prozesshaftigkeit schöpferischen Gestaltens gelegt.

Die Annahme, dass jeder Mensch, mit oder ohne Beeinträchtigung, schöpferische Ressourcen in sich trägt, und diese zu einer Erweiterung seiner Kompetenzen beitragen können, wurde im Rahmen dieser Spurensuche bekräftigt.

Abstract

The following paper is an attempt to explore different aspects of creativity and aesthetics regarding complex disability. By observing a class of children with special needs, I will describe the positive aspects and influences creative and artistic activities can have on children with complex disability.

I will especially put my focus on the explicit effects of such creative activities as well as the developmental nature of creative work/processes on said children.

The assumption that every person, regardless of with or without a disability, possesses inherent creative resources which can contribute to their further development of competence and skill was readily ascertained in this academic endeavor.

Vorwort

Aufgrund meiner langjährigen Arbeit mit Menschen mit intellektuellen und körperlichen Einschränkungen, meiner Tätigkeit in einer Basalen Förderklasse eines Sonderpädagogischen Zentrums und meiner Ausbildung zum Kreativtrainer, liegt mein Hauptaugenmerk auf den kreativen Prozessen in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit komplexen Beeinträchtigungen.

Dieser Zugang, und mein Interesse an möglichen nachhaltigen Wirkungen der schöpferisch-ästhetischen Herangehensweise, haben dazu geführt mich dieser Thematik zu widmen.

Baden, im Februar 2016 WALTER CAMERLOHER

EINLEITUNG

„ Kindheit und Spur sind untrennbar.

Sie sind wesentliche Bestandteile des Lebens. “ 1

1.1 Problematik

Kinder mit komplexen Behinderungen (siehe dazu Kapitel 2.2.1) sind in sämtlichen Lebensbereichen auf Unterstützung und professionelle Begleitung angewiesen. Ihre Wahrnehmung der Umwelt ist gemäß ihren Einschränkungen voller Reize, die entsprechend verarbeitet werden müssen. Ihre Möglichkeiten zur Kommunikation sind begrenzt und der befriedigende Umgang mit Emotionen erschwert. Ihnen weitgehende Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz zu ermöglichen, ist eine der zentralen Aufgaben des basalen Förderbereiches.

Viele Erkenntnisse und Herangehensweisen haben sich seit einigen Jahrzehnten etabliert, um Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen Unterstützung und Fördermöglichkeiten bieten zu können. Dazu gehören, neben den klassischen Therapien wie Ergotherapie, Physiotherapie und Logotherapie, die Basale Stimu- lation und Basale Kommunikation, die Sensorische Integration, sowie die Unter- stützte Kommunikation.

Alle diese Methoden bewirken eine individuelle und empathische Hinwendung zu den speziellen Bedürfnissen und Anforderungen von Kindern mit komplexen Beeinträchtigungen.2

Vor allem die Anwendung der Basalen Stimulation hat den Zugang zu Menschen mit erschwerten Möglichkeiten des verbalen und gestischen Ausdrucks erleichtert.

Eine kommunikative Brücke wurde geschaffen, die es ermöglichte, sensorische Wahrnehmung zu vertiefen und direkte Kontaktaufnahme zu unterstützen.3

Der Einsatz kreativer Ausdrucksmöglichkeiten schafft darüber hinaus die einmalige Gelegenheit mit Farbe, Form, Material, Hilfsmitteln und speziell für basale Schülerinnen und Schüler adaptierten Techniken, einen ästhetisch gestalterischen Prozess einzuleiten, der ihren Erfahrungsschatz und ihre Fähigkeit die Welt zu erleben um eine wesentliche Facette bereichert.

Aufbauend auf bisherige Erfahrungen im basalen Förderbereich ist es nahelie- gend, die unmittelbaren und längerfristigen Auswirkungen kreativer Angebote und schöpferischer Prozesse, in der Arbeit mit Kindern mit komplexen Behinderungen, zu beschreiben, zu dokumentieren und auf eine mögliche Nachhaltigkeit zu über- prüfen.

Interessant in diesem Zusammenhang sind Veränderungen im somatisch-taktilen Erfahrungsbereich und etwaige Entwicklungen bezüglich der sozialen und kommunikativen Erlebniswelt basaler Schülerinnen und Schüler.

Anhand einschlägiger Theorien zum Begriff der Kreativität im Allgemeinen, als auch im Kontext sonderpädagogischer Aufgabenstellungen, soll in vorliegender Arbeit der Bogen gespannt werden, über den Bereich ästhetischer Bildung bei Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, ergänzt durch einen inhaltlichen Abriss der Basalen Förderklassen und der im Unterricht eingesetzten Methoden- vielfalt, bis hin zum praktischen Teil der Arbeit, dem Projekt „Spuren hinterlassen“.

Dieser empirische Teil basiert auf teilnehmender Beobachtung und wird durch eine Dokumentation in Form eines Forschertagebuches belegt. Die Projektarbeit inklusive Fotodokumentation fand im Regelunterricht einer basalen Förderklasse statt.

1.2 Zielstellung

Im Rahmen des Jahresprojektes einer basalen Förderklasse wurde der Versuch unternommen herauszufinden, welchen Einfluss kreative Angebote und die damit verbundenen ästhetischen Prozesse im Förderunterricht setzen können.

Darüberhinaus war es von Interesse spezielle Herangehensweisen und Wege der individuellen Anbahnung zu erforschen und zu ergründen.

Die sich daraus ableitende Hypothese lautet:

Jeder Mensch, ungeachtet seiner körperlichen oder kognitiven Voraussetzungen, hat die Fähigkeit zu kreativem Ausdruck. Er wird durch diese Erfahrung gestärkt und erfährt eine Erweiterung der Wahrnehmung seiner Welt.

Aus dieser Annahme resultieren folgende Fragestellungen:

1. Wie sinnvoll ist es im Rahmen der Begleitung und Förderung von Menschen mit schweren komplexen Behinderungen vom Phänomen der Kreativität zu sprechen und was bedeutet dieser Begriff eigentlich?
2. Sind Schülerinnen und Schüler mit schweren Beeinträchtigungen und Verhal- tensauffälligkeiten in der Lage kreativ bzw. schöpferisch tätig zu sein und ist es zulässig in diesem Zusammenhang den Begriff der ästhetischen Bildung einzu- bringen?
3. Welche speziellen Herangehensweisen sind nötig um schöpferische Prozesse mit basalen Kindern anzuregen und können sich daraus individualisierte Tech- niken und Methoden entwickeln, die den jeweiligen Ressourcen gemäß ange- passt sind?
4. Welche nachhaltigen Auswirkungen auf das somatische und emotionale Erle- ben können aus kreativen Prozessen resultieren?

1.3 Methodische Vorgangsweise

Im Zuge der Literaturrecherche in der Vorbereitungsphase dieser schriftlichen Arbeit wurde offenkundig, dass es nur wenige einschlägige Quellen gibt die sich mit der Thematik der Kreativität im basalen Förderbereich auseinandersetzen.

Ins Auge springen zwar zahlreiche Publikationen die ihren Schwerpunkt im Bereich geistiger Behinderung ansiedeln und diesbezüglich auch interessante Aspekte zum vorliegendem Thema bieten, doch sind hier Kinder mit komplexen Behinderungen weitgehend ausgespart.

So war es von Interesse, ausgewählte Quellen in Bezug zum vorliegendem Thema zu setzen und theoretische Erkenntnisse sowie praktische Anwendungen auf ihre Machbarkeit im Basalen Förderbereich zu untersuchen.

Wie bereits Eingangs erwähnt, stützt sich der empirische Teil auf die Führung eines Forschertagebuches und auf teilnehmende Beobachtung. Das gesamte Projekt wurde durch eine Fotodokumentation ergänzt und im Regelunterricht einer basalen Förderklasse abgehalten.

Schwerpunkte dabei waren:

- Eine Beobachtungsphase, in der die speziellen Bedürfnisse der Schülerin- nen und Schüler im Hinblick auf ihre Ressourcen abgeklärt werden.
- Einrichtung eines speziellen Ortes der Erfahrung im vorhandenen Klassen- raum .
- Entwicklung entsprechender individueller Techniken und Methoden, ab- gestimmt auf die besonderen Anforderungen und Ressourcen der Schüle- rinnen und Schüler.
- Verwendung von unterschiedlichen Materialien und Einsatz von Alltags- gegenständen und Naturmaterialien im gestalterischen Kontext.
- Zwischenmenschliche Aspekte, das dialogische Prinzip und Aufmerksam- keit auf die non-verbale Kommunikation standen während des gesamten schöpferischen Prozesses im Vordergrund.

2 ÜBER KREATIVITÄT UND KOMPLEXE BEHINDERUNG

Bevor auf das eigentliche Arbeitsfeld des Basalen Förderbereichs eingegangen wird, werden in diesem Kapitel einige Aspekte des Kreativitätsbegriffs beleuchtet. Über allgemeine Erklärungen, wissenschaftliche Ansätze und geschichtliche Entwicklungen der Kreativitätsforschung soll speziell auf das Verständnis des Kreativitätsphänomens bei Menschen mit Behinderungen eingegangen werden. Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen ästhetische Bildung im Kontext komplexer Behinderungen zu beleuchten.

2.1 Kreativität - ein schwacher Begriff?

Das Wort „ Kreativität “ stammt ursprünglich aus der Theologie und bezeichnet den Creator oder Schöpfergott. Der Creator, als Subjekt gedacht, das aus Nichts Neu- es erschafft. Dem Menschen sprach die theologische Tradition diese Fähigkeit der creatio ab. Der Begriff des Schöpferischen wurde später im 17.Jh. auf heraus- ragende Menschen, sogenannte Genies, projiziert. Diffus blieb der Inhalt des Be- griffs weiterhin.4

Eine andere Ableitung kommt vom englischen Begriff creativity. Doch gibt es kein eigenes Wort dafür in deutscher Sprache, nur Umschreibungen oder „schwerfällige Ersatzgebilde“.5

2.1.1 Der Beginn der Kreativitätsforschung

Bis nach dem zweiten Weltkrieg spielte der Begriff Kreativität eine unbeachtete Rolle in der Wissenschaft. Erst ab 1950 kam es zu einer Häufung von unabhängigen Ereignissen, die für die Kreativitätsforschung ausschlaggebend wurden. Durch einen Vortrag von Joy Paul Guilford, dem damaligen Präsidenten der American Psychological Association, zum Thema creativity, wurde die darauf folgende Kreativitätsforschung eingeläutet.

Der paradoxe Umstand, dass amerikanische Rekruten bei Intelligenztests schlechter abschnitten, als "weniger intelligente" Mitbewerber, liess die Forscher nach einem weiteren Entscheidungsfaktor suchen, der zukünftige Auswahlverfahren mitentscheiden sollte. Mit dem Phänomen der Kreativität, glaubte die Wissenschaft einen solchen Faktor gefunden zu haben.6

Ein zusätzliches weltpolitisches Ereignis verhalf der gezielten Erforschung der Kreativität endgültig zum Durchbruch. Der Vorsprung der Sowjetrepubliken im Kampf um die Vormachtstellung im Weltraum gegenüber ihrem westlichen Kon- trahenten, den Vereinigten Staaten von Amerika, fand seinen Niederschlag im so- genannten Sputnik-Schock, der einer der Höhepunkte des kalten Krieges war. Durch den Abschuss eines russischen Satelliten in die Erdumlaufbahn, mussten die schockierten Amerikaner nun Mittel und Wege finden, diesen Vorsprung des politischen Gegners wettzumachen. So rückte die Suche nach innovativen und kreativen Menschen in den Vordergrund. Finanzielle Mittel flossen in die Kreativi- tätsforschung, um einen machtpolitischen Vorsprung auf technischem und wirt- schaftlichem Gebiet herbeizuführen.

Die Erkenntnisse der Kreativitätsforschung kamen zuerst wirtschaftlichen Berei- chen und Unternehmen zugute, ehe sie auch in der Pädagogik die ästhetische Bildung um einen weiteren Bereich ergänzten, den der Kreativitätsförderung.

Das grundlegende Verständnis der Kreativität als Problemlösungskompetenz, dem hervorbringen neuer Ideen, Handlungsstrategien und Konzepten, hat die Forschung jedoch bis heute bestätigt.7

Es sollen in Folge drei unterschiedliche Blickwinkel auf den Kreativitätsbegriff geworfen werden, um die Komplexität, Vielfältigkeit und auch die Schwierigkeit einer genauen Eingrenzung dieses Phänomens deutlich zu machen.

2.1.2 Kreativität und Flow bei Cziksentmihaly

Der amerikanische Kreativitätsforscher Cziksentmihaly sieht Kreativität zwar als Zustand eines erfüllten Lebens, beschreibt sie aber mit starkem Fokus auf die kul-turelle Leistung für die Gemeinschaft und als elitäre Gabe die nur wenigen Auserwählten zugänglich ist.

So unterscheidet er kreative Menschen in folgende 3 Kategorien:

1) Brilliante Personen. Sie sind eloquent und intelligent, hinterlassen aber kei- nen bleibenden Wert für die Umwelt.
2) Personen die persönlich kreativ sind. Sie schaffen aber keine kulturelle Leistung für die Allgemeinheit.
3) Große Kreativität. Personen wie Picasso oder da Vinci, sie leisten einen großen Beitrag zur Kultur.

Folglich ist nach Cziksentmihaly Kreativität die Interaktion zwischen individuellem Denken und sozio-kulturellem Kontext.8

Er entwirft ein Systemmodell mit 3 Komponenten:

1) Die Domäne - sie bezieht sich auf Technik, Musik, Malerei, ...
2) Das Feld - dieses sind Personen welche die Domäne überwachen:Professoren, Wissenschaftler, Kritiker, ...
3) Das Individuum - es entwickelt mit den Symbolen der Domäne neue Ideen, ein neues Muster, also Künstler, Forscher, Musiker, ...

Wie wichtig seiner Meinung nach eine Kombination von Feld, Domäne und Indivi- duum ist, versucht Cziksentmihaly am Beispiel Florenz in der Renaissance zwischen 1400 und 1425 aufzuzeigen. Gerade in dieser kurzen Zeitspanne ent- standen die einflussreichsten Werke der Kunstgeschichte und es gab einschnei- dende architektonische Erkenntnisse und Zugang zu altem Wissen der Baukunst der Römerzeit. Gleichzeitig wollten die Stadtherren ihre Stadt zur Schönsten der damaligen Zeit machen. Sie beteiligten sich aktiv an der Auswahl von Kunst- werken, spornten somit die Künstler an immer bessere und ausgefeiltere Werke zu schaffen und steigerten so die Produktivität. Ein kleines Beispiel für den Einfluss des Feldes auf die Qualität der Kreativität.9

„ Aufgrund dieser untrennbaren Verknüpfung mußman Kreativität letzten Endes als ein Phänomen betrachten, das nicht im Inneren des einzelnen, sondern in den Wechselwirkungen eines Systems zum Ausdruck kommt. “ 10

Laut Cziksentmihaly vereinen kreative Menschen widersprüchliche Extreme in sich. Sie bilden keine individuelle Einheit, sondern eine individuelle Vielheit. Wie die Farbe Weiß, die alle Nuancen des Spektrums enthält, neigen sie dazu, das gesamte Spektrum menschlicher Möglichkeiten in sich zu vereinen.11

Kritik am Ansatz von Cziksentmihaly und anderen ähnlich gelagerten Kreativitäts- forschern kommt von Theunissen und Braun.12 Sie sehen diese Begriffsbestim- mungen für die Arbeit mit Menschen mit intellektuellen Einschränkungen kaum anwendbar, da sie als zentrales Merkmal von Kreativität Brauchbarkeit und Nütz- lichkeit für die Gemeinschaft fordern und einen elitären Blick auf die Genialität Einzelner bevorzugen.

Einem pädagogischen Ansatz etwas näher zu gekommen scheint Cziksentmihaly hingegen wenn er vom Zustand des sogenannten Flow spricht. So kann dieses Insich-versunken-Sein gerade bei Kindern im Tun beobachtet werden und jeder der sich einer Tätigkeit voll und ganz hinzugeben vermag, kennt diesen Zustand. Doch erst wenn eine ausgewogene Balance zwischen Anforderung und Fähigkeiten vorhanden ist, kann „Tun in Versunkenheit“ (= Flow) entstehen. Sonst kann es entweder zu Über- oder Unterforderung kommen, die sich in Angst beziehungsweise Langeweile auszudrücken vermag.13

2.1.3 Von Hentig über einen "schwachen Begriff“

Hartmut von Hentig stellt in seiner Schrift, „ Kreativität - Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff “ 14, sämtliche wissenschaftliche Annäherungen lustvoll in Frage, ungeachtet bisheriger Erkenntnisse namhafter Experten. Für ihn ist Kreativität ein Begriff voller Versprechungen, der wie kein anderer so viele Heils- erwartungen weckt, quer durch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, sei es nun Wirtschaft, Technik, Politik und Kunst, Pädagogik oder Bildung.15

Von Hentig entwirft in seinem Essay 2 Betrachtungsweisen:

1) Zum einen haben wir Kreativität: Wir nutzen sie, wir verwenden sie und setzen sie unendlich ein.
2) Andererseits drückt Kreativität die Not aus, in der wir uns befinden: Sie fehlt uns, wir sollten sie mehr entwickeln, wir sind hilflos ohne sie und wir würden gerne ohne Ende auf sie zugreifen können und ihrer habhaft sein.16

Darüberhinaus unterscheidet Hentig Kreativität als Mittel und als Ziel:

- Als Mittel, wird sie als Alternative zu eingefahrenen Lösungsmustern und einer Ökonomisierung der Lebenskraft gesehen.
- Der Zielaspekt der Kreativität ist ein erfülltes, schöpferisches Leben anzu- streben.

Dies beinhaltet eine gesteigerte Hoffnung, die schließlich in einer letzten Hoffnung gipfelt. Beide Ansichten jedoch entbehren jeder Grundlage und weitgehend unge- klärt bliebe dabei der Begriff der Kreativität, so Hentig. Unbestritten sei der Aspekt der Kreativität als Korrektiv in der Gesellschaft. Sie übernehme die Funktion eines Gegenmittels zu unterdrückter Spontanität und Humanität, wäre aber als ein sich verselbständigtes Ziel gänzlich abzulehnen, wenn nicht gar zu fürchten.17 Hentig stellt die Frage, ob es Bedingungen geben kann, die kreativitätsförderlicher sind als andere.

Kann Kreativität unter jeden Bedingungen und überall stattfinden?

Mit einem Blick auf die Bedürfnispyramide will Hentig hier eine mögliche Antwort liefern. Ein Hungernder wird sich zum Beispiel wenig Gedanken über Kreativität machen, ist er doch primär mit seinem täglichen existentiellen Überlebenskampf beschäftigt.

Darüberhinaus ist Hentig der Ansicht, dass außerhalb der üblichen Bahnen zu denken nicht die einzige Komponente für Kreativität sein kann. Neues zu erfinden mag nur ein Teil des Phänomens, des Konstrukts Kreativität, sein.

Hentig zitiert Matussek (1974) aus "Kreativität als Chance", wenn er schreibt:

„ Jeder Mensch kann schöpferisch sein, Kreativität ist nicht nur Genies vorbehalten “ 18

Hier findet eine längst überfällige Demokratisierung des Kreativitätsbegriffes statt. Matussek zeigt auf, dass Kreativität nicht länger begnadeten oder privilegierten Individuen vorbehalten ist, sondern jedem Menschen innewohnt.19

Was bedeutet dies nun für eine pädagogische Sichtweise?

Die Pädagogik hinkte der Kreativitätsforschung einige Zeit hinterher und folgte ihr später mit dem Begriff der „Kreativitätsförderung“ (früher: „Ästhetische Bildung “ ) im Unterricht.

Hentig betrachtet diese Entwicklung mit einiger Distanz, er schreibt:

„ ... Der daraus erwachsenen pädagogischen Bewegung habe ich skeptische Sympathie entgegengebracht. Meine Sympathie rührt hauptsächlich von meinem Interesse an der Kunst her, an der Kunst im Werde- und Bildungsgang junger Menschen. Ihre Wirkungen sind stark und durch keine Didaktik wirklich zu domestizieren. “ 20

Hentigs Interesse für Kunst ist dabei ohne Vorbehalte. Er sieht die Kunst als Tabubrecher. Sie verletzt gewohnte Denk- und Wahrnehmungsmuster, wird zum Skandal, sucht neue Formen und schließlich die Formlosigkeit.21

2.1.4 Kreative Aspekte bei Daniela Braun

Braun ist der Ansicht, dass der Mensch von Natur aus kreativ sei. Da er schon von jeher, durch Problemlösungsstrategien, sein überleben sichern musste. Hierin un- terscheidet er sich von anderen Lebewesen, durch seine Fähigkeit der komplexen Vernetzung von Erfahrungen und den damit verbundenen Reflexionsprozessen.22

Im Vergleich zur Fantasie ist Kreativität jedoch immer mit Handlung verbunden die zu einem Ergebnis führt. Dies kann vor allem auch durch unbewusste Erfahrungen, aus dem Unterbewussten aufsteigende inspirierende „Geistesblitze“ erfolgen, die nicht selten durch zufällige Ereignisse angeregt werden. Dies bedarf einer offenen, neugierigen und empfänglichen Haltung, die Zufälle konstruktiv in Lösungswege miteinbezieht. Kreativität ist in diesem Sinne ein Findungsverhalten, mit der Bereitschaft des Aufgreifens von Zufälligem.23

Daniela Braun sieht Kreativität in alltäglichen Situationen als Problemlösungs- ressource und im ästhetischen Kontext zum Erschaffen von neuen Ausdrucks- formen.

Den kindlichen Bildungsprozessen entsprechend ist nach Braun Kreativität der Motor für das Entdecken, das Experimentieren und das neugierige Erforschen aller Phänomene, denen Kinder ständig ausgesetzt sind. Kreativität zu fördern entspricht dem Bildungsgedanken somit in besonderer Weise.

Zwar bedarf es grundlegender Denkleistungen, damit sich Kreativität entfalten kann, aber ein Zusammenhang zur Höhe des Intelligenzquotienten konnte bis heute nicht festgestellt werden. Kreativität ist vielmehr eine Grunddimension der kognitiven Fähigkeiten eines jeden Menschen.24

Über Kreativität und komplexe Behinderung 17

Dieser Blickwinkel spricht zweifelsfrei für die Annahme, dass kreatives Tun Menschen mit komplexen Behinderungen nicht fremd ist, ihnen vielmehr als Aspekt ihres gesamten Seins mitgegeben ist.

Der amerikanische Pädagoge John Dewey (1859-1952) hat den schöpferischen Prozess mit einem Problemlösungsvorgang verglichen und in fünf Phasen unterteilt, die das kreative Denken und Handeln beschreiben:

- Die Vorbereitungsphase (eine Herausforderung, ein Problem taucht auf)
- Die Inkubationsphase (unbewusstes Bearbeiten des Problems)
- Die Illuminationsphase (plötzliche Einsicht)
- Die Produktionsphase (umsetzen der Lösung)
- Die Verifikationsphase (die Lösung wird erprobt und getestet)25

Jede sinnliche Wahrnehmung wird zu ästhetischer Erfahrung die Kompetenzen fördert. Durch sinnliche Erfahrung gewinnt das Kind Erkenntnisse und dieser Vorgang dient dem Aufbau eines stabilen Selbst.26

Im Folgenden soll auf die stabilitätsfördernde Komponente kreativer Betätigung hingewiesen werden.

2.1.5 Kreativität und Resilienz

Im allgemeinen versteht man unter Resilienz die psychische Widerstandskraft eines Menschen der sich trotz widriger Lebensumstände, sozialer Risikofaktoren und traumatischer Lebenskrisen, seine seelische Stabilität bewahrt hat.27

Diese Menschen entwickeln in späteren Jahren kaum Verhaltensauffälligkeiten und erleiden ebenso wenig Schaden an ihrer psychischen Gesundheit.

Zu den resilienzfördernden Faktoren bei Kindern zählen in erster Linie verlässliche Bezugspersonen, die als positives Modell zur Krisenbewältigung dienen, ein wertschätzendes Klima in Bildungseinrichtungen und angemessene, individuell angepasste Leistungsanforderungen.

Es bestehen vor allem dann gute Chancen auf ein gelingendes Leben, wenn die Balance zwischen negativen Einflüssen und starken Schutzfaktoren stimmt.28 Solche Kinder entwickeln Problemlösungsfähigkeiten, haben kommunikative Kompetenzen, sowie die Fähigkeit ihre Bedürfnisse zu äußern und suchen individuelle Wege zur Bewältigung von Herausforderungen um an ein Ziel zu gelangen. Hierfür ist Kreativität notwendig. Sie ist somit ebenfalls ein wesentlicher Faktor zur Entwicklung resilienzfördernder Kompetenzen.

Kinder sind in der Lage durch kreative Prozesse Widerstandskraft und Selbstwirksamkeit aufzubauen, umgekehrt ist es ihnen aber auch möglich durch die an sie gestellten Herausforderungen kreative Fähigkeiten zu entwickeln.

Unter den unterschiedlichen Merkmalen für Kreativität wie Problemsensitivität, Kombinationsdenken, Flexibilität, oder Fantasie, ist gerade für den Bereich der Kinder mit komplexen Behinderungen die Sensibilität von großer Bedeutung.29 Gerade jene Kinder nehmen ihre Umwelt ausschließlich über unterschiedlich aus- geprägte Kanäle ihrer Sinne war und sind daher besonders empfindlich auf Reize und Einflüsse der direkten Lebensumwelt. Diese Sensibilität kann Emotionen aus- lösen die sich als Trauer, Wut, Freude, Interesse, Neugier aber auch Widerstand manifestieren. In der pädagogischen Arbeit im basalen Förderbereich hat deshalb der achtsame Umgang mit diesen Phänomenen einen hohen Stellenwert.

In Bezug auf Resilienz kann die Sensibilität in kreativen Prozessen als Aspekt der Selbstwirksamkeit betrachtet werden. Die so gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse über die Wirksamkeit eigenen Handelns lassen Alternativlösungen und flexible Handlungsspielräume erst möglich werden.30

Zusammenfassend:

Die jüngere Kreativitätsforschung versucht vernetzt mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen (Psychologie, Neurowissenschaft, usw.) eine aktuelle Deutung des Phänomens der Kreativität zu entwerfen. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich Kreativität aus den Aspekten Wert und Neuheit zusammensetzt:

„ Man kann mit „ kreativ “ alle Formen menschlicher Aktivität bezeichnen die neu und wertvoll sind. (...) Erst beide Teilbegriffe umfassen also das, was man als „ kreativ “ bezeichnen kann. Der Kreativitätsbegriff bildet die Schnittmenge aus den Begriffen Neuheit und Wert. Die Unterscheidung von neu und alt ist hierbei allerdings nicht starr, sondern selbst ein situativer und sozialer Prozess der permanenten Neudefinition. “ 31

Die permanente Neudefinition macht schließlich das Wesen eines Kreativitätsverständnisses aus, das sich nicht starren Strukturen und Charakteristika unterwirft, sondern sich immer wieder der Situation gemäß neu erfindet und so aus sich heraus schöpft, gedeiht und lebt, im Moment des Seins.

Betrachten wir die kreative Arbeit mit Personen mit Beeinträchtigungen als dem jeweiligen Augenblick verpflichtet, so sind wir dem Menschen, mit all seinen Ressourcen und seinem ganzheitlichen Wesen, am nächsten.

2.2 Der Kreativitätsbegriff im Kontext komplexer Behinderung

Wie weit ist nun der Kreativitätsbegriff bei Kindern mit komplexen Behinderungen überhaupt zulässig? Gehört nicht ein gewisses Maß an kognitiven Fähigkeiten zur Grundvoraussetzung um kreativ tätig zu sein, so wie es bei Csikszentmihalyi und anderen Kreativitätsforschern propagiert wird?32

Diesen Fragen soll in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden.

Zuerst wird jedoch der Begriff der komplexen Behinderung näher beleuchtet, da dieser den älteren und gebräuchlicheren der schwerst-mehrfach Behinderung in vorliegender Arbeit ersetzen soll. Diese gängige Bezeichnung, die noch sehr verbreitet ist, beinhaltet bereits eine Determinierung und Festlegung in Richtung Mangelhaftigkeit, die somit eine defizitäre Sichtweise begünstigen.

Dieser Tendenz soll durch den Begriff der komplexen Behinderung vorgebeugt werden und entspricht auch der Realität, da es sich meist um Diagnosen auf mehreren Ebenen handelt, die sich in einer komplexen Symptomatik zeigen.

2.2.1 Komplexe Behinderung - eine Klärung

Warum der Begriff komplexe Behinderung, anstatt des bisher gebräuchlichen und noch weitgehend im Umlauf befindlichen schwerst-mehrfach Behinderung ?

Theunissen beschreibt ausführlich die Debatte in Fachkreisen anglikanischer Län- der, die Begriffe wie mental handicap oder mental retardation durch learning disabilities beziehungsweise learning difficulties zu ersetzen gedenken.33 Die Schwierigkeit besteht hierbei darin, dass noch nicht weitreichend diskutiert wurde, wie sich dieser Personenkreis von Menschen mit partiellen Lernschwächen, die gemeinhin ebenfalls als Personen mit Lernschwierigkeiten bezeichnet werden, abheben soll. Ähnlich ist die Situation in Deutschland, wo People First Gruppen den Begriff Menschen mit Lernschwierigkeiten bevorzugen. Diesem Wunsch sollte Rechnung getragen werden, kommt er doch von den Betroffenen selbst.34

Nicht restlos geklärt ist jedoch in diesem Zusammenhang der völlige Verzicht auf den Behindertenbegriff, da die Politik und ihre Entscheidungsträger dem fachli- chen Diskurs bislang nicht gefolgt sind, wenn es um Ansprüche auf Unterstützung und soziale Leistungen geht, die in Bezug auf den Behindertenbegriff gesetzlich geregelt sind.

Theunissen schlägt deshalb vor den Begriff komplexe Behinderung zu verwenden, da er auch die Personengruppe mit hohem Unterstützungsbedarf miteinschließt und die Gefahr einer Ausgrenzung oder Aussonderung minimiert wird.35

Da es in vorliegender Arbeit ausschließlich um den Personenkreis von Schülerinnen und Schülern mit zum Teil sehr hohen Unterstützungsbedarf geht, soll hier im Sinne Theunissens der Begriff der komplexen Behinderung Verwendung finden, da er den defizitorientierten Begriff schwerst-mehrfach Behinderung neutralisiert und so den Betroffenen mit größerer Wertschätzung und einer offeneren Haltung, ihren Entwicklungsmöglichkeiten gegenüber, begegnet.

2.2.2 Kreativität und intellektuelle Beeinträchtigung - geht das?

Über die Beschäftigung mit dem vorherrschenden Kreativitätsbegriff ist deutlich geworden, dass sich die US-amerikanische Kreativitätsforschung dem Phänomen hauptsächlich auf Grund marktwirtschaftlicher Zielvorgaben angenähert hat. Dies beinhaltet die Sichtweise, dass nur Menschen mit einem durchschnittlichen bis hohem Intelligenzgrad in der Lage sind schöpferisch und kreativ tätig zu sein, sind es doch gerade jene, unter denen außergewöhnliche Begabungen erkannt werden, die zumeist ökonomischen Interessen und der Wettbewerbsfähigkeit am Wirtschaftsmarkt verpflichtet sind.

Durch Modelle, wie der klassischen Kreativitätsforschung, wurde Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die Fähigkeit zum kreativen Ausdruck weitgehend abgesprochen.

Im Gegensatz dazu gibt es seit einigen Jahren wissenschaftliche Ansätze, welche diese Betrachtungsweise kritisch hinterfragen und die Kreativitätsdebatte aus der Subjektperspektive zu beleuchten versuchen.36 Aus dieser Sichtweise heraus ist dann ein Vorgang als kreativ zu bezeichnen, wenn die Wertschätzung und der Neuartigkeitscharakter der geschaffenen Information vom Erzeuger wahrgenom- men wird, identitätsstiftend ist und ein befriedigendes „Kreativitätserlebnis“ ermög- licht.37

Theunissen (2006) zitiert in diesem Zusammenhang Karl-Heinz Brodbeck:

„ Wenn zum Beispiel ein geistig schwerst behindertes Kind zum ersten Mal mit seinen Händen im Sand oder mit Farbe auf einem Papierbogen Spuren zieht, so ist dieses ein kreativer Akt, insofern die Handlung für die betreffende Person völlig neu ist und zu einer inneren Befriedigung, zu einem positiven Selbsterleben beiträgt. Wird diese Handlung mehrfach wiederholt, verliert sie den Charakter des Neuartigen, und sie gerinnt womöglich zur Routine, bei der zugleich ihre subjektive

Bedeutsamkeit zwar nicht gänzlich aufgehoben wird, jedoch verflacht. “ 38

Andererseits ist natürlich auch die Frage nach dem Neuigkeitswert und dem Nutzen für die Gesellschaft von Belang. Im Idealfall sollte ein kreatives Produkt sowohl für den Produzenten als auch für die Gesellschaft, neuartig und wertvoll sein, sodass der interne und externe Bezugsrahmen gleichwertig nebeneinander stehen.39

Prinzipiell gilt in neueren Ansätzen, dass Kreativität nicht mehr hierarchisch betrachtet wird, sondern ressourcenorientiert und entwicklungsbezogen vom Menschen aus. Dazu bedarf es einer „ Offenheit des Einzelnen für all seine Erfahrun gen"40 und eines „ achtsamen Wahrnehmens “ 41 , welches eine Sensitivität auf allen Sinnesgebieten beinhaltet und zweckfreie Spiel-Situationen benötigt, die durch die Abwesenheit von Lärm, Ablenkung und Störung gekennzeichnet sind. An dieser Stelle sei auf den "Malort" von Arno Stern42 verwiesen, der im empirischen Teil dieser Arbeit noch ausführlich mit seinem Konzept des geschlossenen Raumes frei von äußeren Reizen, vorgestellt wird.

K.H. Brodbeck zeigt mit seiner Beschreibung kreativer Prozesse auf, dass diese in allem alltäglichen Handeln anzutreffen sind:

„ Offenbar gehört die einfache Form kreativen Handelns so sehr zu unserer ureigensten Natur, dass wir es gar nicht bemerken. Unser Geist (unser Gehirn) agiert unentwegt kreativ. Die bloße Tatsache, daßwir leben, ist schon die Entfaltung unserer natürlichen Kreativität. “ 43

Dieser Ansatz belegt eindeutig, dass allen Menschen auf einer basalen Ebene die Möglichkeit kreativen Handelns uneingeschränkt zugestanden wird. Ein Aspekt, der in der Arbeit mit Personen mit komplexen Behinderungen von zentraler Be- deutung ist.44

Der Vorschlag, die Sichtweise der unbedingten Neuartigkeit eines Produktes, als kreatives Bewertungskriterium, zu hinterfragen, macht den Weg frei für einen un- getrübten Blick auf kreative Prozesse von Menschen mit komplexen Beeinträchti-gungen. Sie erleben Kreativität in ihrer natürlichsten und alltäglichsten Form, als Selbstausdruck und senso-motorisches Erleben.45

Hier den Prozess des Handelns zu beachten und die Bewertung des Ergebnisses als Einordnung in einen individuellen Entwicklungsverlauf zu interpretieren, fokus- siert den Menschen und weniger seine Produktivität im gesellschaftlichen Sinne.46

Was sind nun die förderlichen, unterstützenden Aspekte eines kreativen Prozesses und welche Einflüsse erschweren schöpferisches Handeln beziehungsweise unterbinden es ganz?

In der Arbeit mit Menschen mit Einschränkungen sind oft externe Bedingungen von Bedeutung, da speziell Personen mit komplexen Sinnesbeeinträchtigungen und Störungen in der Wahrnehmung sensibel und atmosphärisch auf äußere Reize reagieren. In diesem Zusammenhang unterscheiden Theunissen und Braun in kreativitäts-fördernde und kreativitätshemmende Umwelteinflüsse.47

Die folgenden 5 Bereiche sollen den kreativitätsfördernden Aspekt erhellen:

- Aktivierung

Die Reizangebote sollten wohldosiert sein, ein Über- beziehungsweise Unteran- gebot kann sich hemmend auswirken. Individuelle Produktionen sollen akzeptiert und gefördert werden, individuelles Verhalten wie Eigenständigkeit, Spontanität und unübliches Explorationsverhalten ebenso. Frustrationserfahrungen im kreati- ven Prozess lassen sich durch Angebote der Bedürfnisbefriedigung in positive Er- lebniskultur umwandeln.

- Enthemmung

Durch angesammelte Erfahrungen im Laufe des Lebens eines Menschen können sich aktivitätshemmende Faktoren ansammeln und Energie abzapfen. Dem sollte durch spielerische Verhaltenselemente und einer lockeren und offenen Atmosphäre begegnet werden. Durch Minimierung von Leistungsdruck und Erfolgszwang werden Handlungsspielräume erweitert.

- Motivierende Bedingungen

Der Lösungsweg, der kreative Prozess, steht im Mittelpunkt im Gegensatz zur Ergebnisbewertung. Die intrinsische Lernmotivation ist wesentlich. Gemeint ist hier der Weg zur Problembearbeitung und das schöpferische Tätig-sein an sich und weniger der sichtbare und gleich beachtete Erfolg. Experimentieren, Ausprobieren und Anknüpfen an Interessen wird gefördert und unterstützt.

- Unabhängigkeit

Kreatives Handeln kann sich nur in einem Raum der relativen Freiheit ausdrücken, deshalb sollte es möglich sein jenseits von Normen und Werten agieren zu dürfen. Lern- und Sozialisierungsfelder, wie die klassische Unterrichtssituation, sollten daher demokratisch-kooperativ gestaltet sein und individuelle Besonderheiten akzeptieren.

- Gruppendynamik

Als hemmende Einflüsse wären hier zu nennen Aggressionen, soziale Konflikte und Konzentrationsstörungen durch Ablenkung. Konträr dazu zählen zu den förderlichen Aspekten, gegenseitige Stärkung, Stimulierung, emotionale Sicherheit und Möglichkeiten sozialer Erfahrungen. Im Hinblick auf die Sichtweise der Heilpädagogik vor noch 30-40 Jahren, die behinderten Menschen kaum kreatives Potential und Ausdrucksmöglichkeiten zugesprochen hatte, ist in den letzten Jahren ein deutlicher Wandel dieser Position eingetreten. Dank der Kompetenz- und Stärkenperspektive ist es zu einem Umbruch gekommen, indem immer mehr davon ausgegangen wird, dass die jeweilige Behinderung in den kreativen Prozess einfließt, aber keinen Mangel oder Defizit mehr darstellt.48

In diesem Sinne gilt es auch keine Mängel abzubauen oder eine Anpassung an normierte Werte zu erreichen, sondern zu den individuellen Lebensumständen einen kreativen Zugang zu finden und Spurensuche nach kreativen Potentialen und Kompetenzen zu betreiben.49

Wie wirkt sich nun Kreativität auf das subjektive Ich-Gefühl von Personen mit Beeinträchtigungen aus und inwiefern bietet dies eine Chance, individuelle Sichtweisen zum Ausdruck zu bringen?

2.2.3 Kreativität und Identität

Menschen mit komplexen Behinderungen haben die Möglichkeit durch Kreativität sowohl Ausdrücke als auch Eindrücke zu hinterlassen. Kreative Prozesse bieten ein breites Spektrum von Ausdrucksformen ausgehend von individuellen Interessen, Bedürfnissen und Sichtweisen einer Person. Für Menschen mit Einschränkungen bietet sich hier die Chance, ihrer ureigenen Sicht von Welt Ausdruck zu verleihen. Somit bietet der kreative Prozess diesem Personenkreis ein Feld gesamtgesellschaftlicher Teilhabe, getragen von ihren individuellen Kompetenzen und ihren ganz persönlichen Ausdrucksformen.

Damit wird ein wesentlicher Beitrag zur Verwirklichung sozialer Integration auf dem Weg zur Inklusion geschaffen.50

Wenn zugelassen wird, dass kreatives Wirken behinderter Menschen in unserem Denken und Handeln Spuren hinterlässt, können die Ausdrücke ihrer Kreativität zu sehr persönlichen und wertvollen Eindrücken werden. Eine neue Art des Zugangs und verstehenden Dialogs entsteht mit den Handelnden als „kreative Autoren“.51

Im Gegensatz zum Betrachter, dem nur die Dimension des Eindrucks erschlossen wird, kann beim schöpferisch tätigen Individuum die zweidimensionale Wirkung von Kreativität, sowohl Ausdruck ermöglichen, als auch Eindruck hinterlassen.

Theunissen zitiert in diesem Zusammenhang Daniela Braun (1999), die von den verschiedenen Ebenen der Manifestation des „Neuen“ spricht. „Das Neue“, oft als Kernkriterium für Kreativität bezeichnet, ist jedoch nicht mit innovativ gleichzuset- zen.

Das kreativ neu Geschaffene ereignet sich laut Braun auf unterschiedlichen Ebenen.52

- Individuelle Ebene: Jeder Mensch schafft etwas subjektiv „Neues“.
- Soziale Ebene: Das „Neue“ manifestiert sich stets im direkten sozialen und zwischenmenschlichen Umfeld.
- G esellschaftliche Ebene: Kollektive Beachtung und Wirkung sind Konse- quenzen des „Neuen“.

Obwohl eine Definition von Identität schwer fällt, lässt sich festhalten, dass sich Identität aus einer Kombination von intra- und interindividuellen Entwicklungserfahrungen zusammensetzt.

Dies bedeutet, Identität ist „die innere Gewissheit eines Subjekts“ über sich selbst. Zusätzlich wird jedoch auf die Art und Weise der Interaktion zwischen dem Individuum und seiner sozio-emotionalen Umwelt hingewiesen, welche erst die Qualität dieser Selbst-Gewissheit bestimmt.

Kreativität, als identifikationsstiftendes Werkzeug, beinhaltet alle Variablen, die für ein Erleben eines eigenen Selbst notwendig sind. Hieraus ist die Aufforderung abzuleiten Kindern und Jugendlichen möglichst viele Bereiche und Räume für kreatives Handeln zu eröffnen, um das Potential kreativen Wirkens auf das eigene Identitätserleben nutzbar zu machen.53

„ Der Gewinn der Kreativität liegt (...) in einem hohen Ichbewusstsein, was Zu- friedenheit mit sich selbst und daher ein verbessertes Lebensgefühl bewirkt. “ 54

Daraus folgt die Einsicht, dass Kreativität, für Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen, auch als Basispool für einen konstruktiveren Umgang mit den eigenen „Behinderungserfahrungen“ angesehen werden kann.

2.3 Ästhetische Bildung - wozu?

„ Die Kunst reißt die Hüllen herunter, die den Ausdruck der Dinge der Erfahrung verbergen. Stumpf durch Routine werden wir durch sie neu belebt und fähig, uns selbst zu vergessen, indem wir uns in dem Vergnügen wiederfinden, die Welt um uns in ihren verschiedenartigen Eigenschaften und Formen zu erfahren.

Sie fängt jede Nuance der in den Dingen befindlichen Ausdrucksfähigkeit auf und ordnet sie zu einer neuen Lebenserfahrung. “ 55

Der Begriff Ästhetik leitet sich vom griechischen Stammwort aisthesis ab, was soviel bedeutet wie „Vollkommenheit der sinnlichen Wahrnehmung“.

Theunissen (1997) bevorzugt den Begriff Bildung anstelle von Erziehung, wie sie eigentlich der „Gründervater“ der Ästhetischen Erziehung, Friedrich Schiller (1795), schon vor 200 Jahren propagierte. Jener verfolgte ein Programm, das eine „Veredelung des Charakters und der Gesellschaft“, d.h. Humanität hervorbringen und bewirken sollte.56 Für Theunissen und auch für Dietrich ist konsequenterweise der Begriff Bildung näher am Subjekt und beschreibt eine Perspektive, welche die eigene Aktivität und Leistung des Individuums in das Zentrum der Betrachtung rückt.57

Sinnliche Wahrnehmung deutet auf unsere Sinne hin, mit denen Selbst- als auch Welterfahrungen gemacht werden können.58 Ästhetische Empfindung und Erfahrung entfaltet sich im basalen Bereich hauptsächlich durch den Umgang mit ästhetischem Material, welches vielfältige Sinneseindrücke und experimentelle Handlungen ermöglicht. Diese Art Materialien sind gestaltbar, veränderbar und lassen zahlreiche sensorische Eindrücke zu.

Ästhetische Bildung als eine „wesentliche Dimension der leib-geistigen Ausein- andersetzung“ mit der Welt ist demnach zu fördern, weil Kinder die Fähigkeit er- werben, sich selbst und die Welt in Symbolen ausdrücken zu können.59 Diese Symbolisierungsfähigkeit entwickelt sich durch vertiefte Formen des Ausdrucks, durch innere Wahrnehmung, Empfindung und äußeres Darstellen und Gestalten. Durch ästhetische Bildung geschieht eine Selbst-Werdung durch Selbst-Bildung, die Emotion, Motorik, Kognition und soziales Umfeld einbezieht und durchdringt.60

Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey (1859-1952) spricht in diesem Zusammenhang vom Lernen das gänzlich auf Erfahrung aufbaut.61

In einem Lernumfeld, das aus vielfältigen Materialien und einer anregenden, experimentierfreudigen Atmosphäre besteht, können Kinder ihr kreatives Potential entdecken und soziales Verhalten durch kooperative Interaktion entwickeln. Dem Erwachsenen, dem Pädagogen, kommt dabei die Rolle des Wegbegleiters zu, der die Erfahrungsprozesse der Kinder zulässt und ermöglicht.

In der Vermittlung von Kunst sieht Dewey die einmalige Chance, Erfahrungen anhand anregender künstlerischer Produktionen stattfinden zu lassen.

In Folge werden durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gestaltungs- und Ausdrucksverlangen kognitive und kommunikative Fähigkeiten entwickelt, Zu- sammenhänge der Welt interpretiert, soziale Beziehungen aufgebaut, und vor allem ein Bewusstsein für das eigene Selbst und die eigene Selbstwirksamkeit geschaffen.62

Kinder werden aus dieser Sichtweise als aktive Gestalter ihrer eigenen Bildungs- prozesse gesehen. Alle Erfahrungen und somit auch Bildungsinhalte werden durch den subjektiven Verarbeitungsprozess des Kindes in seinem Inneren aktiv konstruiert und entwickelt. Sie konstruieren eine Welt, erwerben Fähigkeiten durch experimentieren, planen, ausprobieren und wachsen an Erfolgen und Miss- erfolgen. Innere Strukturen bilden sich, anhand derer sich alles Denken und Fühlen des Kindes nachhaltig aufbaut. Somit sind Bildungsprozesse von Kindern immer auch Selbst-Bildungsprozesse. Das Kind ist Konstrukteur seiner Welt und seines eigenen Selbst.63

Die aktuelle Hirnforschung bestätigt einhellig diesen konstruktivistischen Ansatz, des inneren Verarbeitungsprozesses des Kindes. Sie zeigt auf, das Prozesse der kindlichen Wahrnehmung nicht objektive äußere Zustände wiedergeben, sondern sich aus subjektiven Konstruktionen und individuellen Auslegungen zusammen-setzen.64 Dies lässt den Schluss zu, dass ästhetische Bildung effizient nur unter Aufgreifen der individuellen Potentiale des einzelnen Individuums geschehen kann.

Wie sehr sich überdies der emotionale Aspekt von kreativen Prozessen auf die geistige und seelische Entwicklung von Kindern auswirken kann, zeigen die bei- den Neurobiologen Spitzer und Singer. Sie verweisen deutlich auf die Bedeutung der Freude und des Glücksgefühls, dass durch Erfolgserlebnisse im kreativen Tun von Kindern ausgelöst wird. Diese emotionalen Erfahrungen sind unerlässlich für positive Motivationserlebnisse und die kognitive Entwicklungsfähigkeit des Gehirns im Speziellen.65

Theunissen beschreibt ästhetische Bildung als das Anknüpfen an elementare Verhaltens- und Erlebensweisen, die Piaget (1975a) als sensomotorische Aktivitäten beschrieben hat und misst ihnen persönlichkeitsbildenden Wert bei.66

In Bezug auf Menschen mit intellektuellen Behinderungen schreibt er:

“ Unterästhetischer Erziehung als basale Pädagogik verstehen wir den Versuch, mit einem geistig behinderten Menschen in Beziehung zu treten und ihn auf dem Hintergrund dieses zwischenmenschlichen Verhältnisses mittelsästhetischer

Materialien und Prozesse zur Entwicklung seiner Selbstdarstellungs- und Selbst verwirklichungsmöglichkeiten in sozialer Bezogenheit zu befähigen. “ 67

Die Bedeutsamkeit ästhetischer Bildung, die sich als eine basale Pädagogik begreift und sich Menschen mit komplexen Behinderungen zuwendet, beschreibt Theunissen in vierfacher Hinsicht:68

1) Sie nimmt eine aufbauende-entwicklungsfördernde Funktion wahr, die eine generelle Aktivierung der betroffenen Person zum Ziele hat, mittels Initiierung basal-ästhetischer Lernprozesse.
2) Es kommt ihr eine therapeutisch-intervenierende Funktion zu, indem sie durch basal-ästhetische Stimulation partielle Ausfälle und Störungen der Wahrnehmung, sowie der sensorischen oder sensomotorischen Entwicklung auszugleichen versucht.
3) Es wird ihr eine ganzheitlich-bildende Funktion zugeschrieben, durch Initiierung basaler Lernprozesse und Wiederentdeckung der Sinne. Sie knüpft an dem „Wandel kindlicher Aneignungsformen“ an und versucht den Verlust des Lernens aus „erster Hand“, durch eine basale Entwicklung sinn licher Fähigkeiten in realen Lebensräumen, aufzuheben.
4) Es lässt sich eine psycho-hygienisch kompensatorische Funktion aus machen, die mittels basal-ästhetischer Operationen und Materialien (Gatschen mit Wasser und Sand, Fingermalen etc.) einen Ausgleich zur Bewältigung psychosozialer Probleme erwirken sollen, wenn regressive Tendenzen zu bemerken sind.

Generell gilt die entwicklungsgemäße Vorgehensweise als Schrittmacher der ästhetischen Bildung und orientiert sich an der menschlichen Entwicklung begin- nend im Säuglingsalter. Hier spielt die coenästhetische Wahrnehmung des Säug- lings eine entscheidende Rolle. Sie bezieht sich auf die inneren Sinne, die inneren Wahrnehmungsebenen, die dem Kind Informationen über die Raum-Lage, die Temperatur, die Spannung, das Gleichgewicht, die Vibration, die Resonanz, den Rhythmus und den Klang geben.

Konzepte wie Fröhlichs Basale Stimulation (1992) oder Malls Basale Kommunika tion (1990) sind darauf angelegt, Menschen mit komplexen Behinderungen coenästhetisch zu sensibilisieren.69

3 ZUR METHODIK BASALEN ARBEITENS

In den folgenden Kapiteln wird das Arbeitsfeld der basalen Förderklassen vorgestellt und einige methodische Anwendungen, die im Unterricht Verwendung finden. Abschließend soll auf das dialogische Prinzip näher eingegangen werden, eines der wesentlichen Säulen im basalen Förderbereich.

3.1 Kurzer Abriss über das Konzept der Basalen Förderklassen

- Entstehung

Die Basalen Förderklassen Wien wurden vor rund 23 Jahren in Kooperation mit dem Stadtschulrat MA56 und dem gemeinnützigen Verein Wiener Sozialdienste MA12 gegründet.

Ziel war es, Kindern mit komplexen Behinderungen und hohem medizinischen und lebenspraktischen Unterstützungsbedarf, den Regelschulbesuch zu ermöglichen, dieses Angebot gab es bis dato nicht. Die betroffenen Kinder wurden vom Schulbesuch befreit. Dies ging natürlich zu Lasten der betreuenden Eltern und Angehörigen und vor allem nahm es dem Kind die Chance, an einem strukturierten Tagesablauf teilzunehmen und sich als Schulkind zu erleben.

Zu Beginn konnte festgestellt werden, dass die oft sehr basalen Schülerinnen und Schüler ohne Probleme den Schultransport bewältigen konnten, sodass eine be- reits angedachte medizinische Betreuung an einigen Schulstandorten obsolet war.70

Inzwischen hat sich das Projekt Basale Förderklassen durch Qualitätsstandards und Evaluierungen als äußerst erfolgreich und unentbehrlich im sonderpädagogischen Angebot der Stadt Wien erwiesen.

- Schülerinnen und Schüler

Die Personengruppe die in den Basalen Förderklassen unterrichtet wird, setzt sich aus schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen komplexen Behinderungsformen zusammen.

Das durchschnittliche „Entwicklungsalter“ der Schülerinnen und Schüler liegt bei sechs Monaten. Dies nur zum Verständnis der pädagogischen Ausgangssituation. Das bedeutet aber auch, dass dem tatsächlichen Lebensalter und somit der Lebenserfahrung der Kinder und Jugendlichen gleichrangig Rechnung getragen wird.71 Durch den hohen Pflegeaufwand, sowie der Notwendigkeit individueller Einzelförderung erklärt sich der relativ hohe Personalschlüssel, der bei 1:2 pro Klasse liegt.

- Aufnahme

Die Aufnahme der Kinder erfolgt über die jeweilige Direktion und die Bereichslei- tung der Wiener Sozialdienste. Die Eltern sind von Anfang an in den Aufnahme- prozess und die darauffolgende pädagogische Betreuung ihres Kindes eng- maschig einbezogen, da sie ja die eigentlichen Experten ihrer Kinder sind.

- Elternarbeit

Die Elternarbeit ist ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Unterrichtsgeschehens, da gerade bei Kindern mit speziellen Anforderungen die emotionale Bindung der Erwachsenen zum Kind mit Ängsten, Erwartungen und hohen Ansprüchen verbunden ist.

- Austreterberatung

Sind die Schülerinnen und Schüler bis zum max. 12. Schuljahr in den Basalen Förderklassen verblieben, können sie danach in eine geeignete Tagesstruktur im Rahmen der Beschäftigungstherapie wechseln. Hierzu gibt es an den Schulen eine spezielle Austreterberatung, die den Eltern und Erziehungsberechtigten Informationen über weiterführende Einrichtungen zukommen lässt.

- Ausstattung und Räumlichkeiten

Die Standorte an denen die Basalen Förderklassen beheimatet sind, haben je nach Zustand der Schulen vor Ort unterschiedliche Ausstattung. In der Regel gibt es jedoch eine Reihe von speziell eingerichteten und bereits baulich adaptierten Räumlichkeiten.

Hierzu gehören Therapiebäder, Snoezelenräume, „Gatschräume“, Bewegungsund Musikräume, Schulgärten mit speziellen Geräten, Deckenliftsysteme in den Klassenräumen und eine Unzahl von Hilfsmitteln und Fördermaterial.

- Teamteaching

Die Pädagoginnen und Pädagogen haben unterschiedliche Qualifikationen. Eine Sonderschulpädagogin oder ein Sonderschulpädagoge, sowie eine Fachbetreuerin bzw. ein Fachbetreuer, teilen sich gleichwertig die Verantwortung für 4-5 Schülerinnen und Schüler. Die unterschiedlichen Grundaus-bildungen ergänzen sich und kommen der pädagogischen Arbeit zugute. Spezielle Fort- und Weiterbildungen werden regelmäßig angeboten und empfohlen.72

- Dokumentation

Die Pädagoginnen und Pädagogen, sowie Fachbetreuerin und Fachbetreuer, sind dem pädagogischen Auftrag der Wiener Sozialdienste und dem Sonderschullehrplan verpflichtet, im Sinne der bestmöglichen Förderung für das Kind. So gibt es eine Reihe von schriftlichen Dokumentationen, die je nach Absprache die Pädagoginnen und Pädagogen zu gleichen Teilen führen. Von Förderplänen, Halbjahresberichten, Jahresberichten über Verlaufsdokumentationen, Wochenplänen und den verbalen Zeugnissen.

Eine wesentliche Grundlage für die tägliche pädagogische Arbeit sind die zu Jahresbeginn ausformulierten Förderpläne die sämtliche Sinnes- und Wahrneh- mungsbereiche umfassen und auch sozio-emotionale Aspekte miteinschließen.

- Unterrichtsziele

Das Prinzip des individuellen Unterrichts und die weitest gehende Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im Alltag, sowie Aktivierung und Vergrößerung des Aktionsradius durch eine verbesserte Wahrnehmung und Bewegungsfähigkeit, bestimmen die Förderziele im allgemeinen.

Die definierten Ziele müssen regelmäßig überprüft und gegebenenfalls verändert und angepasst werden. Es kann auch ein Ziel sein, wenn abbauende Prozesse verlangsamt werden können.73

- Methoden

Aufbauend auf der basalen Stimulation nach Fröhlich (1996) ist basale Wahrnehmungsförderung die Grundlage der pädagogischen Arbeit.

Ergänzt wird sie durch die 3 Säulen:

- Dialogisches Prinzip
- Ganzheitlichkeit
- Individualisierter Unterricht

Den äußeren Rahmen bildet der „Lehrplan der Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder“, der den Pädagoginnen und Pädagogen jedoch großen Spielraum durch Methodenfreiheit gewährt.74

3.2 Ausgewählte Methoden und Arbeitsformen

Im Folgenden werden pädagogisch-therapeutische Arbeitsweisen vorgestellt. Sie zeigen Wege zur praktischen Umsetzung in der Förderung von Kindern mit komplexen Lernbehinderungen. Speziell im schulischen Kontext und im Rahmen der Arbeit mit basalen Schülerinnen und Schülern stellen diese Ansätze elementare Bausteine des täglichen Handelns dar.

Gerade in Hinblick auf kreatives Arbeiten sind sie unerlässliche Brücken, Pfade und Wegweiser, die jedes „schöpferische Abenteuer“ in einen kindgemäßen, subjekt-orientierten Bezugsrahmen setzen.

3.2.1 Basale Kommunikation nach W. Mall

"Man kann nicht nicht kommunizieren. “ 75

- Zielgruppe:

Es handelt sich dabei um Menschen mit einer schweren komplexen Behinderung und zusätzlichen autistischen Verhaltensweisen oder Verhaltensauffälligkeiten.

- Definition und Ziele:

„ Basale Kommunikation hat die Herstellung einer kommunikativen Situation zum Ziel bei Personen, deren Kommunikationsmöglichkeiten extrem eingeschränkt sind. “ 76

Hier geht es also im Wesentlichen um die Möglichkeit der Kontaktaufnahme.

- Theoretischeüberlegungen:

Menschen mit einer komplexen Behinderung haben erhebliche Einbußen im aktiven Ausdruck bzw. Schwierigkeiten ihre Gefühle adäquat mitzuteilen.

Kommen autistische Verhaltensweisen hinzu, wie unverständliches Reagieren auf bestimmte Sinneseindrücke, Wutausbrüche, Selbstverletzung, Schreien und der- gleichen kann am ehesten nur über den Körper, sowie die Körpersprache Kontakt aufgebaut werden. Mall greift hier auf Erkenntnisse der Körpertherapie, Bio- energetik, Psychoanalyse und der neueren Säuglingsforschung zurück.

- Setting:

Ein ruhiger Raum mit der Möglichkeit der Verdunkelung und Matten am Boden.

- Medien:

Musikanlage, meditative Musik; Kommunikationsmittel sind Atemrhythmus, Berührung, Lautäußerung, Tonfall, Blickkontakt, Mimik und Gestik.

- Sozialform:

Einzelarbeit

[...]


1 Stern A., Der Malort, Daimon Verlag, Einsiedeln, 2008

2 vgl. Theunissen 2011

3 vgl. Fröhlich 2011

4 vgl. Brodbeck 2006

5 vgl. Hentig 1999, S.32

6 vgl. Braun 2011

7 vgl. Braun 2011

8 vgl. Csiksentmihaly 2014, S.41

9 vgl. Csiksentmihaly 2014, S. 53-56

10 Csiksentmihaly, M.: Flow und Kreativität, 2014, S.59

11 vgl. Csiksentmihaly 2014, S.88

12 vgl. Theunissen 2006, S.20 u. Braun 2011

13 vgl. Csiksentmihaly 2014, S.492

14 Hentig, H..: Kreativität - Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, Hanser, München1998

15 vgl. v.Hentig 1998, S.10

16 vgl. v.Hentig 1998, S.11

17 vgl. v.Hentig 1998, S.12

18 Matussek, P.: Kreativität als Chance. Der schöpferische Mensch in psychodynamischer Sicht, Piper, München, 1974, S.7

19 vgl. v. Hentig 1998, S.32

20 Hentig 1998, S.41

21 vgl. v. Hentig 1998, S.42

22 vgl. Braun 2011, S.7

23 vgl. Braun 2011, S.17

24 vgl. Braun 2011, S.18

25 vgl. Braun 2011, S.19

26 vgl. Braun 2011, S.25

27 vgl. Braun 2011, S.29

28 vgl. Braun 2011, S.29

29 vgl. Braun 2011, S.31-32

30 vgl. Braun, s.32

31 Brodbeck, 2006

32 vgl. Csiksentmihaly 2014

33 Theunissen 2011, S.42ff

34 ebd.

35 Theunissen 2011, S.45

36 vgl. Theunissen 2006, S.18

37 vgl. Brodbeck1999, S.22

38 Brodbeck 1999, S.19

39 vgl. Theunissen 2006, S.19-22

40 Rogers 1991, In: Theunissen 2006, S. 24

41 Brodbeck 1999

42 Stern 2008

43 Brodbeck 1999

44 vgl. Theunissen 2006, S.39

45 vgl. Brodbeck 1999

46 vgl. Theunissen 2006, S.42

47 vgl. Theunissen 2006, S.48-49 u. Braun 2001, S.92ff

48 Theunissen 2004

49 Theunissen 2006, 49ff.

50 Theunissen 2006, S.62

51 Schuppener 2005, In: Theunissen 2006, S. 62

52 vgl. Braun 2011

53 vgl. Theunissen 2006, S.70

54 Braun 1999

55 Dewey 2003, zitiert In: Dietrich 2012

56 vgl. Schiller 1969

57 vgl. Theunissen 1997, S.137 u. Dietrich 2012, S.24

58 vgl. Theunissen 1997, S.137

59 vgl. Braun 2011, S.26

60 vgl. Mollenhauer 1996, S.30-35

61 vgl. Dewey 2003

62 vgl. Braun 2011, S.40

63 ebd.

64 vgl. Braun 2011, S.40

65 vgl. Braun 2011, S.52

66 vgl. Theunissen 1997, S.140

67 Theunissen 1997, S.136-137

68 vgl. Theunissen 1997, S.140-141

69 vgl. Theunissen 1997, S. 142

70 vgl. Hetzmannseder, G. 1999, S. 9

71 vgl. Hetzmannseder, G. 1999, S.11

72 vgl. Hetzmannseder, G. 1999, S.13

73 vgl. Hetzmannseder, G. 1999, S.20

74 vgl. Hetzmannseder, G. 1999, S.26

75 Watzlawick 1967

76 Mall 1984, S.16

Ende der Leseprobe aus 137 Seiten

Details

Titel
Kreatives Arbeiten im Basalen Förderbereich
Untertitel
Spritze, Zapfen, Angelschnur
Hochschule
Pädagogische Hochschule Niederösterreich (ehem. Pädagogische Akademie des Bundes in Niederösterreich)
Note
1
Autor
Jahr
2016
Seiten
137
Katalognummer
V364657
ISBN (eBook)
9783668456402
ISBN (Buch)
9783668456419
Dateigröße
11427 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kreativität, Basale Förderklasse, Sonderpädagogik, Kreatives Gestalten
Arbeit zitieren
Walter Camerloher (Autor:in), 2016, Kreatives Arbeiten im Basalen Förderbereich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/364657

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